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Drittes Kapitel.

Nach meiner Unterredung mit Mr. Gryce zog ich mich in ein kleines, ganz hinten gelegenes Zimmer zurück. Ich suchte mir einen recht bequemen Lehnsessel, um mich ganz der Fülle meiner Gedanken hingeben zu können. Ich wußte, daß dringende Arbeiten in meinem Haushalt hätten erledigt werden müssen, aber meine Gedanken konnten sich nicht von den Einzelheiten dieser Tragödie losreißen. Ich war überzeugt, daß ich eine Reihe anscheinend geringfügiger Tatsachen bemerkt hatte, die zu überraschenden Schlüssen führen konnten. Ich begann daher, meine Gedanken darüber auf der Rückseite einer Rechnung, die ich in meiner Tasche fand, in drei Kolumnen niederzuschreiben.

Erstens: War der Tod dieser Frau die Folge eines Unfalls?

Zweitens: Standen wir vor einem Selbstmord?

Drittens: War sie ermordet worden?

Zur ersten Frage notierte ich: Gründe gegen die Annahme eines Unfalls:

1. Wäre der Kasten zufällig auf die Frau herabgefallen, das heißt, hätte sie ihn versehentlich auf sich herabgerissen, so wären ihre Füße nach der Wand zu gerichtet gewesen, an der der Kasten stand. Nun aber waren ihre Füße der Tür zu gerichtet, und der Kopf lag unter dem Kasten.

2. Ihre Röcke waren sorgfältig über ihre Füße gebreitet; schon allein dadurch mußte die Annahme eines Unfalls ausgeschaltet werden.

Zur zweiten Frage notierte ich: Grund gegen die Annahme eines Selbstmordes:

Sie hätte sich selbst, noch lebend, in diese Lage bringen müssen. Wie aber hätte sie dann den Kasten umgeworfen?

Zur dritten Frage schrieb ich: Grund gegen die Annahme eines Mordes:

Man hätte die Frau am Boden festhalten müssen, bis der Kasten auf sie herabfiel. Dazu verriet aber der Ausdruck der Hände und die Lage der Füße zu wenig einen vorausgegangenen Kampf.

1. Die Frau kam nicht allein ins Haus. Der Mann, der sie begleitete, verweilte nur zehn Minuten darin; er verließ es in fluchtartiger Hast.

2. Bei der Ankunft des Paares war die Tür versperrt gewesen; nach dem Fortgang des Mannes blieb sie nur eingeklinkt. Er konnte also ohne weiteres wieder hineingehen, tat es aber nicht.

3. Die Röcke der Frau wurden anscheinend nach ihrem Tode sorgfältig zurechtgezogen.

Aus all dem konnte man noch lange nicht klar sehen; überall waren Einwände möglich. Und doch neigte ich schon jetzt zur Annahme eines Mordes.

Geraume Zeit verstrich, ehe man mich zum Verhör holte. Mittlerweile war es drei Uhr geworden; ich war nur froh, daß ich, bereits ehe ich in den Garten hinabgestiegen war, mein zweites Frühstück eingenommen hatte.

Der Coroner stand mit mehreren Herren, darunter auch Gryce, im Empfangszimmer. Der Detektiv schien so aufgeregt, daß ich annahm, die Angelegenheit hätte für ihn bedeutend an Interesse gewonnen.

Ah, das ist wohl die Frau? fragte der Coroner, als ich eintrat.

Ich bin Miß Butterworth, antwortete ich reserviert.

.

Amelia Butterworth. Ich wohne nebenan, und war bei der Auffindung der Ermordeten zugegen!

Der Ermordeten? wiederholte der Coroner. Warum sagen Sie ermordet?

Ich reichte ihm meine Notizen und sagte nur: Hier, lesen Sie, bitte!

Ganz verblüfft nahm er den Zettel in die Hand, warf mir einige erstaunte Blicke zu und begann zu lesen. Als er damit zu Ende war, warf er mir einen eigentümlichen, bewundernden Blick zu und reichte den Zettel dem Detektiv.

Mr. Gryce hatte seinen Porzellanscherben jetzt mit einem ganz abgenutzten und zerbissenen Bleistift vertauscht. Er runzelte auf komische Weise die Stirn gegen sein Spielzeug, steckte es dann in seine Tasche und begann schließlich, meine Bemerkungen zu lesen.

Mit verschmitztem Lächeln bemerkte der Coroner: Nun treten gar zwei Konkurrenten auf. Ich fürchte, gegen diese vereinten Kräfte muß ich unterliegen. Miß Butterworth, man wird jetzt die Leiche freilegen. Fühlen Sie sich stark genug, den Anblick zu ertragen?

Darauf erwiderte ich: Im Dienste der Gerechtigkeit kann ich alles ertragen.

Um so besser. Setzen Sie sich also und warten Sie, bis ich Sie rufe.

Er trat vor und befahl, das um den Körper herumliegende zerbrochene Porzellan wegzuräumen. Unter den Scherben war auch eine Uhr; als man sie aufhob und auf den Kamin legte, bemerkte jemand: »Die würde einen wertvollen Zeugen abgeben, wenn sie gegangen wäre, als der Kasten umfiel!«

Niemand antwortete, da alle wußten, daß niemand sie seit Monaten aufgezogen haben konnte. Mr. Gryce schaute nicht einmal auf. Wir anderen aber hatten gesehen, daß die Zeiger auf zehn Minuten vor fünf Uhr standen.

Man hatte mich zwar aufgefordert, Platz zu nehmen, allein das war mir nicht möglich. Ich war neben den Detektiv getreten und spähte nach der Leiche, deren Gesicht jetzt endlich sichtbar wurde.

Der Coroner blickte mich eindringlich an, deutete auf die Leiche und fragte:

Ist das die Frau, die Sie in letzter Nacht hier eintreten sahen?

Ich blickte auf das Kleid, sah den kleinen Kragen, den sie mit einer großen Schleife um den Hals gebunden trug, und nickte: Ich erinnere mich, den Kragen bemerkt zu haben. Aber wo ist der Hut? Sie trug einen Hut. Ich will versuchen, ihn zu beschreiben. Ich schloß die Augen und bemühte mich, mir die Silhouette der Frau zurückzurufen, die ich in der Nacht hatte vorbeihuschen sehen; es gelang mir so gut, daß ich schon im nächsten Augenblick mit Bestimmtheit erklären konnte, der Hut habe wie ein weicher Filzhut ausgesehen und sei mit einer Feder oder einer großen Bandschleife seitlich garniert gewesen.

Dann ist die Identität der Toten mit der Frau, die Sie gestern eintreten sahen, festgestellt, sagte der Detektiv. Er hatte sich gebückt und unter dem Körper der Toten einen Hut hervorgezogen, der genau so war, wie ich ihn beschrieben hatte.

Als ob da überhaupt ein Zweifel möglich wäre! begann ich. Doch einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte ich die Hand nach dem Hute aus. Lassen Sie mich etwas sehen! bat ich.

Mr. Gryce gab mir den Hut sofort, und ich untersuchte ihn sorgfältig innen und außen. Er ist nicht schlecht zerdrückt, sagte ich, und sieht nicht recht neu aus, aber doch ist er nur ein einziges Mal getragen worden.

Woran erkennen Sie das? fragte der Coroner.

Lassen Sie sich das von meinem Konkurrenten sagen! bemerkte ich und gab den Hut Mr. Gryce zurück. Ich kümmerte mich wenig um das aufsteigende Gemurmel des Aergers oder des Spottes, das um mich laut wurde, denn ich hatte wieder etwas Neues entdeckt.

Auch das Kleid ist nicht oft getragen worden, begann ich wieder. Von den Schuhen kann man das freilich nicht behaupten. Sie sind nicht alt, aber sie haben schon oft die Straßen berührt, was von dem Rockrand nicht gesagt werden kann. Handschuhe hat sie nicht an, folglich verstrichen einige Minuten, ehe sie angefallen wurde; sie hatte Zeit gehabt, sie abzulegen.

Vorzüglich! flüsterte eine Stimme neben mir, eine halb sarkastische, halb bewundernde Stimme, die nur Herrn Gryce gehören konnte. Sind Sie denn aber sicher, daß sie Handschuhe anhatte?

Nun, eine so feingekleidete Dame trägt stets Handschuhe.

Die Nacht war sehr warm, warf jemand ein.

Das tut nichts. Man wird die Handschuhe schon noch finden. Und die Handschuhfinger werden gewiß mit der Innenseite nach außen gekehrt sein, noch genau so, wie sie abgestreift wurden; das ist die einzige Konzession, die ich der Hitze dieser Nacht mache.

Etwa wie diese hier? unterbrach mich eine ruhige Stimme.

Ich zuckte zusammen, denn im gleichen Augenblick streckte sich eine Hand über meine Schulter vor und hielt ein Paar Handschuhe vor meine Augen. Mit triumphierendem Ausdruck rief ich: Ja, ja, genau so! Haben Sie sie hier gefunden? Sind das die Handschuhe der Ermordeten?

Sie behaupten, ihre Handschuhe müßten so aussehen?

Ja, das behaupte ich.

Ich muß Ihnen wirklich meine Bewunderung ausdrücken. Die Handschuhe sind hier gefunden worden.

Aber wo denn? Ich hatte doch schon auf dem Teppich gesucht.

Der Detektiv lächelte die Handschuhe an, und ich merkte bestürzt, daß er aus mir herauszog, was er nur wollte. Nun war ich gewarnt und sagte abweisend: Das hat übrigens weiter keine Bedeutung; die Untersuchung wird schon noch alles zutage bringen.

Mr. Gryce nickte, steckte die Handschuhe wieder in seine Tasche und erwiderte: All das wurde schon festgestellt, ehe Sie eintraten.

Während dieser ganzen Unterredung kniete der Arzt neben der Leiche. Jetzt stand er auf und sagte:

Ich muß bitten, daß man noch einen Arzt herbeiholt. Wollen Sie einen Gerichtsarzt kommen lassen, Herr Coroner?

Der Coroner wandte sich erst zu mir: Uebermorgen wird in meinen Amtsräumen das Verhör stattfinden. Sie werden sich einfinden müssen, denn Sie sind uns ein besonders wichtiger Zeuge. Bitte, halten Sie sich frei!

Ich versicherte, daß ich mich einfinden würde, und folgte dann seinem mit der Hand gegebenen Wink, das Zimmer zu verlassen. Aber das Haus verließ ich darum noch nicht.

An dem Türpfosten der Halle lehnte ein schlanker, lebhafter junger Mann, in dessen kleinem Kopf die Augen hell funkelten. Als er meiner ansichtig wurde, eilte er mir entgegen.

Sie sind Miß Butterworth? fragte er.

Jawohl!

Ich bin Reporter der New York World. Wollen Sie mir erlauben – –?

Warum sprach er nicht weiter? Ich hatte ihn bloß angesehen, und schon hielt er inne. Er war augenscheinlich so verwirrt, daß er nicht fortfahren konnte. Das will bei einem Reporter der New Jork World etwas heißen. »Ich will Ihnen gern erzählen, was ich auch allen anderen über diese Sache mitgeteilt habe,« erklärte ich. Und so erzählte ich ihm alles, was ich für gut hielt, daß es an die Oeffentlichkeit gelangte.

Nun aber war die Reihe des Fragens an mir, und ich erkundigte mich, ob man beabsichtigte, die Tote nachts über im Hause zu lassen. Er antwortete, daß ein Telegramm an den jungen Herrn Van Burnam gesandt worden war; man wartete wahrscheinlich nur auf seine Ankunft, um die Leiche dann fortzuschaffen.

An Howard Van Burnam? fragte ich.

Ist das der Aeltere?

Nein!

Der Aeltere wurde benachrichtigt. Er wohnt in Long Branch.

Wie kann man ihn dann aber schon jetzt erwarten?

Er weilt in der Stadt. Der alte Van Burnam soll mit dem heute einlaufenden Schnelldampfer »New York« zurückkehren. Sein Sohn ist ihm daher entgegengefahren.

Nun, das konnte ja heute hier noch schön werden! dachte ich, und jetzt fiel mir ein, wie dringend meine Anwesenheit zu Hause nötig war. Ich mußte noch Anordnungen zum Abendbrot geben, die Vorhänge sollten gewechselt werden, und manches andere. Ich wollte nun wirklich gehen, als die Klingel so scharf ertönte, daß ich unwillkürlich stehen blieb.

»Ein neuer Zeuge, oder ein Telegramm für den Coroner,« flüsterte der Reporter.

Ein Polizist öffnete die Tür, und herein trat – Franklin Van Burnam. Er schien sehr erregt, sein Gesicht war hochrot. Er warf noch einen ärgerlichen Blick nach rückwärts, als ob er die Volksmenge vernichten wollte, die ihn an der Schwelle seines Vaterhauses so bedrängte. Durch die geöffnete Tür sahen wir einen mit Gepäck beladenen Wagen, der auf der anderen Seite der Straße hielt. Er war also nicht allein gekommen.

Was ist geschehen? Was bedeutet das alles? rief er, sobald die Tür wieder geschlossen war und er sich den fremden Menschen in seinem Hause gegenüber sah.

Mr. Gryce, der plötzlich irgendwoher auftauchte, antwortete:

Ein sehr peinlicher Unfall hat sich zugetragen. Ein junges Mädchen wurde hier im Hause tot aufgefunden, von einem umgefallenen Kasten erdrückt.

Ein junges Mädchen? wiederholte er. In dem verschlossenen Hause? Was für ein Mädchen? Sie meinen wohl eine alte Frau? Die Aufwartefrau – –

Nein, Herr Van Burnam, ich meine es so, wie ich es sage. Das heißt, eigentlich müßte ich sagen: eine junge Dame. Sie ist elegant gekleidet. Sie liegt noch da, wo wir sie gefunden haben. Wollen Sie sie nicht sehen? Vielleicht könnten Sie uns sagen, wer die Tote ist?

Ich? Herr Van Burnam schien geradezu verletzt zu sein. Wie sollte ich sie kennen? Es wird wohl eine Diebin sein, die die Möbel durchwühlt hat und dabei verunglückte.

Vielleicht, sagte Herr Gryce lakonisch.

Diese bewußte Irreführung empörte mich so, daß ich aus meinem vorsätzlichen Schweigen heraustrat und heftig erklärte: »Wie können Sie das sagen, wo Sie wissen, daß ein junger Mann sie hereinführte und sie dann verließ?«

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine solche Sensation erregt. Augenblicklich waren alle Augen auf mich gerichtet, ausgenommen die des Detektivs. Der schaute bitterböse auf eine Figur oben auf dem Türsims. Sein Blick wurde jedoch wieder heiter, als Franklin sich auf mich stürzte und erregt fragte:

Wer hat das gesagt? Was, Sie sind's, Miß Butterworth? Habe ich Sie recht verstanden?

Ich wiederholte meine Worte ruhig und deutlich; Herr Gryce runzelte wieder die Brauen gegen die Bronzefigur, die er nun zur Vertrauten erwählt hatte. Herrn Van Burnams Haltung und Benehmen aber veränderten sich ganz. Zwar hielt er sich nach wie vor steif und gerade, aber nicht mehr so herausfordernd. Sein Wesen drückte Eile und Ungeduld aus, aber nicht dieselbe Ungeduld wie früher. Herrn Gryces Mundwinkel belehrten mich, daß die Veränderung auch ihm aufgefallen war, obgleich er keinen Blick von seiner Figur verwandt hatte.

Sie erzählen mir etwas sehr Sonderbares, sagte Herr Van Burnam endlich und verneigte sich vor mir. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Dennoch nehme ich an, die Frau ist nur eine Diebin. Ermordet, sagten Sie? Ist sie wirklich tot? Nun wahrlich, ich gäbe fünfhundert Dollar darum, wäre es nicht in unserem Hause geschehen.

Er wandte sich und ging nach dem Empfangszimmer. Mr. Gryce war sofort an seiner Seite.

Werden sie die Tür schließen? flüsterte ich dem Reporter zu, der wie ich alles genau verfolgte.

Ich fürchte ja, war seine ebenso leise Antwort.

Die Tür wurde wirklich geschlossen. Mr. Gryce hatte augenscheinlich meine Einmischung satt bekommen und wollte mich nun ausschließen; doch ehe die schwere Tür ins Schloß fiel, konnte ich noch einen Blick auf Franklin Van Burnams Gesicht werfen und seine Worte vernehmen: »Oh, die ist ja schrecklich entstellt! Die kann niemand erkennen –« Sein Blick aber belehrte mich, daß er viel erregter war, als er sehen lassen wollte.

*


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