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Vierzehntes Kapitel.

Ich ging in ein Restaurant und nahm eine Kleinigkeit zu mir, weil es bereits Essenszeit war und ich mich irgendwie beschäftigen mußte, um die Wartezeit wenigstens etwas abzukürzen. Ich war sehr erregt und wurde aus mir selbst nicht mehr klug. Ich war keine Freundin der Van Burnams; ich liebte sie nicht. Seit langem mißfiel mir das Benehmen der ganzen Familie, nur für Franklin hatte ich etwas Sympathie empfunden. Und doch hatte mir Howard trotz meiner Voreingenommenheit gegen ihn heute tatsächlich leid getan, und trotz seines verdächtigen Benehmens war ich ihm günstig gesinnt.

Nach Ablauf von drei Stunden wurden wir wieder vor den Coroner gerufen. Howard trat, auf den Arm seines Bruders gestützt, herein und setzte sich in einer Ecke nieder. Aber sehr bald wurde er vorgerufen.

Als er im hellen Licht vor uns stand, waren wir alle über die Veränderung erstaunt, die in seinen Zügen vorgegangen war. Er schien um Jahre gealtert. Nichts mehr von Selbstbewußtsein und Beherrschung war darin zu sehen, nur eine große Erbitterung und dumpfe Verzweiflung. Bei Howards Vortreten waren die Geschworenen lebhaft geworden und schauten ihn jetzt mit einem Gemisch von Neugierde und unbewußtem Mitleid unausgesetzt an. Kein Muskel zuckte in Howards Gesicht, wie in Stahl gegraben schienen seine Züge. Eine Wiederholung der erschütternden Szene vom Vormittag war nicht vorauszusehen; jede Empfindung in ihm schien erstorben zu sein.

Die erste Frage des Coroners gab uns allen die Aufklärung über diese Veränderung.

Herr Van Burnam, man hat mir gesagt, daß Sie in der Zwischenzeit im Schauhaus waren. Ist das wahr?

Ja.

Haben Sie sich jetzt die Leiche der Frau genau angesehen und können Sie jetzt sagen, ob Sie in der Toten mit Bestimmtheit Ihre Gattin erkennen?

Ja, es ist meine Frau. Ich bitte Sie um Entschuldigung, Herr Coroner, und Sie, meine Herren Geschworenen, daß ich so lange bei meiner Weigerung beharrte, die Leiche nicht erkennen zu wollen. Ich glaubte zu dieser Weigerung durchaus berechtigt zu sein. Ich sehe jetzt ein, daß ich nicht dazu berechtigt war.

Der Coroner achtete nicht auf diese Worte. Kein Mitgefühl verband ihn mit dem jungen Mann, und wenn er ihn noch respektvoll behandelte, so war es wohl nur deshalb, weil er den unglücklichen Vater und den Bruder des Zeugen bemitleidete.

Sie geben also zu, daß die Tote Ihre Frau ist?

Ja.

Nun, das ist schon ein Fortschritt. Die Herren Geschworenen werden es auch anerkennen. Jetzt wollen wir versuchen, die Identität des Mannes festzustellen, der Frau Van Burnam in das Haus Ihres Vaters geführt hat.

Nun, rief Howard Van Burnam mit ganz sonderbarem Ausdruck, ich gebe zu, daß ich der Mann bin.

Die Anwesenden brachen in erregte Rufe des Erstaunens aus und erhoben sich. Sogar der Coroner sprang auf und warf Herrn Gryce einen Blick zu, der mir deutlich zeigte, wie ihn trotz aller Zurückhaltung die Ueberraschung überwältigte.

Sie geben zu – – begann der Coroner, aber der Zeuge ließ ihn nicht ausreden.

Ich gebe zu, daß ich der Mann bin, der sie in das leere Haus begleitete; ich gebe aber nicht zu, daß ich sie getötet habe. Als ich sie verließ, war sie noch am Leben und unverletzt, – wenn ich es auch schwerlich werde beweisen können. Ich hatte schon heute morgen eingesehen, wie schwer dieser Beweis mir fallen würde, und ich habe deshalb gelogen.

Ach so! murmelte der Coroner vor sich hin, wobei er wieder Herrn Gryce einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Sie geben zu, daß Sie gelogen haben! – Ich bitte die Anwesenden, sich ruhig zu verhalten!

Aber die Ruhe war schwer herzustellen. Der Gegensatz zwischen dem eleganten Aussehen des jungen Mannes und dem Geständnis seiner Lüge mußte alle Anwesenden in tiefster Seele erschüttern, besonders da dieses Geständnis für die meisten eine viel weittragendere Bedeutung annahm, als der junge Mann ahnte. Mehrmals noch schrie und bat der Coroner um Ruhe, ehe er das Verhör fortsetzen konnte.

So müssen wir nun Ihre Aussagen von heute morgen als null und nichtig ansehen?

Ja, insofern sie in Widerspruch zu dem eben Gesagten stehen.

Wollen Sie uns Ihre Aussagen noch einmal wiederholen?

Gewiß, wenn Sie mir die Fragen nochmals stellen wollen.

Sehr gut. Wo trafen Sie zuerst Ihre Frau nach Ihrer Ankunft in New York?

Auf der Straße, nicht weit von unserem Bureau. Sie war auf dem Wege dahin, weil sie mich dort vermutete und mich sprechen wollte. Wir gingen zusammen in einen anderen Stadtteil.

Um wieviel Uhr trafen Sie sich?

Zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags. Die genaue Stunde kann ich nicht angeben.

Wohin gingen Sie mit Ihrer Frau?

In ein Hotel am Broadway. Sie haben ja schon davon gehört.

Dann sind Sie also der Herr James Pope, und Ihre Frau trug diesen Namen ins Hotelbuch ein?

Ich habe es doch schon zugegeben.

Dürfte ich Sie noch fragen, weshalb Sie diese Verkleidung wählten und Ihrer Frau nicht verboten, einen falschen Namen einzutragen?

Um ihrer Laune nachzugeben. Sie behauptete, das sei das beste Mittel, ihren Plan auszuführen. Sie wollte nämlich unter fremdem Namen, als eine Unbekannte, meinem Vater gegenübertreten, und erst wenn sie auf ihn einen günstigen Eindruck gemacht hätte, sich ihm zu erkennen geben.

Ach so! Aber war es denn notwendig, einen anderen Namen anzunehmen, noch bevor sie Ihren Vater traf? War es notwendig, daß Sie beide sich so sonderbar verhielten, wie Sie es an jenem Tag und Abend getan haben?

Meine Frau wollte es eben so, und ich wollte sie nicht durch Widerspruch reizen. Der ewige Kampf hatte mich müde gemacht, und ich wollte ihr einen Tag lang den Willen lassen.

War das auch der Grund, weshalb Sie ihr erlaubten, sich von Kopf bis zu Fuß neue Wäsche und Kleider anzuziehen?

Gewiß; es mag Ihnen sonderbar erscheinen, aber ich war so töricht, in alles einzuwilligen. Mich begann sogar die Ausführung ihres Planes zu belustigen. Sie wollte sich meinem Vater als ein Mädchen vorstellen, das sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient; durch ihre elegante Kleidung hätte sie leicht Verdacht erwecken können. Das waren die Gründe, die sie mir als Erklärung für ihre Vorsichtsmaßregeln gab, – doch ich dachte innerlich, daß diese originelle und romantische Inszenierung hauptsächlich ihr selbst Spaß machte.

Die ursprüngliche Kleidung Ihrer Frau war gewiß viel eleganter als die bei Altman bestellte?

Natürlich, meine Frau trug immer nur das Allerfeinste.

Aber warum gaben Sie sich denn soviel Mühe, Ihr Inkognito zu wahren? Warum ließen Sie Ihre Frau den Namen ins Hotelbuch eintragen, anstatt es selbst zu tun?

Sie wollte es so. Den Grund sagte sie mir nicht. Ihr war es auch gleichgültig, ob sie einen falschen Namen eintrug oder ihren wirklichen Namen. Mir wäre das peinlich gewesen.

Diese Bemerkung war eigentlich seiner Frau gegenüber taktlos, und er schien es auch zu empfinden, denn rasch fügte er hinzu: Man läßt sich doch manchmal zu einem Vorhaben verleiten, dessen Ausführung in den Einzelheiten recht peinlich ist. So war es eben in diesem Fall; aber das Interesse meiner Frau an dem Plane war so groß, daß sie über solch peinliche Einzelheiten leichter hinwegsehen konnte als ich.

Diese Erklärung beleuchtete wohl mehr als eine der mysteriösen Handlungen, die das Paar im Hotel D. ausgeführt hatte. Der Coroner sah das ein und verweilte nicht länger bei diesen Fragen, sondern ging gleich einen großen Schritt weiter: Als sie das Hotel verließen, trugen Sie und Ihre Frau mehrere Pakete. Und als Sie beide in das Haus Ihres Vaters eintraten, hatten Sie die Pakete nicht mehr bei sich. Was war denn in den Paketen? Und wo haben Sie die Pakete hingebracht, ehe Sie in den zweiten Wagen stiegen?

Ohne zu zögern, erwiderte Howard:

In den Paketen waren die Kleider meiner Frau; wir haben sie irgendwo zwischen der 20. Straße und der 3. Avenue fortgeworfen. Im gleichen Augenblick sahen wir eine alte Frau sich uns nähern. Wir dachten, sie würde stehen bleiben und die Sachen aufheben, was sie auch tat. Wir waren in den Schatten eines Torbogens zurückgetreten und beobachteten sie. Nun, Herr Coroner, scheint Ihnen dieses Mittel, sich einiger unbequemer Pakete zu entledigen, zu einfach, um mir Glauben zu schenken?

Darüber werden die Geschworenen entscheiden, antwortete der Coroner schroff. Aber warum waren Ihnen diese Pakete unbequem? Hatten die Sachen denn gar keinen Wert mehr für Sie, und wäre es nicht einfacher gewesen, sie im Hotel zu lassen, wo Sie sie hätten später abholen können? Wenn Sie nämlich nur Ihrem Vater eine kleine Komödie vorspielen wollten, und nicht der ganzen Stadt!

Ja, gewiß, antwortete Howard, das wäre natürlicher gewesen. Aber wir folgten ja nicht der Vernunft, sondern der absonderlichen Laune einer Frau. Wir warfen also wie gesagt die Pakete fort und lachten noch lange über unseren Erfolg. Denn die alte Frau beeilte sich nicht allein, die Pakete aufzuheben, sondern als sie sie in den Händen hatte, lief sie so schnell sie nur konnte damit fort, als ob sie großen Nutzen von ihrer Beute erhoffte.

Sie hatten gut lachen, bemerkte der Coroner mit harter Stimme. Sie mußten es sehr lächerlich finden. Noch einen Blick voll schärfster Ironie warf er dem Zeugen zu, dann wandte er sich zu den Geschworenen, als ob er sie fragen wollte, was sie von dieser erzwungenen, verdächtigen Erklärung hielten. Aber die wußten augenscheinlich nicht, was sie davon halten sollten, und so wandte der Coroner schließlich den Blick wieder dem Zeugen zu, der von allen Anwesenden am ruhigsten schien.

Herr Van Burnam, als Sie heute morgen den Hut Ihrer Frau sahen, waren Sie sehr bestürzt. Weshalb eigentlich? Und weshalb hatten Sie bis dahin geleugnet, daß Sie etwas von der Toten wußten? Weshalb erzählen Sie das alles erst jetzt?

Würde ein Advokat mir zur Seite stehen, so würden Sie gewiß nicht eine solche Frage an mich richten, oder mein Advokat würde mir verbieten, darauf zu antworten. Aber auch dann würde ich Ihnen gestehen, daß der Unfall, der meiner Frau zugestoßen war, mich so erschütterte, daß ich unter dem ersten Eindruck meinem Impuls folgte und zu verheimlichen suchte, was ich von der Toten wußte. Ich dachte, daß, wenn keine Beziehungen zwischen der Toten und mir aufgedeckt würden, ich nicht in die Gefahr käme, den Verdacht auf mich zu lenken, der auf den Begleiter der Frau gefallen war. Und wie es stets geschieht, – diesem Impuls konnte ich bei dem ernsthaften Verhör auf die Dauer nicht folgen. Trotzdem beharrte ich so lange als möglich bei meiner ersten Aussage, vielleicht, weil ich überhaupt eigensinnig veranlagt bin, vielleicht auch, weil ich nicht eingestehen wollte, wie töricht ich gewesen war, als ich den Launen meiner Frau nachgab. Als ich aber den Hut sah und erkannte, daß er einen unwiderleglichen Beweis für die Anwesenheit meiner Frau in meines Vaters Haus bildete, verlor ich auf einmal das Vertrauen auf den Erfolg meines Versuches. Ich konnte leugnen, daß ich ihre Gestalt, ihre Hände und sogar die Narbe an ihrem Fuß erkannte, da eine andere Frau doch ähnliche Kennzeichen haben kann. Aber den Hut mußte ich erkennen. Zu viele Personen haben sie diesen Hut tragen sehen.

Dem Coroner genügte diese lange Erklärung nicht. Ja, ja, das verstehe ich schon, sagte er scharf. Und ich hoffe, die Herren Geschworenen werden die Erklärung auch richtig auffassen. Wenn sie dabei nur nicht vergessen, daß Frau Van Burnam alles tat, um wie ein einfaches Bürgermädchen auszusehen, sogar einfache Wäsche anzog. Weshalb traf sie alle Vorsichtsmaßregeln, um sich als Arbeiterin ausgeben zu können, wenn sie dann einen Hut in das Haus brachte, in dem der Name einer der ersten Modistinnen zu lesen war?

Frauen überlegen nicht alles. Sie trug den Hut gern und wollte ihn nicht wegwerfen. Sie dachte, sie könnte ihn in dem großen Hause irgendwo verbergen, – so sagte sie mir wenigstens, als sie ihn unter ihrem Kragen versteckt mit ins Haus brachte.

Der Coroner, der augenscheinlich nicht ein Wort von all dem glaubte, sah den Zeugen verblüfft an. Man merkte ihm an, wie seine Verachtung plötzlich in Neugierde umschlug. Ich wunderte mich nicht darüber; schon allein das Verhalten Howard Van Burnams war zu sonderbar, ganz abgesehen davon, welche seiner Aussagen, vom Vormittag oder vom Nachmittag, auf Wahrheit beruhte. Erst die Antwort auf die nächste an ihn gerichtete Frage begann einiges Licht auf die bis jetzt doch noch völlig ungeklärte Angelegenheit zu werfen.

Der Coroner fragte ihn: Was aber geben Sie als Grund dafür an, daß Sie Ihre Frau zu so später Stunde in das unbewohnte Haus Ihres Vaters führten und sie dann die ganze Nacht allein dort zurückließen?

Ich kann keinen vernünftigen noch für Sie glaubwürdigen Grund dafür angeben, erwiderte Howard. Aber in jener Nacht waren wir beide eben nicht vernünftig, sonst stände ich doch jetzt nicht hier und versuchte zu erklären, was sich durchaus nicht mit einer normalen Handlungsweise in Einklang bringen läßt. Meine Frau wollte um jeden Preis die erste sein, die meinen Vater auf der Schwelle seines Hauses begrüßte. Zuerst hatte sie beabsichtigt, ihn ganz offen als seine Schwiegertochter zu begrüßen, und erst später kam ihr der Einfall, sich ihm als die Haushälterin vorzustellen, wegen der mein Vater uns telegraphiert hatte und die ihn erwarten sollte. Das Telegramm war erst sehr spät in unsere Hände gelangt, so daß wir keine Zeit mehr hatten, ihm eine Haushälterin zu beschaffen. Wir fürchteten auch, mein Vater könnte am frühen Morgen ankommen; so bat mich denn meine Frau, sie in dem Hause übernachten zu lassen. Ich wollte ihr in nichts widersprechen, um sie nicht wieder aufzubringen. Ich hatte nicht geahnt, daß ihr infolge meines Weggehens etwas zustoßen, oder daß sie sich in dem großen Hause fürchten könnte. Oder besser gesagt, sie ahnte es nicht. Denn sie bat mich, nicht bei ihr zu bleiben, als ich davon sprach, wie leer und einsam doch das Haus wäre. Sie sagte, sie sei zu fröhlich, um irgendwie Furcht zu empfinden oder überhaupt an etwas anderes zu denken, als an die Ueberraschung meines Vaters und meiner Schwestern, wenn diese entdeckten, daß ihre entzückende Haushälterin niemand anderes war als die so lange mißachtete Schwägerin.

Und weshalb, begann der Coroner wieder, wobei er sich in seiner Erregung so weit vorbeugte, daß ich Mr. Gryces Gesicht sehen konnte, der sich auch vorneigte, um nur ja kein Wort von der Aussage dieses merkwürdigen Zeugen zu überhören, – und weshalb sprechen Sie von Furcht? Welchen Grund haben Sie zu der Annahme, daß, nachdem Sie sich entfernt hatten, Ihre Frau von Furcht erfaßt wurde?

Weshalb? wiederholte der Zeuge in einem Ton, als ob er über den mangelnden Scharfsinn des Fragenden erstaunt wäre. Ja, hat sie sich denn nicht von Furcht und Verzweiflung übermannt getötet? Ich habe sie doch gesund und in heiterster Stimmung zurückgelassen; wie könnte ich annehmen, daß ihr Tod einer anderen Ursache zuzuschreiben ist als einer plötzlichen ungeheuren Furchtanwandlung?

Ah! rief der Coroner in mißtrauischem Ton, der sicher nur den Gefühlen der meisten Anwesenden Ausdruck verlieh. Sie glauben also, daß Ihre Frau sich selbst getötet hat?

Gewiß glaube ich das, antwortete der Zeuge, ruhig die Anwesenden anblickend. Nur zwei Augenpaare vermied er geflissentlich, – die seines Vaters und seines Bruders.

Daß sie sich mit einer Hutnadel getötet hat? fragte der Coroner wieder, ohne jetzt noch die Ironie in seiner Stimme und seinem Benehmen zu verschleiern. Daß sie selbst sich eine Hutnadel in den Nacken stieß, in eine Stelle, von der wohl die wenigsten Frauen wissen, wie leicht verwundbar sie ist? Selbstmord? Wo sie unter einem Kasten begraben aufgefunden wurde, der erst einige Stunden, nachdem der tödliche Stoß geführt war, auf die Leiche herabgestürzt wurde?

Wie starb sie denn, wenn nicht durch Selbstmord? fragte der Zeuge unbeirrt. Sie hätte höchstens einem Diebe die Tür öffnen müssen. Und wie käme denn ein Dieb auf den sonderbaren Gedanken, eine wehrlose Frau auf solche Weise zu töten? Nein! Nein! Ein plötzliches Entsetzen hat sie erfaßt, und in einem Augenblick der Verzweiflung legte sie Hand an sich. Vielleicht auch war es ein Unfall, der sie tötete. Und was die Aussage der Sachverständigen betrifft – wir alle wissen, daß Irren menschlich ist. Und wenn auch alle Sachverständigen der ganzen Welt – – hier wurde Howards Stimme laut und fest, seine Nasenflügel bebten, und seine Haltung war wieder selbstbewußt und befehlend, so daß er uns allen wie plötzlich umgewandelt erschien – und wenn auch alle Sachverständigen der ganzen Welt einen Eid leisteten, daß der Kasten umgeworfen wurde, als meine Frau schon vier Stunden tot war, ich glaubte ihnen nicht. Der Anschein mag sein, wie er will, ich erkläre hiermit ausdrücklich: Ich bin überzeugt, daß sie im Todeskampf den Kasten auf sich herabzog. Für die Wahrheit meiner Worte stehe ich mit meiner Ehre ein!

Ein lautes Schreien und Lärmen im Saal folgte diesen Worten. Man unterschied die Rufe: »Er lügt! Er lügt! Er ist verrückt!« Die Worte des Zeugen waren so unerwartet, klangen so ungeheuerlich, daß selbst die Teilnahmlosesten sich nicht länger zurückhalten konnten. Und nur die Neugierde, noch mehr zu hören, konnte schließlich die Tobenden wieder zur Besinnung bringen. Gespannt warteten alle auf die Entgegnung des Coroners.

Ich habe einmal gehört, daß ein Blinder das Vorhandensein des Lichts leugnete. Aber es ist noch nie vorgekommen, daß ein vernünftiger Mann wie Sie vor so augenscheinlichen Tatsachen Dinge behauptet, die in völligem Widerspruch zu allem stehen, was die Untersuchung bis jetzt klargelegt hat. Wenn Ihre Frau einen Selbstmord beging, oder wenn sie sich die Hutnadel zufällig in den Nacken stieß, wie kommt es dann, daß der Kopf der Hutnadel so weit von der Leiche entfernt hinter dem Gitter der Luftheizung gefunden wurde?

Als der Hutnadelkopf abbrach, konnte er leicht bis dorthin schnellen – –

Aber die Klappe der Luftheizung war doch geschlossen, nicht wahr, Herr Gryce?

Ja, sie war geschlossen, lautete die kurze Antwort.

Das Gesicht des Zeugen, das seit den letzten leidenschaftlich geäußerten Worten seinen Ausdruck nicht verändert hatte, verfinsterte sich jetzt einen Augenblick. Er senkte die Augen, als ob er sich schließlich doch unterliegen fühlte. Aber rasch gewann er seinen Mut wieder und sagte ruhig:

Aber die Klappe konnte von einem Vorbeigehenden unabsichtlich geschlossen worden sein. Ich habe schon von anderen, viel merkwürdigeren Zufälligkeiten gehört.

Herr Van Burnam, fragte der Coroner, den die Ausflüchte zu ermüden begannen, sind Sie sich auch bewußt, welches Licht Ihre widersprechenden Aussagen auf Sie werfen müssen?

Ich bin mir dessen völlig bewußt.

Und sind Sie bereit, die daraus resultierenden Folgen auf sich zu nehmen?

Wenn daraus irgendwelche Folgen für mich entstehen, muß ich sie natürlich auf mich nehmen, antwortete Howard mit Ruhe.

Wann verloren Sie den Schlüssel, den Sie nicht mehr zu besitzen behaupten? Heute morgen behaupteten Sie, Sie wüßten es nicht; aber heute nachmittag können Sie ja Ihre Meinung geändert haben.

Ich habe den Schlüssel verloren, nachdem ich meine Frau im Hause meines Vaters verlassen hatte.

Bald darauf?

Sehr bald.

Wie bald denn?

Innerhalb einer Stunde – so glaube ich.

Wieso wissen Sie, daß Sie ihn so bald verloren?

Weil ich den Schlüssel vermißte.

Wo waren Sie, als Sie den Verlust bemerkten?

Das weiß ich nicht mehr. Ich spazierte herum, wie ich es Ihnen bereits sagte. Ich erinnere mich nicht, wo ich mich befand, als ich die Hand in die Tasche steckte und merkte, daß der Schlüssel nicht mehr drin war.

Sie erinnern sich also bestimmt nicht, wo Sie ihn vermißten?

Nein!

Sehr gut!

Der Coroner machte eine Pause; die Erwartung hatte einen Höhepunkt erreicht. Dann sagte er:

Der Schlüssel ist gefunden worden!

Der Zeuge erzitterte so heftig, daß seine Zähne laut zusammenklappten. Im ganzen Saale konnte man den Laut vernehmen.

Er ist gefunden worden? sprach er, sich zur Gleichgültigkeit zwingend. So können Sie mir ja sagen, wo ich ihn verloren habe.

Der Schlüssel wurde an seinem gewöhnlichen Platz, über dem Schreibtisch Ihres Bruders hängend, gefunden.

Oh! murmelte Howard, wie es schien völlig fassungslos. Ich verstehe nicht, wie man den Schlüssel im Bureau finden konnte. Ich bin ganz sicher, daß ich ihn auf der Straße verloren habe.

Ich glaube auch nicht, daß Sie das verstehen können, bemerkte der Coroner einfach und entließ den Zeugen. Howard schwankte zu einem Stuhl, – in eine Ecke entgegengesetzt der, wo sein Vater und sein Bruder saßen.

*


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