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Neuntes Kapitel.

Am nächsten Morgen kam Mr. Gryce schon um neun Uhr zu mir.

Nun, was haben Sie mir über den Herrn der letzten Nacht mitzuteilen? begann er.

Aehnlich und nicht ähnlich, war meine Antwort. Nichts berechtigt mich, zu sagen, daß es der Mann ist, den wir suchen. Und doch möchte ich nicht beschwören, daß er es nicht ist.

Mit anderen Worten: Sie zweifeln?

Ja, ich zweifle!

Mr. Gryce verneigte sich, erinnerte mich noch an das Verhör und ging. Vom Hut wurde nicht gesprochen.

Punkt zehn Uhr betrat ich den zum Verhör bestimmten Saal. Bei meinem Erscheinen waren aller Augen auf mich gerichtet.

Der Coroner saß bereits auf seinem Platz. Herrn Gryce sah ich nicht; sicher aber war er in Hörweite. Die anderen Personen beachtete ich kaum, mit Ausnahme der braven Aufwartefrau, deren gerötetes Gesicht und ängstliche Augen bald hier, bald dort auftauchten und wieder verschwanden.

Die Van Burnams waren nicht zu sehen, aber ich vermutete sie in dem kleinen, dem Saal benachbarten Zimmer, dessen Tür hin und wieder geöffnet wurde.

Zuerst wurde der Polizist Carroll vernommen. Er erzählte, wie ich ihn angehalten hatte, und wie er mit der Aufwartefrau das Haus der Van Burnams durchsucht hatte.

Dann folgte die Aufwartefrau, Frau Boppert; ich wandte kein Auge von ihr. Ihr Benehmen war wieder sehr verdächtig. Sie zuckte zusammen, als ihr Name genannt wurde, und als man ihr die Bibel hinhielt, sah sie ganz erschrocken drein. Gleichwohl leistete sie den Eid. Nun erst begann das ernsthafte Verhör.

Wo wohnen Sie? Was ist Ihre Beschäftigung? fragte der Coroner.

Ich bin Aufwartefrau und gehe in verschiedene Häuser, die Zimmer reinmachen, antwortete sie ohne zu zögern. Als sie aber geendet hatte, nahm sie eine so trotzige Miene an, daß sie eigentlich einem jeden hätte verdächtig erscheinen müssen. Aber niemand schien etwas anderes darin zu sehen, als die Verlegenheit einer einfachen, biederen Frau.

Seit wann kennen Sie die Familie Van Burnam? fuhr der Coroner in seinem Verhör fort.

Nächste Weihnachten werden es zwei Jahre.

Haben Sie oft bei ihnen gearbeitet?

Nur zweimal jedes Jahr. Ich half beim großen Reinmachen, im Herbst und im Frühling.

Was wollten Sie vor zwei Tagen in dem Hause?

Ich wollte noch den Küchenboden aufwaschen und die Speisekammer aufräumen.

Hatten Sie den Auftrag dazu erhalten?

Ja, Herr Franklin Van Burnam schrieb mir einen Brief.

War es der erste Tag, an dem Sie in das Haus gingen?

Nein, ich hatte den ganzen Tag vorher schon dort aufgeräumt.

Sie sprechen nicht laut genug, ermahnte der Coroner. Denken Sie daran, daß alle, die hier im Zimmer sind, Ihre Worte verstehen sollen.

Sie schaute auf und warf einen erschreckten Blick über die Anwesenden. Von jetzt ab waren ihre Antworten noch leiser.

Woher hatten Sie den Hausschlüssel, und durch welche Tür gingen Sie hinein?

Durch die Seitentür. Den Schlüssel gab mir der Hausverwalter in Dey Street. Ich holte ihn dort ab; sonst schickte man mir den Schlüssel.

Dann erzählte sie noch alles, was wir ohnehin schon wußten. Weitere Fragen wurden nicht an sie gerichtet, und ich mußte untätig zusehen, wie sie auf ihren Platz zurückging, mit noch röterem Kopfe als vorher, aber mit einem sonderbar befriedigten Ausdruck, als ob sie nicht erwartet hätte, so leichten Kaufes davonzukommen. Und dabei hatte ich doch Herrn Gryce aufmerksam gemacht.

Nun wurde der Arzt verhört. Sein Zeugnis war von der größten Bedeutung. Mich überraschte es jedenfalls außerordentlich. Nach den Einleitungsfragen wollte man wissen, wie lange die Frau bereits tot war, als er dazu kam.

Mehr als zwölf und weniger als achtzehn Stunden, war die gelassene Antwort.

War die Leichenstarre bereits eingetreten?

Nein, aber das geschah bald darauf.

Haben Sie die Wunden untersucht, die der umgestürzte Kasten und das herabgefallene Porzellan verursachten?

Ich habe sie untersucht.

Bitte, beschreiben Sie sie.

Er tat es.

Und nun – – Der Coroner machte eine Pause, um die Bedeutsamkeit der Frage zu betonen, die nun folgte: Welche dieser Wunden war tödlich?

Der Zeuge war an eine solche Art des Verhörs, die aufs Effektmachen berechnet war, gewöhnt und benahm sich danach. Er blickte den Coroner fest aber respektvoll an, wandte sich hierauf zu den Geschworenen und sagte mit langsamer, überzeugter Stimme:

Ich bin meiner Sache sicher, daß keine von all diesen Wunden tödlich war. Die Frau wurde nicht durch den umstürzenden Kasten getötet.

Nicht durch den Kasten? Wieso nicht? War der Kasten nicht schwer genug, oder wurde die Frau nicht an einer vitalen Stelle verletzt?

Der Kasten war schwer genug, und er hätte die Frau beim Umstürzen töten können, wenn sie nicht bereits vorher schon tot gewesen wäre. So hat er bloß eine Leiche zerquetscht.

Bei dieser mit sicherer Stimme vorgebrachten Erklärung ging eine Bewegung durch die Anwesenden. Der Coroner beeilte sich, zu sagen:

Ihre Behauptung ist sehr schwerwiegend, Herr Doktor! Wenn die Frau nicht durch den umstürzenden Kasten getötet wurde, wie starb sie dann? Können Sie behaupten, daß ihr Tod ein natürlicher war, und daß der Kasten nur zufällig auf sie herabfiel?

Nein, der Tod war ein gewaltsamer. Sie wurde getötet, aber nicht durch den umfallenden Kasten.

Getötet? Und nicht durch den Kasten? Wodurch denn? Haben Sie noch eine andere Wunde an ihrem Körper gefunden, die tödlich war?

Jawohl! Ich hatte gleich den Verdacht, daß sie auf eine andere Weise ums Leben kam, als es den Anschein hatte, und so untersuchte ich die Leiche äußerst genau. Am Nacken, unterm Haaransatz, entdeckte ich einen winzigen Fleck. Als ich ihn genauer untersuchte, fand ich die abgebrochene Spitze eines langen, dünnen Stahlinstruments. Mit sicherer Hand wurde diese Spitze in die verwundbarste Stelle des menschlichen Körpers hineingestoßen. Der Tod erfolgte augenblicklich!

Eine allgemeine Erregung bemächtigte sich der Anwesenden; aber die Erregteste von allen war ich. Also nicht ins Herz getroffen, sondern in den Nacken! Als wieder Ruhe eintrat, setzte der Coroner mit noch ernsterer Stimme das Verhör fort.

Gehört diese vorgefundene Stahlspitze zu irgendeinem chirurgischen Instrument?

Nein, der Stahl war nicht hart genug, um von einem chirurgischen Instrument herzurühren. Es war ganz gewöhnlicher Stahl, der leicht abbrechen mußte. Ich habe auch nur die Spitze gefunden.

Haben Sie diese Spitze hier?

Hier ist sie! Er reichte die Spitze den Geschworenen.

Als sie von Hand zu Hand ging, fragte der Coroner: Können Sie uns sagen, wieviel Zeit zwischen dem Augenblick des Mordes und den durch das Umfallen des Kastens verursachten Verwundungen verstrichen ist?

Nicht ganz genau; aber es verstrich eine geraume Zeit!

Eine geraume Zeit? Der Mörder verweilte doch nur zehn Minuten im Hause? Alle sahen sehr erstaunt drein, und der Coroner, der die Gedanken der Menge erraten hatte, fragte noch:

Mehr als zehn Minuten?

Der Arzt zögerte nicht mit der überzeugten Antwort: Jawohl, mehr als zehn Minuten!

Diese Erklärung war ein Schlag für mich. Aber da fiel mir ein, was die Uhr mir enthüllt hatte. Kein Muskel zuckte in meinem Gesicht. Ich hatte Selbstbeherrschung gelernt.

Diese Aussage kommt unerwartet, bemerkte endlich der Coroner. Welche Gründe haben Sie zu dieser Annahme?

Ganz gewöhnliche und den Aerzten geläufige Gründe. Es war viel zu wenig Blut zu sehen, als daß die Wunden nur wenige Minuten nach dem Tode entstanden sein konnten; die Wunden waren zahlreich und recht schwer; es hätte sich ein wahrer Blutstrom ergießen müssen. Der erste Verdacht kam mir eben dadurch, daß ich so wenig Blut sah. Das war, noch ehe ich die tödliche Wunde gesehen hatte.

Ja, jetzt verstehe ich, weshalb Sie einen zweiten Arzt verlangten, ehe die Leiche fortgeschafft wurde.

Natürlich. Ich wollte mein Urteil in einem so schwerwiegenden Falle bestätigt sehen.

Wie heißt dieser zweite Arzt?

Doktor Campbell; er wohnt Lexington Avenue Nr. 100.

Ist der Herr anwesend?

Jawohl!

Gut, ich werde ihn später vernehmen. Sie erklären also, daß Ihre Schlüsse die logische Folgerung aus absolut feststehenden, allgemein gültigen Tatsachen sind?

Gewiß!

Eine ziemlich lange Pause folgte diesen Worten. Endlich fragte der Coroner weiter:

Durch Ihre Erklärung wird die Affäre noch komplizierter; aber wir dürfen den Mut nicht verlieren. Sagen Sie bitte noch, ob Sie irgendwelche Kennzeichen am Körper fanden, die zu einer Identifizierung führen könnten.

Am linken Knöchel habe ich eine kleine Narbe gefunden.

Beschreiben Sie die Narbe.

Es ist eine Narbe, wie sie nach Brandwunden zurückbleibt. Sie ist lang und schmal, und geht vom Knöchel das Bein hinauf.

Machten Sie jemanden auf die Narbe aufmerksam?

Ja! Ich zeigte sie Herrn Gryce, dem Detektiv, und meinem Kollegen. Ich sprach auch zu Herrn Howard Van Burnam davon.

Und warum sprachen Sie gerade zu Herrn Howard Van Burnam davon?

Herr Gryce bat mich darum. Die Familie Van Burnam und Herr Howard selbst hatten gefürchtet, die Tote könnte Herrn Howards Gattin sein, die am Tage vor dem Morde das Haus ihres Gatten verlassen hatte.

Und gab Herr Van Burnam zu, daß seine Frau eine solche Narbe am Fuß habe?

Er sagte, sie habe eine ähnliche Narbe. Aber er erkannte in der Toten nicht seine Frau.

Hat er die Narbe gesehen?

Nein, er wollte sie nicht sehen!

Hatten Sie ihn dazu aufgefordert?

Ja, aber er zeigte kein Interesse dafür.

Wieder machte der Coroner eine Pause von einigen Minuten, ehe er fortfuhr. Er wußte, daß Schweigen die Bedeutsamkeit dieser Tatsache am schärfsten hervorheben mußte. Aber es herrschte kein Schweigen. Von allen Seiten tönte unterdrücktes Murmeln.

Herr Doktor, sagte der Coroner, als das Geräusch sich etwas gelegt hatte, haben Sie auf die Haarfarbe der Toten geachtet?

Das Haar war hellbraun!

Haben Sie eine Strähne abgeschnitten? Können Sie sie uns zeigen?

Ja, Herr Gryce forderte mich dazu auf. Ich schnitt zwei kleine Locken ab. Die eine gab ich ihm, und hier ist die andere.

Der Arzt reichte die Locke dem Coroner. Dieser befestigte vor unseren Augen ein Etikett daran. Um jeden Irrtum zu vermeiden, erklärte er sein methodisches Vorgehen. Dann legte er die Locke auf den Tisch vor sich hin und wandte sich nochmals zum Arzt:

Herr Doktor, wir sind Ihnen für Ihr bedeutungsvolles Zeugnis sehr dankbar. Da Sie gewiß viel zu tun haben, will ich Sie nicht länger aufhalten. Doktor Campbell trete vor!

Der neue Zeuge bestätigte nur die Aussagen des früheren. Es wurde daher als feststehend angenommen, daß der Kasten erst einige Zeit nach eingetretenem Tod auf die Frau herabgestürzt war.

Für mich war nun das wichtigste, zu erfahren, um welche Stunde der Kasten umgefallen sein mochte, und ob man sich dabei der Uhr erinnern würde.

*


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