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Zwanzigstes Kapitel.

Zu Hause angelangt, kleidete ich mich rasch um und setzte mich dann gemächlich hin. Eine halbe Stunde lang rührte ich mich nicht. Ich dachte sehr angestrengt nach. Langsam begann eine Theorie sich in meinem Kopf auszubauen, die ich eigentlich schon beim Verhör ins Auge gefaßt hatte.

Am Tatort waren zwei Hüte gefunden worden und zwei Paar Handschuhe. Jetzt wußte ich auch, daß zwei Frauen im Hause gewesen waren; die eine hatte Frau Boppert im Hause eingeschlossen, die andere war um Mitternacht mit Herrn Van Burnam in das Haus gekommen. Welche dieser Frauen war nun ermordet worden? Herr Van Burnam hatte doch erklärt, daß er seine Frau erkannte; aber seine Frau war doch ganz anders angezogen gewesen, als die Ermordete. Es schien mir jetzt sehr wahrscheinlich, daß Frau Van Burnam nicht das Opfer, sondern – die Mörderin war.

Die ganze Zeit über hatte ich schon gefühlt, daß eine Frau bei diesem Mord die Hand mit im Spiel gehabt haben mußte. Zu einer festen Annahme hatte ich bis jetzt keinerlei Beweise gehabt, und so hatte ich diese Vermutung immer wieder zurückgewiesen. Jetzt aber kehrte ich zu ihr zurück.

Wie aber konnte man Frau Van Burnam mit dem Mord in Zusammenhang bringen? Wenn die zweite Frau etwa ihre Rivalin war, so konnte man es leicht erklären. Von einer Rivalin war zwar nicht die Rede gewesen, aber vielleicht wußte Frau Van Burnam von ihr, und vielleicht war das die Ursache ihrer Entzweiung mit Howard und ihres etwas abenteuerlichen Planes, sich bei der Familie Van Burnam als Haushälterin einzuführen. Angenommen, die zweite Frau wäre eine Rivalin der Frau Van Burnam gewesen, und Howard hätte sie in das Haus gebracht, ohne von der Anwesenheit seiner Frau dort zu wissen. Vorher war er mit der Unbekannten im Hotel D. gewesen, hatte ihr eine vollständige, einfache Toilette gekauft, damit sie nicht so auffiel. Wozu aber all das Geheimnisvolle, der Wagenwechsel, die fortgeworfenen Kleider? Warum brachte er diese Frau gerade in das Haus seines Vaters? Um dort Frau Van Burnam zu töten und von ihr befreit zu sein? Nein, von ihrer Anwesenheit wußte er wahrscheinlich nichts.

Der Hut, die Handschuhe und das Buch der Frau Van Burnam lagen unten in dem dritten Zimmer; sie hatte wohl den Abend dort unten mit Lesen zugebracht. Als sie einen Wagen vor dem Hause halten und die Tür öffnen hörte, dachte sie, daß entweder der alte Herr Van Burnam oder ein anderes Mitglied der Familie unerwartet angekommen wäre. Als Howard mit der Frau eintrat, war sie schon im Empfangszimmer; ganz unerwartet sah sie sich ihrer Rivalin und Howard gegenüber. Ihr Schreck, ihre Wut mußten grenzenlos gewesen sein. Vorwürfe und Schmähungen, die sie ihrer Rivalin ins Gesicht schleuderte, brachten sie immer noch mehr auf, bis ihr der Gedanke kam, sich zu rächen und ihre Rivalin zu töten. Sie hatte keine Waffe. Ihr Auge fiel auf die Hutnadel, die die Frau beim Eintreten in die Halle schon aus dem Hut gezogen hatte, und das gab ihr den Mordplan ein. Wie sie dann ihre Tat ausführte, wie sie sich ihrem Opfer nähern und ihr die Nadel in den Nacken stoßen konnte, das wußte ich mir aber nicht recht zu erklären. Also nicht Howard, sondern seine Frau hatte den Mord begangen, das stand für mich schon ganz fest.

Ja, war aber diese Theorie richtig, was sollte ich dann von dem Kasten denken, der erst bei Tagesanbruch umgestürzt worden war? Wie konnte Frau Van Burnam um diese Zeit aus dem Hause entkommen, ohne gesehen zu werden? Howard verließ augenblicklich das Haus, durch die schrecklichen Folgen seiner Unüberlegtheit völlig aus der Fassung gebracht, entsetzt über den Mord, den seine Frau begangen hatte. Fran Van Burnam aber blieb zurück. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden, vielleicht wollte Howard nichts mehr mit ihr zu tun haben. Als sie wieder zu sich kam, sah sie die Ermordete vor sich liegen. Sie konnte den Blick der gebrochenen Augen nicht ertragen. Was sollte sie tun, um ihm zu entgehen? Wohin sollte sie sich wenden? Von Stunde zu Stunde steigerte sich ihre Angst, bis zur Raserei. Erst bei Tagesanbruch warf sie in einem erneuten Aufflammen des Zornes und Hasses, vielleicht auch der Furcht vor den Folgen ihrer Tat, den Kasten über die Tote und entfloh. Das geschah um zehn Minuten vor fünf Uhr, wie die Zeiger der Uhr bewiesen.

Sie entwischte durch die Haupttür, die ihr Mann abzusperren vergessen hatte. Vor ihrer Flucht hatte sie wahrscheinlich einige Aenderungen an ihrer äußeren Erscheinung vorgenommen, um nicht erkannt zu werden. Es war doch auch jemand in das Schlafzimmer gegangen und hatte dort Stecknadeln geholt. Das hielt ich mir genau vor Augen und begann mir nun vorzustellen, was in dem Geist der Mörderin vorgegangen sein mußte, und wie sie wohl gehandelt hatte. Vielleicht hatte sie auf ihrem Kleiderrock einen Blutspritzer bemerkt, und ihr war der Einfall gekommen, den Unterrock, der aus brauner Seide und gewiß elegant gearbeitet war, über den Kleiderrock anzuziehen. Aber der Kleiderrock war etwas länger als der Unterrock, sie mußte ihn daher mit Stecknadeln aufstecken. Sie suchte überall nach Stecknadeln und fand endlich im Schlafzimmer das festgebundene Nadelkissen mit den schwarzen Stecknadeln. Im Zimmer war es ganz dunkel, deshalb riß sie das Kissen los und ging damit zur Tür, da dort vom Treppenhaus etwas Licht hereinfiel. Als sie ihren Rock aufgesteckt hatte, warf sie das Nadelkissen auf das Bett und eilte hinunter.

Jetzt fürchtete sie noch, daß man sie an ihrem auffallenden Hut erkennen könnte, vielleicht auch hatte sie nicht mehr den Mut, noch einmal die Tote zu sehen; so lief sie barhaupt fort, von Entsetzen und Gewissensbissen getrieben.

Das war so ungefähr meine Theorie. Waren nun Tatsachen vorhanden, die etwa dagegen sprachen? Zwei solche Tatsachen sprachen ernsthaft dagegen: die Narbe am Fußknöchel der Toten, die doch ein Merkmal der Frau Van Burnam sein sollte, und die Spuren der Ringe an den Fingern. Aber wer hatte die Narbe erkannt? Doch nur ihr Mann! Und was die Spuren der Ringe betraf, so wäre es ja nur erstaunlich gewesen, wenn eine solche Dame wie die Tote keine Ringe zu tragen pflegte.

Erst als der unabstreitbare Beweis erbracht war, seine Frau sei am Tatort gewesen, mußte Howard befürchten, daß, wenn er noch länger bei seiner Weigerung beharrte, die Tote zu erkennen, der Verdacht aufkäme, seine Frau wäre die Mörderin. Aus Furcht davor hatte er sich plötzlich entschlossen, die Aehnlichkeit der Toten mit seiner Frau zu benutzen und zuzugeben, was alle seit Beginn des Verhörs von ihm erwarteten, nämlich: die Ermordete wäre seine Gattin. So konnte kein Verdacht auf seine Frau fallen, und er wurde dadurch auch von ihr befreit, denn sie würde sich wohl hüten, jemals wiederzukehren.

Gewiß, er lief bei einer solchen Aussage große Gefahr. Aber die ganze Tragweite seiner Worte zu erkennen, dazu hatte er keine Zeit, keine Muße, das Für und Wider abzuwägen. Und schließlich: konnte man wissen, von welchen Beweggründen ein solcher Mann sich leiten ließ? War es doch sicher, daß er gelogen hatte, als er aussagte, daß er mit seiner Frau im Hotel D. gewesen war und sie von dort in das Haus seines Vaters geführt hatte. Ebensogut konnte er auch in anderen Punkten gelogen haben, und seine Aussage war daher ganz wertlos und unzuverlässig.

Ich glaubte nun zwar, die Wahrheit herausgefunden zu haben; dennoch wollte ich weiter forschen und Beweise für meine Theorie finden. Die Mittel, die ich anwenden wollte, um noch mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen, waren zwar sehr gewagt, aber ich erhoffte von ihnen ein solches Resultat, daß Herr Gryce nachträglich vor Aerger darüber vergehen sollte, mich so höhnisch verlacht zu haben, als ich ihm mit meiner Einmischung in die Affäre drohte.

*


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