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Achter Abschnitt.
Mittelalterliche Kultur.

I. Die Vehmgerichte.

In Zeiten, wo das staatliche, gesellschaftliche und Rechts-Leben in einem Gährungsprozesse befangen ist und nach neuen Gestaltungen ringt, da verlieren auch die gewöhnlichen Gerichte ihre Macht und aus dem Volke selber heraus erheben sich Männer, um nach althergebrachter Sitte das Recht zu schützen und den Verbrecher zu strafen, auch wenn er der Strafe des ordentlichen Gerichtes entgangen ist. So wurden am Ausgang des Mittelalters, namentlich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die Vehmgerichte (auch Freigerichte, Freistuhlsgerichte, die heimlichen Gerichte genannt) zu einer Macht erhoben, die sich über ganz Deutschland erstreckte, vor der kein Ansehen der Person galt und mancher vornehme Bösewicht, welcher der gemeinen Gerichtsbarkeit Trotz bot, zittern mußte.

Der Name »Vehme« stammte von dem altdeutschen »vervehmen«, das so viel bedeutet wie verbannen, verfluchen. Die Vehmgerichte gehörten dem Lande Westphalen an, durften nur dort »auf rother Erde«, d. h. in dem Lande zwischen Weser und Rhein gehalten werden; sie hingen nur vom deutschen Kaiser selber ab, und ihre Vorsitzer, die Freigrafen, empfingen vom Kaiser persönlich oder von seinem Stellvertreter, dem Kurfürsten von Köln, den Blutbann, d. h. das Recht über Leben und Tod. Ihren Ursprung leiteten sie von Karl dem Großen ab, der, die Rechtsgewohnheiten der alten heidnischen Sachsen achtend, die Grafengerichte bei ihnen einführte, nachdem sie zum Christenthume bekehrt worden waren. Denn schon in den ältesten Zeiten waren die freien Männer der Sachsen zu bestimmten Zeiten des Jahres, wenn sie ihre großen Opfer abgehalten hatten, zusammengekommen, um unter dem Vorsitz eines Aeltesten (Grauen, Graven) ein »Ding« abzuhalten und nach dem alten guten Recht zu strafen und Gerechtigkeit zu üben.

Das Vehmgericht bestand aus einem Freigrafen und einer Anzahl Freischöppen oder Beisitzer, die man auch Wissende nannte, weil sie um die Geheimnisse der heiligen Vehme wußten. Solcher Beisitzer mußten wenigstens 14 sein, gewöhnlich aber betrug ihre Zahl das Doppelte. Da es nicht verborgen blieb, wenn Einer Freischöffe war und zur Sicherheit seiner Person viel beitrug – da man sich wohl hütete, einem Mitglied der heiligen Vehme Uebels zu thun –, so ließen sich allmählich Männer aus allen deutschen Gauen unter die Zahl der Freischöffen aufnehmen. Als Kaiser Sigismund am Freistuhl zu Dortmund »wissend« gemacht ward, soll die Zahl der Freischöffen sich auf 100,000 belaufen haben, worunter viele Fürsten und Herren. Und gegen 1000 Freischöffen sollen bei der Vervehmung des Herzogs Heinrich von Baiern im Jahre 1429 zugegen gewesen sein.

Die Aufnahme konnte nur auf rother Erde an einem Freistuhl geschehen und ging unter festbestimmten Förmlichkeiten vor sich. Zwei oder mehr Freischöffen traten vor den auf seinem Stuhle sitzenden Freigrafen und baten um Erlaubniß, den oder jenen »unwissenden Mann« in die heimliche Acht bringen zu dürfen, indem sie sich zugleich dafür verbürgten, daß er ein Freigeborner und Unbescholtener sei. Nach erhaltener Erlaubniß wurde derselbe in die beschlossene (d. h. mit einem Strick umzogene) Gerichtsstätte geführt. Mit entblößtem Haupte knieete er vor dem Freigrafen nieder, der, das Gesicht nach Osten gewendet, vor einem Tische saß, auf welchem zwei gekreuzte Schwerter und ein Strick lagen. Auf diese legte das neue Mitglied seine Hand und schwor mit einem Eide, die Vehme heilig zu halten vor Weib und Kind, vor Sand und Wind, vor Allem, was Gott hat lassen werden zwischen Himmel und Erden. Hierauf theilte ihm der Freigraf die geheime Vehme, d. h. die Losung mit, woran sich die Freischöffen erkannten, aus den vier Worten bestehend: » Strick, Stein, Gras, Grein«, deren Zusammenhang erklärt wurde, und zuletzt wurde auch das »Nothwort« kund gegeben, auf welches jeder Freischöffe dem andern zu Hülfe kommen mußte, und wäre selbst der Gegner der eigene Sohn gewesen. Die geheimnißvolle Formel, deren Sinn erklärt wurde, lautete: » Reinir dor Feweri«; ihre Bedeutung ist bis zur Stunde noch nicht enträthselt, denn wer sie verrieth, ward ohne Gnade hingerichtet. Das Gesetz schrieb vor, dem Schuldigen die Hände zusammenzubinden, ein Tuch über seine Augen zu hängen, ihm die Zunge bis auf den Nacken und einen dreisträngigen Strick um den Hals zu winden und dann ihn sieben Fuß höher zu hängen als einen vervehmten Missethäter oder Dieb.

Auch mit dem heimlichen Schöffengruß wurde der neue Freischöffe (ähnlich wie bei den freien Maurern des Mittelalters) vertraut gemacht. Der Freischöffe legte seine rechte Hand auf seines Genossen linke Schulter und sprach: »Ich grüß' Euch, lieber Mann, was fanget Ihr hier an?« worauf der Andere antwortete: »Alles Glück kehre ein, allwo die Freischöffen sein!«

Aus den Freischöffen wurden dann wieder die Freigrafen gewählt, die stets geborne Westphalen sein mußten, doch, wenn sie nur die gehörigen Kenntnisse besaßen, jedem Stande angehören konnten. Nicht selten nahm ein einfacher Bauer den Freistuhl ein, während unter den um ihn versammelten Freischöffen sich Ritter und Grafen befanden. Diese saßen, wenn das Urtheil »geschöpft« wurde, entblößten Hauptes, über den Schultern das »Mentelin«, ohne Waffen und nüchtern.

Es gab »geheimes Ding«, bei welchem nur die Eingeweihten Zutritt hatten, und »offenes Ding« oder Gericht, das Morgens bei hellem Tage an den bekannten »Malstätten« oder Gerichtsplätzen gehalten wurde. Die »Freistühle« befanden sich stets unter freiem Himmel, unter einer Linde, Eiche, einem Birnbaum, Hagedorn, oft ganz nahe bei einer Stadt, Burg oder einem Dorfe. Der Freistuhl von Dortmund lag dicht an der Stadtmauer unter einer Linde, die noch jetzt, obwohl sehr verwittert, zwischen den Eisenschienen des dortigen Bahnhofs steht. Um den steinernen Tisch zogen sich drei steinerne Bänke für die Schöppen; auf dem Tische stand der deutsche Reichsadler in erhabener Arbeit und lag das Schwert der Gerechtigkeit.

Der Freigraf bestieg seinen Stuhl und eröffnete das Gericht mit der Frage an den Freifrohn, den Diener des Gerichts, ob es Tag und Zeit sei, im Namen des römischen Kaisers ein »heilig Ding« zu hegen und zu spannen? Der Freifrohn bejahte und dann fragte der Stuhlherr weiter, mit wie viel Freischöffen er das Gericht besitzen und bekleiden solle? und der Gerichtsbote antwortete: zum Mindesten mit sieben. Diese wurden vom Stuhlherrn namentlich aufgerufen. Waren diese und andere Einleitungsformen abgemacht, so forderte der Freigraf den Kläger vor Gericht. Dieser wie der Beklagte (der freilich, wenn er sich schuldig fühlte, selten erschien) durfte sich einen Freischöffen wählen, der das Wort für ihn führte und der »Vorsprecher« hieß. Der Kläger bekräftigte mit einem Eide die Wahrheit seiner Aussage, wählte aber noch zwei Eideshelfer, d. h. Freischöffen, die es beschwuren, daß sie seinen Eid für rein und kräftig hielten. Gegen diese drei Eide konnte der Beklagte mit 7 Eiden auftreten, indem er sich 6 Eideshelfer wählte. Dann hielt der Kläger wohl auch seine Klage mit 14 Eiden aufrecht, die der Beklagte, wenn das Recht auf seiner Seite zu sein schien, mit 21 Eiden wieder rückgängig machen konnte – das war das höchste Zeugniß und nun war er frei. Konnte der Beklagte aber keine oder zu wenig Eideshelfer finden, dann fragte der Freigraf einen Freischöffen, was seine »Wette« (Buße, Strafe) sei. Dieser, nachdem er sich mit dem »Umstande« – der Versammlung – berathen, erklärte, daß der Angeklagte der »höchsten Wette«, nämlich des Stranges schuldig sei. Nun sprach der Freigraf das Urtheil, warf den Strick über seinen Kopf und den Gerichtskreis weg, und der Verurtheilte wurde zum nächsten Baume geführt und gehängt.

Wenn drei oder mehrere Freischöffen einen Verbrecher auf frischer That ertappten oder wenn Jemand sich in Gegenwart mehrerer Schöppen schuldig bekannte oder gar wohl seiner Missethat rühmte: dann führten ihn diese ohne Weiteres an den nächsten Baum und knüpften ihn ohne alle Umstände auf. Entkam der Verbrecher oder hatte man sein Vergehen blos erfahren, so ward er drei Mal vor die Vehme geladen, indem der Frohn oder ein Freischöffe die schriftliche Vorladung heimlich an die Thür seiner Wohnung oder in deren Nähe anheftete. Erschien der Angeklagte auf die dritte Vorladung nicht, so ward er als Verächter des höchsten kaiserlichen Gerichts vervehmt, d. h. in die Acht erklärt. Nachdem der Stuhlherr die feierliche Achtserklärung gesprochen hatte, warf er den Weidenstrang über sich weg aus dem Gericht und alle Freischöffen spieen aus, als ob der Schuldige in diesem Momente gehängt würde. Alle Genossen hatten nun die Pflicht, den Vervehmten, wo sie ihn treffen oder seiner habhaft werden mochten, aufzuhängen. In den Baum, an dem das Opfer vollzogen ward, steckte man einen Dolch, zum Zeichen, daß die heilige Vehme hier gewaltet habe.

Das Vehmgericht, das ursprünglich ein öffentliches war und sein sollte, artete aber allmälig aus, indem es sich mit geheimnißvollem Dunkel umgab und unter dem Deckmantel der Verborgenheit auch wohl allerlei unlautere Zwecke verfolgte. Darum verbanden sich schon im Jahre 1461 Fürsten und Städte miteinander, um dem Unwesen dieser Gerichte zu steuern, und sobald mit der neu erstehenden Fürstenmacht wieder eine geordnete Rechtspflege entstand, gingen sie an ihrer eigenen Machtlosigkeit zu Grunde.


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