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Zehntes Kapitel.

Augenscheinlich nicht; denn die nächsten Worte des Coroners waren: »Miß Amelia Butterworth!«

Mein Auftreten wurde im Publikum durch halb neugierige, halb spöttische Blicke begrüßt, auf die ich gar nicht gefaßt war; und ehe ich mich noch von meinem Erstaunen erholen konnte, begann meine Vernehmung.

Was ich auszusagen hatte, ist den Lesern schon bekannt, und so will ich mich darauf beschränken, bloß einige der letzten an mich gerichteten Fragen wiederzugeben.

.

Der Coroner hatte mich über das Aussehen des Paares befragt, das in das Haus der Van Burnams eingetreten war. Nun wollte er wissen, ob der Schritt der jungen Frau zögernd war, oder ob sie freiwillig in das Haus zu gehen schien.

Ich antwortete: Sie zögerte nicht; sie flog förmlich die Treppe hinan.

Und der Mann?

Er war etwas weniger lebhaft; aber das beweist nichts. Er war vielleicht etwas älter!

Wir brauchen hier keine Hypothesen, Miß Butterworth. Wir wollen Tatsachen. Wissen Sie, ob er älter war?

Nein, mein Herr!

Wie groß war er?

Mittelgroß! Seine Gestalt war schlank und wohlgebildet; er bewegte sich wie ein Gentleman. Das kann ich behaupten.

Glauben Sie, daß Sie ihn identifizieren könnten, wenn Sie ihn sähen?

Ich zögerte, denn ich merkte, daß der ganze Saal meine Antwort mit fieberhafter Spannung erwartete. Ich warf einen Blick nach der Türe, hinter der ich die Van Burnams vermutete, und es entging mir nicht, daß auch andere nach dieser Richtung schauten. Ich sah ein, daß mein Blick ein Unrecht war, und daß ich dazu beitrug, den Verdacht auf einen vielleicht doch Unschuldigen zu lenken. Rasch wandte ich mein Gesicht wieder dem Publikum zu und erklärte so nachdrücklich, als ich nur konnte:

Ich glaubte zuerst, daß, wenn ich den Mann unter denselben Umständen wiedersähe, ich ihn erkennen würde. Aber jetzt glaube ich das nicht mehr. In diesem Punkt wage ich es nicht, mich auf mein Gedächtnis zu verlassen.

Der Coroner sah sehr enttäuscht drein, das Publikum ebenfalls.

Es ist recht schade, sagte der Coroner, daß Sie nicht genauer gesehen haben. Jetzt sagen Sie bitte noch, auf welche Weise die Leute ins Haus kamen.

Ich erzählte, sie hätten einen Schlüssel gehabt. Der Mann wäre nur kurze Zeit im Hause geblieben und hätte es fluchtartig verlassen. Auch von meiner Anwesenheit bei der Auffindung der Leiche sprach ich – doch da hatte mein Verhör ein Ende. Kein Wort von meiner Mitarbeiterschaft mit Herrn Gryce! Kein Wort von meinen Entdeckungen und meinem Verdacht! Ich war nun doch entrüstet.

Die Herren beschlossen darauf, eine längere Pause zu machen, – sie hatten wohl das Bedürfnis, eine Zigarre zu rauchen. Ihr Interesse an der Sache schien also nicht groß zu sein. Ich war nun genötigt, in eine Konditorei zu gehen und mich mit Kaffee und Kuchen zu stärken.

Bei Wiederaufnahme des Verhörs war Mr. Gryce der erste Zeuge. Alle Hälse reckten sich, um den berühmten Detektiv zu sehen. Ich sah gar nicht einmal nach ihm hin, kannte ich ihn doch genau genug. Aber innerlich freute ich mich gewaltig, daß er jetzt doch gezwungen würde, seine Geheimnisse preiszugeben.

Doch ach! So interessant das Verhör auch war, es ließ gar große Lücken und war entsetzlich ungenau. Hauptsächlich drehte es sich um die Auffindung des abgebrochenen Endes der Hutnadel. Von meiner Mithilfe wurde wieder nicht gesprochen!

Die beiden Stücke der Nadel wurden den Geschworenen gereicht und gingen von Hand zu Hand. Dann wurde der unter der Leiche gefundene Filzhut vorgezeigt und das einzige von einer Hutnadel verursachte Loch untersucht. Mr. Gryce wurde gefragt, ob noch eine andere Nadel auf dem Fußboden gefunden wurde, und er verneinte es. Nun zweifelte keiner der Anwesenden mehr, daß die junge Frau mit ihrer eigenen Hutnadel erstochen worden war.

Von da ab wurde das Verhör in anderer Richtung geführt. Zunächst wurde Miß Fergusson aufgerufen. Wer war Miß Fergusson? Den meisten von uns war der Name unbekannt, und als die Frau erschien, wurde die allgemeine Neugierde noch größer. Ihr Gesicht war so häßlich, wie ich noch nie eins gesehen hatte. Und doch lagen Klugheit und Güte in ihren Zügen. Ein nervöses Zucken um den Mund hatte die Lippen ganz entstellt, – ich dankte meinem Schöpfer, daß er mit mir gnädiger verfahren war.

Die arme Frau mußte wohl wissen, wie unschön sie war, doch mußte sie auch daran gewöhnt sein, daß bei ihrem Anblick die Leute sich abwandten, denn außer dem nervösen Zucken um ihren Mund schien alles an ihr bewegungslos.

Wie heißen Sie und wo wohnen Sie? fragte der Coroner.

Ich heiße Susanne Fergusson und wohne in Haddam, in Connecticut, antwortete sie. Wie schön war aber die Stimme dieser häßlichen Frau! Alle Anwesenden staunten. Es war, als ob eine silberhelle Quelle aus einem unförmlichen Felsblock sich ergösse.

Sie halten eine Familienpension?

Jawohl, mein Herr!

Wer wohnte diesen Sommer bei Ihnen?

Herr und Frau Howard Van Burnam aus New York.

Wer wohnte außer diesen bei Ihnen?

Ein Herr Hell, auch aus New York, und ein junges Ehepaar aus Hartford. Für mehr Pensionäre habe ich nicht Platz.

Wie lange wohnte das Ehepaar Van Burnam bei Ihnen?

Drei Monate. Sie kamen im Juni zu mir.

Wohnen Sie noch bei Ihnen?

Ja, obgleich sie beide jetzt nicht in Haddam sind. Ihre Koffer aber sind noch alle bei mir. Frau Van Burnam fuhr letzten Montag ganz früh nach New York, nachmittags fuhr auch Herr Van Burnam fort. Ich vermute, gleichfalls nach New York. Seither habe ich beide nicht wiedergesehen. (Der Mord war in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch verübt worden.)

Nahmen Herr oder Frau Van Burnam Gepäck mit?

Nur Frau Van Burnam hatte eine kleine Handtasche mitgenommen.

Hatte in der Handtasche ein Kleid Platz?

Nein, unmöglich!

Und Herr Van Burnam nahm nichts mit?

Er hatte nur seinen Schirm bei sich, nichts anderes.

Weshalb fuhren nicht beide zusammen fort? Können Sie uns vielleicht darüber etwas mitteilen?

Ja, ich hörte, daß Frau Van Burnam gegen den Willen ihres Gatten nach New York fuhr. Er wollte sie nicht weglassen, sie aber bestand darauf; er war recht ärgerlich. Sie stritten ziemlich laut darüber, und da mein Zimmer und das ihrige eine gemeinsame Veranda haben, konnte ich nicht umhin, manches zu hören.

Wollen Sie uns bitte sagen, was Sie hörten?

Das würde ich nicht gern tun, sträubte sich die Frau zuerst. Aber wenn ich muß – – Nun, ich hörte, wie er sagte: »Ich bin jetzt anderer Meinung geworden, Luise. Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr mißfällt es mir, daß du dich in die Sache mischen willst. Daraus kann nichts Gutes werden. Die Vorurteile gegen dich werden nur verstärkt, und unser Zusammenleben wird noch mehr erschwert werden.«

Wovon sprachen die beiden?

Das weiß ich nicht.

Und was antwortete die Frau?

O! Sie brachte einen Strom leidenschaftlicher Worte hervor, die mir unverständlich blieben. Sie wollte durchaus gehen; sie wäre nicht anderer Meinung geworden; es wäre besser, sie folgte ihrem Gefühl als seiner kalten Ueberlegung. Sie sei nie mit ihm glücklich gewesen, und sie wolle jetzt eine Aenderung herbeiführen, – selbst auf die Gefahr hin, daß es zum Schlimmsten käme. Aber sie glaube nicht, es könne schlecht ausgehen. War sie nicht sehr hübsch? War sie nicht sogar schön, wenn sie tief erregt war und eine flehende Haltung annahm? Und ich hörte, wie sie auf die Knie fiel, worauf ihr Mann noch ärgerlicher brummte. Dann blieb es eine Zeitlang still; ich hörte nur Herrn Van Burnam auf und ab gehen. Schließlich fuhr die Frau mit eigenwilliger Stimme fort: »dir mag es verrückt scheinen; du kennst mich eben zu genau, kennst mein Benehmen, meine Art zu genau. Ihn aber wird es überraschen, – und das übrige mache ich dann schon. Ich – ich bin in manchen Dingen doch sehr geschickt, und mein guter Engel sagt mir, daß ich Erfolg haben werde.«

Was antwortete der Mann darauf?

Er antwortete, der gute Engel, auf den sie sich beriefe, wäre nur ihre Eitelkeit, und sein Vater würde sich durch eine solche Komödie nicht irreführen lassen. Er verbot ihr noch einmal ausdrücklich, ihr Vorhaben auszuführen, und sagte noch manches andere, um sie zu überreden. Sie aber antwortete nur durch ungeduldiges Aufstampfen. Endlich sagte sie, sie würde trotz seines Verbotes doch tun, was sie für richtig hielte. Sie hätte nicht einen Tyrannen geheiratet. Wenn er nicht wüßte, was für ihn gut wäre, so wüßte sie es dafür um so besser. Und wenn erst sein Vater wieder mit ihm versöhnt wäre, würde er es ihr danken und einsehen, daß ihr gesunder Menschenverstand auch was wert sei. Er antwortete: »Der Verstand nützt nichts, wenn der Mensch dabei doch verrückt ist!« Darauf blieb alles still, und etwas später hörte ich die Frau das Haus verlassen. Sie hatte ihren Willen doch durchgesetzt. Aber der Mann war sehr unzufrieden und rief ihr noch erbitterte Worte nach.

Erinnern Sie sich dieser Worte?

Er – fluchte. Seine Frau und seine eigene Dummheit verfluchte er. Und ich hatte doch geglaubt, daß er seine Frau liebte.

Haben Sie Frau Van Burnam gesehen, als sie das Haus verließ?

Ja, ich sah sie über die Straße gehen.

Ging sie nach dem Bahnhof?

Jawohl, mein Herr!

Sie trug also eine Handtasche?

Ja! Und das war so recht kennzeichnend für den Seelenzustand ihres Gatten. Sonst war er stets sehr galant mit ihr und hätte sie nie so gehen lassen.

Achteten Sie auf die Kleidung der Frau Van Burnam?

Ja! So etwas beachten wir Frauen meistens!

Erinnern Sie sich der Kleidung so genau, daß Sie sie beschreiben könnten?

Ich glaube ja.

Wie sah also das Kleid aus, das Frau Van Burnam anhatte, als sie zur Stadt fuhr?

Es war ein reich garniertes Kleid aus schwarz-weiß karrierter Seide – –

Nun, was war das? Wir hatten etwas ganz anderes erwartet! bemerkte der Coroner.

Es war sehr elegant gearbeitet. Sie trug weder Mantel noch Kragen, was mir unvorsichtig schien, weil die Witterung im September oft plötzlich umschlägt.

Also ein karriertes Kleid! Und wie war der Hut?

O, den Hut kannte ich, den trug sie öfters. Er war das reinste Farbenkästchen. Früher nannte man solche Hüte geschmacklos. Heutzutage aber – –

Sie schüttelte den Kopf. Im Saal begannen einige Männer zu lachen. Die Frauen schwiegen wohlweislich. Ich lachte auch nicht, denn ich dachte an den Hut, den Herr Gryce gefunden hatte, und der wohl auch als das reinste Farbenkästchen bezeichnet werden konnte.

Würden Sie den Hut wiedererkennen?

Ganz bestimmt!

Der Coroner richtete noch einige Fragen an Miß Fergusson betreffs der Handschuhe und der Schuhe, die Frau Van Burnam trug. Die Handschuhe hatte sie nicht gesehen. Die Schuhe, meinte sie, müßten elegante, schmale, fast spitze Schuhe gewesen sein, da Frau Van Burnam immer nach der neuesten Mode gekleidet ging und solche Schuhe augenblicklich in New York Mode waren.

Hiermit war nun auch ihr Verhör beendet. Im Saal herrschte große Aufregung darüber, daß die Kleidung der Toten mit der eben beschriebenen keine Aehnlichkeit hatte. Nur der Coroner schien nicht erstaunt zu sein.

*


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