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Neununddreißigstes Kapitel.

Ich habe erzählt, in welcher Angst und Unruhe ich den Tag herankommen sah, an dem um dieselbe Stunde das Festmahl bei Fräulein Spicer und die Bezeichnung des wirklichen Mörders durch Ruth Oliver stattfinden sollte. Trotzdem ich keinerlei Beweise dafür hatte, konnte ich mich bis zu dem Morgen dieses Tages nicht von dem Gedanken losreißen, daß beide Ereignisse in einem engen Zusammenhang miteinander stehen würden. Und das war auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich schließlich doch Fräulein Spicers Einladung angenommen hatte.

Da ich wußte, daß auf dieser Gesellschaft die reichsten und elegantesten Leute von New York zusammenkommen würden, und da ich es nicht liebe, durch irgend etwas aufzufallen, hatte ich mir in der Eile eine der Gesellschaft angemessene Toilette machen lassen. Es kommt mir nun heute merkwürdig vor, ist aber wohl nur zu leicht aus einer der kleinen Schwächen meines Geschlechts zu erklären, von denen ich mich nicht ganz befreien kann: als an dem Vormittag die neue Robe und alles, was ich sonst dazu angeschafft hatte, vor mir ausgebreitet lag, vergaß ich beinahe ganz, aus welchem Grunde ich mich bewogen fühlte, an dem Fest teilzunehmen. Eine solch festliche Stimmung erfaßte mich, daß ich, als ich am Nachmittag zwischen den vielen Vorbereitungen doch wieder an Ruth Oliver und ihr Versprechen dachte, mich wegen meiner Befürchtungen für Fräulein Spicer und das Brautpaar auslachte und in noch etwas unhöflicherer Form, als Herr Gryce es getan hatte, meine Kombinationen als Phantastereien bezeichnete.

Nach meiner ganzen Anteilnahme an dem Schicksal der Familie Van Burnam, an Ruth Oliver, an dem Geheimnis des Verbrechens selbst, und nach der Rolle, die ich in dem Verfahren bisher gespielt hatte, hätte sich mir so kurz vor der Entscheidung doch der Gedanke aufdrängen müssen: wenn die Kombinationen, die ich mir gemacht hatte, falsch waren, was war dann an ihrer Stelle zu erwarten? Nun, die eine oder andere Erwägung stellte ich wohl auch an, aber natürlich ohne den geringsten Erfolg, da ich nicht eine Spur von der bisher in dieser Sache gezeigten Energie dafür aufwandte. Und zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich mich darüber an diesem Tage gar nicht ärgerte.

Diese festliche und doch eigentlich bei dem Ernst der Lage leichtfertige Stimmung hielt bis zum Abend an, selbst dann noch, als ich schon im Wagen saß und zu Fräulein Spicer fuhr. Als der Wagen dort hielt, hatte ich freilich noch einmal einen schrecklichen Anfall von beklemmender Angst, und ich zitterte förmlich, so daß ich nur mit Mühe die Freitreppe in die Höhe steigen konnte. Aber als ich dann die wunderbar mit seltenen Pflanzen und Blumen nach dem auserlesenen Geschmack Fräulein Spicers geschmückte Vorhalle betrat, faßte mich ein solches Entzücken, daß ich alle schreckhaften Gedanken wieder vollständig vergaß.

Die Einladung hatte auf sieben ein halb Uhr gelautet: so war ich denn genau um diese Stunde da, weil ich es für unhöflich halte, unpünktlich zu erscheinen. Aber das ist wohl altmodisch gedacht, denn als ich den Salon betrat, befand sich nur Fräulein Spicer dort, und im Nebenzimmer waren Fräulein Althorpe und Herr Stone.

Vielleicht dachten die drei doch, daß ich nicht hätte so höflich zu sein brauchen, aber sie waren alle drei zu wohlerzogen und wohl auch zu glücklich, als daß sie ihre Gedanken hätten irgendwie merken lassen. Ich muß offen gestehen, daß ich doch etwas verlegen wurde, als Herr Stone zu mir herantrat und mich begrüßte. Denn ich dachte an meine Kombinationen, in denen er, wenn auch nur vorübergehend, eine nicht gerade schmeichelhafte Rolle gespielt hatte. Und ich kam mir sehr dumm vor bei dem Gedanken, wie ich diesen vollkommenen Gentleman betrachtete, dessen Schönheit mit der seiner Braut wetteiferte. Aber auch darüber kam ich schnell hinweg. Und nachher verlor ich meine alten dummen Phantastereien ganz und gar aus dem Sinn, denn ich war bald durch das Beobachten all der vornehmen Leute, die nach und nach die Räume füllten und, wenn ich es eingestehen soll, vor allem durch die Toiletten der vielen schönen Frauen zu sehr in Anspruch genommen.

Da ich die meisten nicht kannte, hatte ich mich in eine Ecke des ersten Salons zurückgezogen, wo ich mich am ungestörtesten meinen Beobachtungen hingeben konnte.

Endlich begann die große Uhr acht zu schlagen. Und mit dem ersten Glockenschlag öffnete sich in dem zweiten Salon die große Flügeltür, und Fräulein Spicers Diener kündigte an, daß serviert sei.

Ich erkannte diesen Diener und verstand mir jetzt auch zu erklären, weshalb ich draußen von einem fremden empfangen worden war. Selbstverständlich hatte Fräulein Spicer für diesen Abend Hilfsdiener annehmen müssen und hatte erklärlicherweise ihren erprobten Diener zum Servieren kommandiert.

Wäre das aber nicht der Fall gewesen, wer weiß, ob dann nicht doch vermieden worden wäre, was jetzt geschah. Denn der alte Diener kannte ja Ruth Oliver und hätte sie wohl kaum so ohne weiteres eintreten lassen, weil er genau wußte, wer eingeladen war und wer nicht.

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Damit habe ich es auch schon gesagt; meine Ahnung, daß das Zusammenfallen der Endfrist, die Ruth Oliver sich ausgebeten, und des Beginns dieses Festes nicht zufällig seien, wurde ganz plötzlich bestätigt. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich gerade in diesem Augenblick, während alles sich bereits zur andern Tür wandte – wenn sich auch die Gruppen nur langsam lösten, – daß ich in diesem Augenblick, als der letzte Glockenschlag verhallte, meinen Blick nach der Tür zur Vorhalle wandte. Und da sah ich sie, Ruth Oliver, starr, hoch aufgerichtet, leichenblaß, nach einem kurzen Zögern langsam aber sicher nach der Mitte des Saales vorschreiten. Es war mir, als ob ich beim Oeffnen der Tür auch Herrn Gryce hätte flüchtig hereinblicken sehen. Ich hätte aufschreien mögen vor Angst, aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren.

Niemand sonst schien den merkwürdigen Gast bisher bemerkt zu haben. Ich aber wandte kein Auge von ihr, und eine rasende Ungeduld erfaßte mich zugleich mit dem Schrecken, auf wen in dieser vornehmen Gesellschaft Ruth Oliver nun zuschreiten werde. Ich sagte schon, daß sie auf die Mitte des Saales zuschritt. Fast gewaltsam riß ich meinen Blick von ihr los und sah dorthin. Eine größere, lachende und plaudernde Gruppe löste sich dort gerade auf. Darunter waren Fräulein Spicer, Fräulein Althorpe und Herr Stone. Mit einem zärtlichen Lächeln verabschiedete Herr Stone sich augenblicklich von seiner Braut und reichte mit einem liebenswürdigen Gesichtsausdruck Fräulein Spicer den Arm, während Fräulein Althorpe den eines mir unbekannten älteren Herrn nahm. Dann schritten die beiden Paare zur Tür.

Was jetzt in den nächsten Augenblicken geschah, sah ich nicht genau, denn mehrere andere Paare und vor allem der Herr, der mich zu Tisch führen sollte, drängten sich gerade dazwischen. Aber plötzlich schien mir die ganze Bewegung im Saale zu stocken, alles wandte sich um, und ich sah, wie Herr Stone einen Augenblick von dem Tischherrn des Fräulein Althorpe gestützt dastand, während Fräulein Althorpe und Fräulein Spicer sich angstvoll um ihn drängten. Sie hatten augenscheinlich noch nicht bemerkt, was er bei einem zufälligen Seitenblick kurz vor sich hatte auftauchen sehen, und was er selbst in diesem Augenblick wohl nicht für etwas Wirkliches, sondern für eine Halluzination hielt.

Aber es war keine Halluzination; die da stand, war wirklich Ruth Oliver, wenn auch einer, der sie nur oberflächlich kannte, hätte daran zweifeln können, so starr und streng, dem Gesicht und der Haltung einer Schicksalsgöttin ähnlich, waren ihr Gesicht und ihre Haltung. Ihre Augen blickten geradeaus auf Herrn Stone, aber als sähen sie über ihn hinweg. Sie hatten einen Ausdruck, als ob ihre Besitzerin eigentlich geistesabwesend wäre und alles, was sie tat, wider Willen täte, als von einer fremden Macht ihr auferlegt. Ich aber sah jetzt einen Schritt hinter ihr das Gesicht des Herrn Gryce, das diesmal auch vor Erregung zu zittern schien, und gleichzeitig sah ich zwei Diener sich vorsichtig durch die Menge drängen.

Jetzt hatte alles schon den fremden Gast bemerkt, aber niemand, Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe natürlich ebensowenig wie die andern, wußte sich klar zu machen, was diese Erscheinung bedeutete, und noch weniger, weshalb sie Herrn Stone mit solchem Entsetzen erfüllte.

Bald jedoch sollte die Aufklärung folgen, und zwar von den Lippen Ruth Olivers. Ihre Stimme klang laut und deutlich durch den Saal, aber sie hatte etwas Seelenloses, als verkündete sie feierlich, was ihr nur aufgetragen war:

Warum erschrickst du so, John Randolph? Hast du mich nicht erwartet? Schämst du dich meiner vielleicht wieder, hier, in dieser vornehmen Gesellschaft? Aber wer gehört neben dich, wenn nicht ich, deine rechtlich angetraute Gattin?

Eine allgemeine Erregung ging durch die ganze Gesellschaft. Rufe des Erstaunens und der Entrüstung wurden laut, und dazwischen erklang die helle, angstvolle Stimme Fräulein Althorpes: Sie ist ja wahnsinnig geworden! Sie ist ja wahnsinnig!

Ohne es zu merken, hatte ich mich ganz zur Mitte hindurchgedrängt und konnte alles übersehen. So beobachtete ich genau, wie Herr Stone sich gewaltsam zusammennahm, sich hoch aufrichtete, ja sogar zu lächeln versuchte, als er stammelte: Ja, gewiß, sie ist wahnsinnig! Ich weiß nicht, was sie will! Ich kenne sie nicht!

Da antwortete die unerbittliche, willenlose Stimme Ruth Olivers: Wie, du kennst mich nicht? So leugnest du wohl auch, John Randolph zu heißen und eine Frau zu haben?

Wieder schien Herr Stone umsinken zu wollen, aber noch einmal raffte er sich zusammen und rief:

Die, die ich einmal meine Frau nannte, ist tot! Diese Frau hier ist wahnsinnig!

Olive Randolph tot? rief Ruth Oliver, ihre Stimme noch lauter erhebend. Elender Mörder! Der Stoß, den du in der Dunkelheit gegen sie geführt hast, hat ein anderes Opfer getroffen!

Und im selben Augenblick legte sie ihre Hand auf seinen rechten Arm.

Mit einem lauten Aufstöhnen fuhr Herr Stone zurück; aber schon stand Herr Gryce neben ihm, und auch seine Stimme bebte nun vor Erregung, als er sagte: John Randolph, genannt Randolph Stone, im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie!

Jetzt schob Herr Stone mit einem Ruck die sich um ihn Drängenden zurück, machte einen Sprung rückwärts und griff nach seiner Brusttasche. Doch schon hatten auf einen Wink des Detektivs die beiden Diener, die in Wirklichkeit verkleidete Kriminalbeamte waren, sich auf ihn gestürzt. Die Waffe, die er herausgerissen hatte, entfiel seiner Hand, und im Nu war er gefesselt.

Da brach er ohnmächtig zusammen.

Ich kann mich der weiteren Einzelheiten dieses schrecklichen Abends nicht entsinnen und weiß nur noch, daß ich mich in einem Zimmer, in dem ich bisher noch nicht gewesen war, mit mehreren Damen und einem Arzt um Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe bemühte, und daß uns alle dann ein Schuß aufschreckte, der von der Straße zu kommen schien. Bald darauf erfuhren wir das Vorgefallene.

Nachdem John Randolph abgeführt worden war und der Saal sich zu leeren begonnen hatte, war Herr Gryce mit Ruth Oliver, die bisher teilnahmlos, wie es schien, an einer Wand gelehnt hatte, hinuntergegangen, um sie zu ihrem Wagen zu bringen. Er wollte sie begleiten, aber sie hatte das mit solcher Entschiedenheit abgelehnt, daß er darauf verzichtete, sich jedoch vornahm, ihr gleich zu folgen, um nach ihr zu sehen. Aber kaum hatte er den Wagenschlag geschlossen und war einen Schritt zurückgetreten, als, noch ehe die Pferde anzogen, aus dem Wageninnern jener Schuß erdröhnte, den wir oben vernahmen.

Olive Randolph hatte ihrem unglücklichen Leben ein Ende gesetzt. Die Waffe war wohl in jenem Mantel, den ihr Herr Gryce selber umgelegt hatte, verborgen gewesen. Und ich fürchte, diese Waffe war in jenem kleinen Paket enthalten, von dem die Geheimagentin berichtete, daß sie es unter ihrem Kopfkissen versteckt hielt; jenes selbe Paket wahrscheinlich, das Ruth Oliver bei sich getragen, als sie sich wieder zu mir in den Wagen setzte, nachdem ich sie einige Minuten im Kaufhaus allein gelassen hatte.

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