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Fünftes Kapitel.

Ich brachte die Damen Van Burnam in meinem Fremdenzimmer unter und bat sie, in meinem nach der Straße liegenden Salon zu verweilen, solange es etwas Interessantes auf der Straße zu sehen gab. Ich dachte, sie würden gern heraussehen, und da mein Salon ein großes Mittelfenster und zwei kleine Seitenfenster hat, konnten wir alle es uns bequem machen. Außerdem konnte ich von meinem Platz auch hin und wieder vernehmen, was sie miteinander sprachen.

Herr Van Burnam und sein Sohn waren in ihr Haus zurückgekehrt, und es wurden nun, wie es schien, Vorbereitungen getroffen, die Tote wegzuführen. Die Menge unter unseren Fenstern, die alle Augenblicke von Polizisten zerstreut wurde, sich aber immer wieder zusammenschloß, murrte, weil ihre Erwartung immer wieder getäuscht wurde. Dazwischen hörte ich Carolinens Stimme:

Man scheint Howard nicht gefunden zu haben, sonst wäre er schon hier. Hast du sie damals gesehen, als wir von Clarks kamen? Fanny Preston hat sie gesehen und sagt, sie sei recht hübsch.

Nein, ich konnte sie nicht sehen – – Von der Straße stieg neues Gemurmel auf. Ich konnte erst wieder die Worte unterscheiden: Ich kann es nicht glauben, aber Franklin ist schrecklich erschrocken – –

Sprich leiser, sonst hört uns die alte Hexe – – »Hexe« hatte ich deutlich vernommen; die weiteren Worte erstickte wieder der Straßenlärm. Etwas später sagte die äußerst erregte und zitternde Caroline: Wenn sie es wirklich ist, kommt Papa nie darüber fort. Daß sie gerade in unserm Haus den Tod finden mußte! Ah, da ist ja Howard!

Beide schrien und riefen und winkten, als wollten sie sich Howard bemerkbar machen und ihn warnen.

Ich konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit auf Howard. Er war in einem Wagen gekommen, der auf der anderen Seite halten mußte, weil vor dem Haus seines Vaters ein Ambulanzwagen hielt. Ich hätte ihn gern aussteigen sehen, um seine Gestalt mit der Silhouette dieser Nacht vergleichen zu können. Aber er stieg nicht aus. Als er die Hand an den Wagenschlag legte, traten sechs Männer auf die Freitreppe des Van Burnamschen Hauses. Sie trugen eine Last, die sie rasch in den Ambulanzwagen hineinlegten. Als Howard sie sah, sank er zurück und sein Gesicht wurde kreidebleich.

Franklin Van Burnam war zugleich mit den Trägern auf die Freitreppe getreten; als er Howards ansichtig wurde, stieg er rasch die Stufen hinab und versuchte, durch die Menge zu seinem Bruder zu gelangen; er wurde aber aufgehalten.

Herr Gryce hatte mehr Erfolg. Mühelos bahnte er sich einen Weg durch die Menge, stand bald neben dem Wagen und wechselte einige Worte mit Howard. Dann gab er dem Kutscher einen Befehl, stieg zu Howard in den Wagen, und sie fuhren fort. Der Ambulanzwagen folgte; der größte Teil der Menge eilte nach, und als die Straße frei wurde, schlug auch Herr Van Burnam mit seinem Sohn Franklin den gleichen Weg ein.

Nur wir drei Frauen blieben zurück, und zwar in einer solchen Erregung, daß eine von uns, nämlich Caroline, einen Nervenanfall bekam. Isabella und ich hatten wohl eine halbe Stunde mit ihr zu tun, bis sie wieder ihren normalen Zustand erlangt hatte. Nun fand Isabella es an der Zeit, ihre Ohnmacht zu bekommen. Ich aber merkte, daß sie es bloß ihrer Schwester nachmachen wollte, und hielt sie durch einige strenge Worte und Blicke zurück. Als beide sich wieder beruhigt hatten, erlaubte ich mir eine kleine Bemerkung: Man möchte meinen, daß Sie die junge Frau kannten, die da bei Ihnen ermordet wurde?

Isabella schüttelte heftig den Kopf, und Caroline sagte: Die Erregung war zu groß für mich. Ich bin überhaupt schwächlich, und diese Heimkehr war doch wirklich zu schrecklich. Wann wird nur Vater und Franklin zurückkommen? Es ist nicht schön von ihnen, so ohne ein Wort der Beruhigung fortzugehen.

Sie nahmen wohl nicht an, daß das Schicksal dieser unbekannten Frau Ihnen irgendwie nähergehen würde, warf ich hin.

Die ihrer äußeren Erscheinung wie ihrem Wesen nach gänzlich verschiedenen Schwestern wurden bei diesen Worten gleich verlegen, schlugen die Augen nieder und benahmen sich so sonderbar, daß der Mord mir immer geheimnisvoller erschien.

Im Laufe des Abends kam ihr Vater zurück. Erschien sehr niedergeschlagen und hatte seine selbstbewußte Haltung ganz verloren. Er hielt ein zerknülltes Telegramm in der Hand und begann sogleich, sehr rasch zu sprechen. Da er seine Worte nicht an mich richtete, mußte ich wohl oder übel den Damen Gute Nacht wünschen und mich zurückziehen, ohne etwas Neues über das interessante Drama erfahren zu haben. Die anderen aber wußten mehr als ich.

Wie ich später erzählen hörte, hatte sich eine äußerst bewegte Szene in der Leichenhalle abgespielt, wohin die Tote übergeführt worden war. Schon als Mr. Gryce zu Howard in den Wagen stieg, merkte er, daß der junge Mann aufs heftigste erschrocken war und seinen Schrecken gar nicht zu verbergen suchte. Noch hatte der Detektiv ihm nichts berichtet. Howard wußte nur, daß seit Mittag überall nach ihm gesucht wurde, um die Identität einer jungen Frau, die in seines Vaters Hause tot aufgefunden worden war, feststellen zu helfen. Das war alles, was er wissen konnte, und doch zeigte er keine Neugierde und kein Erstaunen. Erst gegen das Ende der Fahrt trat er aus seiner Schweigsamkeit heraus, um zu fragen:

Auf welche Weise tötete sich die junge Frau?

Mit leichtem Achselzucken und in höflich kaltem Ton antwortete der Detektiv:

Sie wurde unter einem schweren Möbel liegend aufgefunden; unter dem großen Kasten mit den vielen Vasen, der, wie Sie sich vielleicht entsinnen, zur Linken des Kamins im Empfangszimmer stand. Kopf und Brust waren eingedrückt. Ein ganz merkwürdiger Tod, nicht wahr? Aus meiner langjährigen Praxis erinnere ich mich nur eines einzigen ähnlichen Falles.

Ich glaube kein Wort von allem, was Sie mir da sagen, war die verwunderliche Antwort des jungen Mannes. Sie wollen mich erschrecken oder sich über mich lustig machen. Ich kann mir nicht denken, daß eine Dame der Gesellschaft auf den Gedanken kommt, sich auf solche Weise zu töten.

Ich sagte doch nicht, daß es eine Dame der Gesellschaft ist, antwortete Mr. Gryce, der sich innerlich über diesen ersten Sieg freute.

Der junge Mann erschauerte. Nein, flüsterte er, aber aus Ihrer Rede mußte ich entnehmen, daß es sich um keine gewöhnliche Frau handeln kann. Warum würden Sie sonst von mir verlangen, die Leiche zu besichtigen? Stehe ich denn in dem Ruf, mit anderen Frauen als wirklichen Damen zu verkehren? Sein Gesicht war bei diesen Worten dunkelrot geworden.

Entschuldigen Sie, bitte, entschuldigen Sie! Ich hatte keinen Hintergedanken. Wir haben Sie aufgefordert, wie wir auch Ihren Bruder und Ihren Vater aufgefordert haben, in die Leichenhalle zu kommen, um die Identität der Toten festzustellen. Wir dürfen nichts außer acht lassen, was uns irgendwie helfen könnte.

Und – mein Vater und mein Bruder – sie haben die Frau nicht erkannt?

Sie ist sehr schwer zu erkennen, wenn man sie nicht ganz genau kennt.

In Howards Gesicht war höchstes Entsetzen zu lesen. Jedenfalls war er ein Meister der Verstellungskunst, wenn sein Entsetzen nicht echt war. Sein Kopf sank auf die Rückenlehne des Wagens zurück; er schloß die Augen. Als er sie wieder aufschlug, hielt der Wagen.

Sind wir schon angekommen? fragte der junge Mann erschauernd. Ich wünschte, Sie hätten es nicht für nötig gehalten, daß ich sie sehe. Ich bin sicher, daß ich sie nicht erkennen werde.

Mr. Gryce verneigte sich, wiederholte, daß es nur Formsache wäre, und folgte dann Howard in das Haus und in den Raum, in dem die Leiche lag. Zwei Aerzte und einige Amtspersonen standen bei der Toten. Howard sah die Herren fragend an, ehe er den Blick nach der von Herrn Gryce angedeuteten Richtung wandte. Der Ausdruck der Gesichter dieser Herren hatte Howard wohl nicht beruhigt, denn er wandte sich brüsk um, ging in möglichst ruhiger Haltung durch den Raum und stellte sich neben den Detektiv.

Das Tuch, das die Leiche bedeckte, wurde zurückgeschlagen. Der junge Mann stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Wie ich mir's gedacht habe, – ich kenne diese Frau nicht! sagte er kalt.

Sein Seufzer hatte einen doppelten Widerhall, der von der Tür herzukommen schien. Howard sah sich um und erblickte seinen Vater und seinen Bruder. Mit gänzlich veränderter Haltung ging er auf sie zu.

Ich habe meine Erklärung abgegeben, sagte er. Wollt ihr, daß ich draußen warte, bis ihr die eurige abgegeben habt?

Wir haben bereits gesagt, was wir zu sagen hatten, erwiderte Franklin. Die Person ist uns unbekannt!

Natürlich, natürlich! stimmte Howard bei. Ich verstehe nur nicht, warum man glaubt, daß wir sie kennen sollen. Es handelt sich gewiß nur um einen ganz gewöhnlichen Selbstmord. Die Frau wird gedacht haben, das Haus sei unbewohnt. Wie aber kam sie hinein?

Wissen Sie es nicht? fragte Mr. Gryce. Habe ich vergessen, es Ihnen zu sagen? Sie wurde gestern nacht von einem mittelgroßen jungen Mann – – sein Auge musterte die schlanke Gestalt des Mannes vor ihm, – hineingeführt. Er ließ sie zurück, – er ging allein fort. Der junge Mann hatte einen Schlüssel – –

Einen Schlüssel? Franklin, ich –

Schwieg er, durch einen Blick Franklins gewarnt? Es ist möglich, denn er drehte sich rasch um, schüttelte mit beinahe fröhlicher Miene den Kopf und rief aus: Das ist ja übrigens gleichgültig! Das Mädchen ist uns ja fremd. Jetzt können wir uns wohl entfernen? Gehst du in den Klub, Franklin?

Ja, aber – Der ältere Bruder trat näher an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf Howard nochmals zu der Leiche trat. Als sein Vater das sah, perlte Angstschweiß auf seiner Stirn. Silas Van Burnam hatte bis jetzt nichts gesagt; er hatte nur jede Bewegung seines Sohnes mit ängstlicher Spannung verfolgt.

Die Hände der Toten waren unverletzt geblieben, und die Hände betrachtete Howard nun.

Die Hände sind ähnlich! stieß er leise und schwerfällig hervor. O Gott! sie sind sehr ähnlich! Aber die trägt ja keine Ringe. Sie trug fünf Ringe, mit dem Ehering!

Sprechen Sie von Ihrer Gattin? fragte da Mr. Gryce, der sich langsam genähert hatte.

Der junge Mann hatte sich überraschen lassen. Er wurde dunkelrot, antwortete jedoch unerschrocken und mit einem Anschein von Aufrichtigkeit:

Jawohl! Meine Frau verließ gestern Haddam. Sie wollte nach New York fahren. Seither habe ich sie nicht gesehen. Natürlich kam mir nun der Gedanke, daß sie das unglückliche Opfer sein könnte. Aber ich erkenne ihre Kleider nicht. Ihre Gestalt kann ich auch nicht erkennen. Nur die Hände schienen mir so bekannt.

Und die Haare?

Auch ihre Haare sind ähnlich. Aber diese Farbe kommt sehr häufig vor. Ich kann aus all dem nicht erkennen, ob es wirklich meine Frau ist.

Wir werden Sie wieder rufen, wenn der Arzt die Autopsie beendet haben wird, sagte Mr. Gryce. Vielleicht bekommen Sie unterdessen Nachricht von Ihrer Frau!

Dieser Einwurf beruhigte Howard nicht. Bleich und verstört trat er zurück. Vergeblich versuchte er, sich wieder die weltmännische Haltung zu geben. Seines Vaters Auge war zu forschend auf ihn gerichtet; er wurde wieder verwirrt. Nachdem er sich gesetzt hatte, brach er mit fieberhafter Lebhaftigkeit in die Worte aus:

Ihr Tod wäre mir auch wirklich ein Rätsel! Wir haben uns in letzter Zeit zwar oft gezankt, und ich habe wiederholt die Geduld verloren. Aber sich den Tod zu wünschen hatte sie keinen Grund. Und ich bin auch jetzt noch bereit, zu schwören – trotz dieser Hände, trotz Franklins Behauptung einer gewissen Aehnlichkeit – daß hier vor uns eine Fremde liegt, und daß ihr Unfall gerade in unserem Hause nur ein Zufall ist.

Nun, schon gut, wir wollen abwarten, beruhigte ihn Mr. Gryce. Wollen sich die Herren in das gegenüberliegende Zimmer begeben und mir Ihre Wünsche betreffs des Abendbrotes sagen? Ich werde dafür sorgen, daß Sie gut bedient werden.

Die drei Herren sahen keinen Grund, das Anerbieten abzulehnen und folgten daher dem Detektiv, der sie in ein anderes Zimmer führte.

*


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