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Erstes Kapitel.

Ich fühle mich zwar sonst von der Neugierde meines Geschlechtes frei, doch als ich in der Nacht vom 17. auf den 18. September 1895 um die Mitternachtsstunde hörte, wie ein Wagen bei meinem Nachbarhause in Grammercy Park vorfuhr, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, aus dem Bett zu springen und zwischen den Fenstervorhängen hinauszuspähen.

Das Nachbarhaus war, wie allgemein angenommen wurde, unbewohnt; die Besitzer sollten sich in Europa Der Schauplatz des Romans ist New York. D. Ü. aufhalten; und vor diesem unbewohnten Hause hielt der Wagen. Die Laterne, die unser Stückchen Straße erleuchten soll, befindet sich wohl dreißig Schritte weiter auf der anderen Seite, so daß ich nur die schattenhaften Umrisse der Gestalten eines jungen Mannes und einer jungen Frau unterscheiden konnte, die dort auf dem Trottoir standen. Soviel aber konnte ich doch deutlich sehen: die Frau – und nicht der Mann – bezahlte den Kutscher. Im nächsten Augenblick schon standen beide auf der Freitreppe, und der Wagen rollte weiter.

Wie erwähnt, in der Dunkelheit konnte ich die jungen Leute nicht erkennen; aber da ich einen Augenblick später das Rasseln des Torschlüssels hörte und das Paar gleich darauf von der Freitreppe verschwand, nahm ich an, der junge Mann sei Herrn Van Burnams ältester Sohn Franklin und die Dame eine nahe Verwandte. Weshalb aber ein sonst so korrekter Herr zu so später Stunde einen Besuch in dieses Haus brachte, in dem alles zur Aufnahme selbst des anspruchslosesten Gastes fehlte, war für mich ein dunkles Rätsel, über das ich unwillkürlich nachsinnen mußte, selbst als ich wieder im Bett lag.

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Die Lösung zu finden gelang mir nicht. Zehn Minuten später war ich wieder am Einschlummern, als ein neues Geräusch mich aufschreckte. Das Tor des Nachbarhauses, das sich erst vor kurzem geschlossen hatte, wurde wieder geöffnet, und als ich zum Fenster sprang, konnte ich noch sehen, wie der junge Mann in der Richtung des Broadway davoneilte. Die Dame begleitete ihn nicht, und ich mußte mich unwillkürlich fragen, ob es Franklin Van Burnams Lebensart entsprach, eine Frau allein in dem großen, leeren und, wie es schien, nicht einmal erleuchteten Hause zurückzulassen. War das nicht eher die Art seines leichtfertigen Bruders Howard, der doch vor zwei oder drei Jahren ein junges Mädchen aus sehr zweifelhafter Familie geheiratet hatte, und mit dem die Familie deshalb zerworfen war?

Mit solchen Gedanken schlief ich ein, nachdem ich noch die Uhr hatte halb eins schlagen hören.

Am nächsten Morgen unterzog ich, sobald ich aufgestanden war, das Nachbarhaus einer eingehenden Prüfung: kein Laden war geöffnet, kein Store emporgezogen. Doch das beunruhigte mich nicht weiter, da ich gewohnt bin, sehr früh aufzustehen. Als ich aber nach dem Frühstück wieder hinausspähte, und sich noch immer kein Leben hinter dieser starren Fassade zu regen schien, begann ich mich ungemütlich zu fühlen. Noch unternahm ich nichts; erst gegen Mittag, als ich in meinen Garten hinabstieg und sah, daß auch die Hinterfenster des Hauses der Van Burnams fest verschlossen waren, wurde ich von einer solchen Unruhe erfaßt, daß ich den ersten vorbeikommenden Schutzmann anrief, ihm meinen Verdacht mitteilte und ihn dringend bat, am Nachbarhause zu schellen, was er halb widerwillig tat.

Nichts regte sich.

Ist ja niemand drin! sagte der Schutzmann.

Schellen Sie noch einmal, bat ich.

Er tat es, doch wieder erfolglos.

Sehen Sie denn nicht, daß das Haus fest verschlossen ist? brummte er. Außerdem haben wir doch den Befehl erhalten, das Haus während der Abwesenheit des Besitzers zu bewachen, und dieser Befehl wurde nicht aufgehoben.

Aber in dem Hause ist eine junge Dame, beharrte ich. Und je länger ich über den Vorfall von heute nacht nachdenke, um so überzeugter bin ich, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein muß.

Der Schutzmann zuckte die Achseln und wollte sich entfernen. Da bemerkten wir beide eine einfach aussehende Frau, die uns gegenüber stand und uns anstarrte. Sie trug ein Bündel in der Hand. Ihr stark gerötetes Gesicht zeigte einen erschreckten Ausdruck, der um so auffälliger war, als ihre starren, harten Züge unter gewöhnlichen Umständen ziemlich ausdruckslos sein mußten. Die Frau schien mir bekannt; ich mußte sie schon früher in oder bei dem Hause der Van Burnams gesehen haben.

Ich konnte meine Erregung nicht mehr bemeistern; ich sprang die Freitreppe hinab und auf die Frau zu: Wer sind Sie? fragte ich. Arbeiten Sie bei den Van Burnams, und kennen Sie die Dame, die diese Nacht ins Haus kam?

Das Weib erschrak, wahrscheinlich über meine plötzliche Anrede oder über mein erregtes Gebaren, und wandte sich, offenbar um wegzulaufen. Die Anwesenheit des Schutzmanns hinderte sie aber wohl daran, und so blieb sie stehen, und nur die Röte ihrer Wangen und ihrer Stirn wurde noch flammender.

Ich bin die Aufwartefrau, stammelte sie. Ich bin gekommen, um die Fenster zu öffnen, um zu lüften – –

Meine letzte Frage schien sie überhört zu haben.

Soll denn die Familie zurückkommen? fragte der Schutzmann.

Das weiß ich nicht, – ich glaube ja, erwiderte sie tonlos.

Haben Sie die Schlüssel? fragte ich, da ich sah, wie sie etwas in der Tasche suchte.

Sie antwortete nicht. Ihr vorher ängstlicher Gesichtsausdruck wurde finster; sie wandte sich ab und brummte: »Das kümmert doch die Nachbarn nicht!« Dabei warf sie mir einen unwilligen Blick zu.

Wenn Sie die Schlüssel haben, so wollen wir hineingehen und sehen, ob auch alles in Ordnung ist, sagte der Polizist.

Sie begann zu zittern. Meine Erregung steigerte sich noch. Gewiß war bei den Van Burnams etwas nicht in Ordnung, und ich würde der Entdeckung des Geheimnisses beiwohnen! Doch die nächsten Worte der Frau enttäuschten meine Hoffnung.

Ich habe nichts dagegen, wenn Sie eintreten wollen, wandte sie sich zu dem Schutzmann. Aber ihr will ich die Schlüssel nicht geben. Was hat sie in unserem Haus zu suchen? Und sie brummte noch etwas, das so klang wie: 'ne alte Jungfer, die ihre Nase überall reinstecken muß!

Der Blick, den der Polizist mir zuwarf, überzeugte mich, daß mein Ohr mich nicht getäuscht hatte.

Die Frau hat recht, erklärte er. Ohne Umstände schob er mich nun beiseite und schritt zur Tür des Erdgeschosses. Einen Augenblick später trat er mit der Aufwartefrau durch diese Nebentür in das Haus.

Ich wartete draußen. Ich fühlte, das war meine Pflicht. Vorübergehende musterten mich erstaunt, doch ich regte und rührte mich nicht. An meine Arbeit konnte ich doch nicht gehen, ehe ich nicht mit eigenen Augen mich überzeugt hatte, daß der Frau, die um Mitternacht in das Haus gekommen war, nichts zugestoßen war, und daß die Fenster nur infolge gewohnter Langschläferei einer Weltdame noch nicht geöffnet waren. Einige Minuten verstrichen, ehe die Fensterläden im dritten Stock aufgestoßen wurden, und noch länger dauerte es, bis sich im zweiten Stock ein Fenster öffnete, der Polizist herausblickte, meinem fragenden Blick begegnete und wieder verschwand.

Schon waren drei oder vier Personen neben mir stehen geblieben; ich fürchtete, daß sich bald die Menge hier ansammeln würde und begann, meine pflichtbewußte Ausdauer zu bereuen. Da plötzlich wurde die Nebentür heftig aufgerissen, und die Aufwartefrau stürzte, an allen Gliedern zitternd, mit dem Ausdruck höchsten Entsetzens heraus. »Sie ist tot!« schrie sie. »Sie ist tot! Mörder! Mörder!« Sie wollte noch weiter schreien, doch der Schutzmann packte sie und zog sie wieder zur Tür herein, wobei er sich nicht enthalten konnte, einen halblauten Fluch auszustoßen.

Wäre ich nicht so flink gewesen, so hätte er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. So aber kam ich ihm zuvor, – glücklicherweise; denn im nächsten Augenblick fiel die Aufwartefrau, die bleicher und bleicher geworden war, wie eine leblose Masse zu Boden. Dieser Zwischenfall brachte den Schutzmann noch mehr aus der Fassung; er ließ mich daher das bewußtlose Weib aufheben und durch die Halle schleppen. Kaum aber hatte ich die Tür des Empfangszimmers erreicht, so bot sich mir ein so entsetzlicher Anblick, daß ich das arme Weib aus meinen Armen auf den Boden fallen ließ.

In dem Halbdunkel einer Ecke – das Licht drang nur durch die Tür, in der ich stand, herein – konnte man die Gestalt einer Frau unterscheiden, die von einem umgestürzten Möbel halb bedeckt war. Bloß die ausgebreiteten Arme und die Röcke waren zu sehen; doch beim Anblick der starren Glieder konnte man nicht einen Augenblick zweifeln, daß die Frau tot war.

Bei diesem schrecklichen und trotz all meiner Befürchtungen doch so unerwarteten Anblick fühlte ich mich schwach werden; auch ich wäre wohl in Ohnmacht gefallen, hätte ich mir nicht gesagt, daß ich von diesem unvernünftigen Polizisten keine Hilfe erwarten durfte. So überwand ich meine Schwäche und schrie den Polizisten an, der nicht wußte, ob er sich der bewußtlosen oder der toten Frau zuwenden sollte: So helfen Sie doch! Die da ist tot, aber diese hier lebt. Bringen Sie mir rasch einen Krug Wasser aus der Küche und holen Sie sich dann Hilfe. Ich werde bei der Frau bleiben, bis sie wieder zu sich kommt. Das wird nicht lange dauern, sie ist ja sehr robust.

.

Sie wollen allein hier bleiben mit dieser ...? begann er. Aber ich unterbrach ihn verächtlich:

Gewiß will ich hier bleiben; weshalb denn nicht? Wegen der Toten? Man schütze mich nur vor den Lebendigen, vor den Toten werde ich mich schon selbst schützen!

Das Gesicht des Polizisten drückte Verdacht aus. Holen Sie das Wasser doch selbst! sagte er. Und rufen Sie gleich jemanden herbei, der an das Polizeipräsidium wegen des Coroners In England und Amerika der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die sofortige Untersuchung mit Hilfe der Jury zu führen hat. und eines Detektivs telephoniert. Ich verlasse das Zimmer nicht, ehe die kommen!

Ich lächelte über diese überflüssige Vorsicht. Doch nach meinem Grundsatz, niemals einem Mann zu widersprechen, wenn ich nicht sicher bin, recht zu behalten, folgte ich ihm, so schwer es mir auch fiel, diesen Raum mit seinem schrecklichen Geheimnis nur für einen Augenblick zu verlassen.

Laufen Sie nach dem zweiten Stock hinauf, rief er noch, als ich über die bewußtlos vor der Tür liegende Frau hinüberstieg. Rufen Sie den Leuten das Notwendige durch das Fenster zu, sonst laufen sie uns alle hier herein!

Ich sprang die Treppen in die Höhe, – ich hatte schon immer gewünscht, dieses Haus zu besichtigen, aber die Damen Van Burnam hatten mich nie dazu aufgefordert –, eilte in das Vorderzimmer, dessen Tür offen stand, stürzte zum Fenster und rief der Menge, die schon die halbe Straße einnahm, zu:

»Holt einen Polizisten! Einen Polizisten! Hier ist ein Unglück passiert! Der Schutzmann hier verlangt den Coroner und einen Detektiv!«

»Ist wer verwundet? Ein Mann? Oder eine Frau?« riefen einige, und andere wollten eingelassen werden. Ich aber sah, wie ein Knabe auf einen Polizisten zulief, und ich nahm daher an, daß bald Hilfe da sein würde. So zog ich mich vom Fenster zurück und blickte mich nach Wasser um.

Ich befand mich im Schlafzimmer einer Dame, wahrscheinlich dem Schlafzimmer des ältesten Fräulein Van Burnam. Das Zimmer war aber schon einige Monate unbewohnt, so daß alles, was mir hätte von Nutzen sein können, fehlte. Kein Eau de Cologne auf dem Waschtisch, kein Riechsalz auf dem Kamin. Aber Wasser gab's in der Leitung, und auf dem Waschtisch fand ich einen Becher. Ich füllte den Becher und lief damit zur Tür; dabei stolperte ich über einen kleinen Gegenstand. Ich hob ihn auf, denn jede Unordnung ist mir verhaßt; es war ein kleines rundes Nadelkissen. Ich legte es auf den nächsten Tisch und eilte weiter.

Die Frau lag noch immer vor der Tür des Empfangszimmers. Ich begoß ihr Gesicht mit dem Wasser, und sie kam sehr rasch zu sich. Sie setzte sich auf und wollte die Lippen öffnen, doch sie hielt inne; das schien mir verdächtig, aber ich ließ mir nichts merken.

Inzwischen hatte ich auch einen Blick in das Zimmer geworfen. Der Polizist stand noch an derselben Stelle und blickte unverwandt auf die Leiche zu seinen Füßen herab. Keinerlei Empfindung drückte sich in seiner stumpfen Haltung aus. Er hatte keinen der Fensterladen geöffnet, noch irgend einen Gegenstand des Zimmers angerührt.

Mich faszinierte das Mysteriöse des ganzen Vorfalls so stark, daß ich die Aufwartefrau, die sich nun völlig erholt hatte, in der Halle zurückließ und in das Empfangszimmer trat; ein gellender Schrei aber, den sie ausstieß, hielt mich zurück. »Verlassen Sie mich nicht! Ich hab' nie so 'was Entsetzliches gesehen. Die arme Kleine! Die arme Kleine! Warum nimmt man nicht all diese schrecklichen Dinge fort, die sie erdrücken!«

Sie meinte nicht nur das Möbel, das auf die Frau gefallen war, – es war eine Art Kasten, unten mit Fächern, oben mit Regalen, – sondern auch die verschiedenen Nippes, die von den Regalen herabgefallen waren und nun zertrümmert um die Leiche herumlagen.

Man wird das gleich tun, beruhigte ich sie. Der Polizist wartet nur auf einen Vorgesetzten, auf den Coroner.

Aber wenn sie noch lebt! All das Zeugs muß sie erdrücken! Wir wollen es wegräumen. Ich will helfen. Ich bin wieder stark genug, um zu helfen!

Wissen Sie, wer diese Frau ist? fragte ich, denn ihre Stimme schien mir mehr Mitgefühl auszudrücken, als bei diesem, wenn auch schrecklichen Vorfall natürlich gewesen wäre.

Wer sie ist? fragte sie und blinzelte mit den Augen, als sie meinen forschenden Blick auszuhalten versuchte. Woher soll ich sie kennen? Ich bin zugleich mit dem Polizisten 'reingegangen und nicht weiter gekommen, als wo ich jetzt stehe. Warum glauben Sie, daß ich die Frau kenne? Ich bin nur die Aufwartefrau und weiß nicht einmal die einzelnen Namen der Familienmitglieder.

Es schien mir, als ob Sie sehr ergriffen wären, bemerkte ich. Das Mißtrauen der Frau war mir verdächtig, denn dieses Mißtrauen war so auffällig, daß ihre eben noch furchtsame Haltung plötzlich etwas Lauerndes angenommen hatte.

Wer soll da nicht ergriffen sein, wenn so ein armes Wesen unter einem Haufen zerschlagenen Geschirres erdrückt liegt! Und der Polizist versteht seine Pflicht so gut, daß er blöde guckt, anstatt mit einem Griff das hübsche Gesichtchen aufzudecken und zu sehen, ob sie noch lebt oder ob sie tot ist!

Ich nickte der Frau beifällig zu, denn dieser Entrüstungsschrei war vom Standpunkt der Menschlichkeit nur zu berechtigt. Ich wünschte, ein Mann zu sein, um den schweren Kasten selbst aufheben zu können. Aber da ich es nicht vermochte und es mir unklug dünkte, den Polizisten zu reizen, so sagte ich nichts und machte nur einige Schritte in das Zimmer hinein; erst später bemerkte ich, daß die Aufwartefrau mir gefolgt war.

Die Empfangszimmer der Van Burnams standen durch einen offenen Bogen ohne Tür miteinander in Verbindung. Rechts von diesem Bogen, in der der Eingangstür gegenüberliegenden Ecke, lag die tote Frau. Meine Augen hatten sich schon an das Dämmerlicht gewöhnt, und wie ich nun herumspähte, bemerkte ich einige Einzelheiten, die mir bis dahin völlig entgangen waren; die Tote lag auf dem Rücken, und ihre Füße waren nach der Eingangstür zu gerichtet, und nirgends im Zimmer, außer in der unmittelbaren Umgebung der Leiche, waren Spuren eines Kampfes sichtbar. Alles stand an seinem Platz, alles war in größter Ordnung, nicht nur in diesem, sondern, so weit ich sehen konnte, auch in den anderen Räumen.

Unterdessen suchte die Aufwartefrau zu erklären, wie der Kasten wohl umgefallen sein mochte:

»Die Aermste! Die Aermste! Sie hat ihn auf sich selbst herabgezogen und umgeworfen. Aber wie ist sie denn hereingekommen? Und was wollte sie in dem unbewohnten Hause?«

Der Polizist, für den augenscheinlich diese Bemerkungen bestimmt waren, murmelte etwas Unverständliches. Ratlos wandte die Frau sich zu mir.

Was sollte ich ihr antworten? Einiges wußte ich ja von der Nacht her, aber das konnte ich ihr nicht sagen. So schüttelte ich bloß den Kopf. Nach dieser zweiten Zurückweisung schwieg das arme Weib; nur einen sonderbar flehenden Blick warf sie noch dem Schutzmann und hierauf mir zu, was ich nicht verstand. Dann wandte sie ihre Augen wieder der Toten zu. Da sie jetzt näher bei der Leiche stand, sah sie wohl etwas, worüber sie erstaunte, denn sie kniete nieder und begann die Röcke der Frau zu untersuchen.

Was suchen Sie da? brummte der Polizist. Stehen Sie auf! Der Coroner allein hat das Recht, irgend etwas hier zu berühren!

Ich tu doch nichts Böses! widersprach die Frau, und ihre Stimme klang sonderbar gebrochen. Ich wollte nur sehen, wie die Aermste gekleidet ist. Ein blaues Kleid, nicht wahr? fragte sie mich.

Blaue Halbseide, antwortete ich. Wohl ein Konfektionskleid, aber sehr gut gearbeitet. Es muß bei Altman oder Stern gekauft worden sein.

Ich – ich bin nicht gewohnt, solche Sachen zu sehen, stammelte die Frau, sich mühsam erhebend. Sie schien ihre Geistesgegenwart völlig verloren zu haben. Ich – ich gehe jetzt wohl am besten nach Hause? Aber dabei rührte sie sich nicht von der Stelle.

Sie ist jung, die arme Kleine, nicht wahr? begann sie wieder, mit einem Laut in der Stimme, der zögernd und zweifelnd klang.

Ich glaube, sie ist jünger als ich oder Sie, ließ ich mich zu antworten herbei. Ihre schmalen, spitzen Schuhe deuten wohl darauf hin, daß sie das diskrete Alter noch nicht erreicht hat.

Ja, ja, so ist es! rief die Aufwartefrau mit solcher Hast, daß sie mir wieder sehr verdächtig wurde. Deshalb sagte ich ja »arme Kleine«, und sprach von ihrem hübschen Gesichtchen – –

Der Lärm auf der Straße schwoll an, man hörte eilige Schritte auf der Freitreppe, und gleich darauf tönte die Klingel schrill durch das Haus.

Das ist die Kriminalpolizei, sagte der Schutzmann mit ruhiger Stimme. Oeffnen Sie das Tor, Frau; oder treten Sie in die Vorhalle, wenn Sie wollen, daß ich öffne!

Das war noch eine unverdiente Unhöflichkeit; allein ich fühlte, daß ich ein zu wichtiger Zeuge war, um meine Gefühle zeigen zu dürfen. So hielt ich denn meinen Unmut zurück und ging gelassen zum Haupteingangstor.

*


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