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Zweites Kapitel.

Ich hörte, wie die lärmende Menge draußen zum Tor drängte, doch meine Aufmerksamkeit wurde dadurch nicht abgelenkt; mir fiel auf, daß das Tor nicht versperrt war; ich drückte die Klinke nieder, und es öffnete sich. Ich unterschied draußen eine schreiende Menge und die Gestalten zweier Herren, die auf den Stufen vor dem Tor standen und auf Einlaß warteten. Ich runzelte die Stirn gegen die Menge und lächelte den Herren zu. Der eine war ziemlich beleibt und hatte ein gutmütiges Gesicht, der andere aber war hager und sah sehr streng aus. Aus einem mir unbekannten Grunde schien aber keiner von beiden die ihnen durch mich erwiesene Ehre zu schätzen, denn sie warfen mir nur einen unfreundlichen Blick zu.

Haben Sie vorhin aus dem Fenster um Hilfe gerufen? fragte der Dicke.

Ja, ich habe gerufen, antwortete ich mit unerschütterlicher Ruhe. Ich wohne nebenan, und ich bin nur deshalb hier, weil ich meinen Nachbarn stets ein lebhaftes Interesse bezeige. Ich hatte mit Recht angenommen, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Doch sehen Sie selbst!

Die Herren standen schon auf der Schwelle des Empfangszimmers. Ich folgte ihnen auf dem Fuße. Sie mußten wohl beide an den Anblick entsetzlicher Dinge gewöhnt sein, denn sie zeigten keinerlei Erregung.

Ich dachte, dieses Haus sei unbewohnt! sagte der Hagere, der augenscheinlich Arzt war.

Jawohl, bis gestern abend, warf ich ein; und schon wollte ich meine Erzählung beginnen, als ich fühlte, wie jemand an meinem Rock zerrte. Ich drehte mich um und sah die Aufwartefrau hinter mir stehen.

Was wollen Sie denn? fragte ich, denn ich wußte nicht, weshalb ich etwas verheimlichen sollte.

Ich? antwortete sie bestürzt, ich will ja nichts.

So unterbrechen Sie mich nicht, sagte ich barsch, denn durch ihr Gebaren konnte noch ich in verdächtigem Licht erscheinen. Dann erklärte ich: Diese Frau kam heute her, um das Haus zu reinigen. Mit ihrem Schlüssel konnten wir ins Haus herein. Ich habe früher nie mit ihr gesprochen!

Mit einer Schlauheit, die ich einer so einfachen Frau nie zugetraut hätte, suchte sie jetzt die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem sie auf die Tote deutete und lebhaft rief:

Aber die arme Kleine! Wollt Ihr denn noch immer nicht das Zeugs da aufheben? Ihr seid schlecht, sie so erdrücken zu lassen! Vielleicht ist sie noch nicht tot!

O, da ist keine Hoffnung mehr, murmelte der Doktor, der eine Hand der Toten ergriffen und wieder fallen gelassen hatte. Aber es wäre schon gut, wenn der Kasten aufgehoben würde, damit ich die Leiche untersuchen kann, fügte er mit einem fragenden Blick auf seinen Gefährten hinzu. Der nickte zustimmend.

Der Kasten wurde etwas beiseite geschoben. Der Arzt beugte sich herab und legte seine Hand auf den eingedrückten Brustkorb. Kein Lebenszeichen, flüsterte er, sie ist schon vor einigen Stunden gestorben! Wollen wir nicht auch den Kopf freimachen? fragte er seinen Gefährten.

Dieser war von Minute zu Minute ernster geworden. Nach einer verneinenden Geste wandte er sich zu mir und fragte streng:

Was meinten Sie damit: das Haus sei bis gestern abend unbewohnt gewesen?

Genau das, was ich sagte. Bis gegen Mitternacht war es unbewohnt. Da kamen zwei Personen – – Wieder wurde an meinem Rock gezerrt, diesmal sehr vorsichtig. Was wollte die Frau? Ich wagte nicht, mich umzusehen, sondern zog nur unauffällig meinen Rock zurück. Dann trat ich einen Schritt beiseite und setzte meine Rede fort: Zwei Personen – ein Mann und eine Frau – kamen in einem Wagen angefahren und traten in dieses Haus ein. Ich sah sie von meinem Fenster aus.

Von Ihrem Fenster? murmelte der Fragesteller, der wohl ein Detektiv sein mußte. Und die Frau, die Sie sahen, liegt nun hier, nicht?

Nun, das nehme ich an. Wer sonst sollte sie denn sein? In der Nacht konnte ich freilich das Gesicht der Frau nicht erkennen. Aber sie schien mir jung zu sein und leichtfüßig. Sie lief augenscheinlich recht vergnügt die Freitreppe hinauf.

Und der Mann? Wo ist der Mann?

Der ist nicht hier. Ungefähr zehn Minuten nachdem er hereingegangen war, kam er wieder heraus. Mir war das aufgefallen und hatte mich gleich beunruhigt. Es schien mir sonderbar, daß ein Van Burnam eine Dame die ganze Nacht in einem so großen, unbewohnten Hause allein lassen könnte.

Kennen Sie die Van Burnams?

Nur ganz oberflächlich! Doch das tut nichts zur Sache. Ich kenne ihren Ruf. Sie sind Gentlemen.

Ist Herr Van Burnam nicht in Europa?

Ja, er hat aber zwei Söhne.

Leben die Söhne hier?

Nein! Der unverheiratete wohnt in Long Branch, und der andere lebt mit seiner Frau irgendwo in Connecticut.

Wie ist denn das Paar gestern in das Haus hineingekommen? Hat jemand sie hereingelassen?

Nein, der Herr schloß das Tor auf.

Ach so, er hatte einen Schlüssel!

Der Tonfall, in dem diese Worte gesprochen wurden, kam mir später wieder in Erinnerung; jetzt aber nahm ein sonderbarer Laut meine Aufmerksamkeit in Anspruch, – ein Seufzer oder auch ein Aufatmen der Aufwartefrau. Sonderbar: dieser Laut schien mir eine Erleichterung auszudrücken. Ich änderte meine Stellung, so daß ich die Frau im Auge behalten konnte, und fuhr fort:

Als der Mann wieder herauskam, eilte er mit großen Schritten fort. Den Wagen hatten sie weggeschickt.

Soso! murmelte der Detektiv. Dann bückte er sich und hob ein Stück des zerschlagenen Porzellans auf. Ich aber prüfte das Gesicht der Aufwartefrau, das die verschiedensten Gefühle ausdrückte. Ich konnte mir das nicht erklären.

Der Detektiv hatte wahrscheinlich das auch bemerkt, denn er wandte sich jetzt an sie, betrachtete dabei aber fortgesetzt den Porzellanscherben in seiner Hand: Kehrt die Familie zurück, und wollten Sie deshalb hier reinmachen?

Die Frau, die bemerkte, wie sich die Aufmerksamkeit aller auf sie richtete, verbarg geschickt ihre Erregung und antwortete mit einem Redestrom, der uns alle in Erstaunen setzte: Sie werden jeden Tag zurückerwartet. Ich hab es erst gestern erfahren – ich glaube, es war gestern. Nein, vorgestern, als Herr Franklin – das ist der älteste Sohn, ein reizender junger Herr – ja also, der schickte mir einen Brief, ich solle das Haus instand setzen. Das hab ich schon ein paarmal getan. Ich ließ mir vom Hausverwalter die Schlüssel zur Nebentür geben und kam her. Gestern hab ich den ganzen Tag hier gearbeitet, hab den Boden gewichst und abgestaubt. Ich wollte heute ganz früh wiederkommen, aber mein Mann war krank. So mußte ich erst nach der Apotheke gehen, und es war Mittag, als ich hierherkam. Da stand diese Dame vor dem Hause und ein Polizist. Die nahmen mir den Schlüssel ab, und der Polizist öffnete die Tür, und ich ging mit ihm hinauf und durch alle Zimmer, und als wir in dieses Zimmer kamen – –

Sie war jetzt so erregt, daß man sie nicht mehr verstehen konnte. Plötzlich schwieg sie und zerrte unruhig an ihrer Schürze. Ich, beobachtete den Detektiv, um zu sehen, ob auch ihm das sonderbare Benehmen der Frau auffiel. Sicher war dies der Fall, allein er hatte wohl schon öfters die Erfahrung gemacht, wie erregt einfache Menschen bei Gefahr oder einem plötzlichen Unglück werden, so daß er vielleicht weniger Gewicht darauf legte als ich.

Sie werden vom Coroner als Zeuge vorgeladen werden, sagte er zu ihr; es hatte aber den Anschein, als spräche er zu dem Porzellanscherben in seiner Hand. Nur keine Dummheiten! fügte er hinzu, als er merkte, daß sie zu zittern anfing und sich entschuldigen wollte. Sie haben zuerst die tote Frau gesehen, und das müssen Sie vor Gericht aussagen. Da ich nicht weiß, um wieviel Uhr man die Zeugen vernehmen wird, rate ich Ihnen, hier zu bleiben, bis der Coroner kommt. Er muß bald da sein. Und die andere Frau soll auch hier bleiben!

Die andere Frau war ich, Miß Butterworth, ein Abkömmling der ersten englischen Kolonisten, eine Dame der Gesellschaft! Aber ich hütete mich, zu zeigen, wie verstimmt ich war, denn ich merkte, daß zwar meine Anwesenheit im Hause, aber nicht in diesem Zimmer gewünscht wurde. Dennoch wollte ich mich, schweren Herzens, zurückziehen, da fühlte ich, wie mein Arm leicht aber energisch berührt wurde. Ich wandte mich um; neben mir stand der Detektiv, der noch immer den Porzellanscherben untersuchte.

Wollen Sie mir bitte noch einmal erzählen, was Sie in dieser Nacht von Ihrem Fenster aus beobachtet haben? Die Sache wird mir wahrscheinlich übergeben werden, und ich möchte gern alles wissen, was Sie darüber aussagen können!

Meine Name ist Butterworth! begann ich in höflichem Tone.

Mein Name ist Gryce. Sprich Grais.

Sie sind Detektiv?

Jawohl!

Die Sache scheint Ihnen wohl sehr ernst zu sein?

Gewaltsamer Tod ist immer sehr ernst!

Wollen Sie damit sagen, daß dieser Tod nicht einem Unfall zuzuschreiben ist?

Sein Lächeln schien zu sagen: Sie können lange warten, bis Sie erfahren, was ich denke. Und innerlich antwortete ich darauf: Auch du kannst lange warten, bis du erfährst, was ich davon denke. Aber das auszusprechen hütete ich mich wohl.

Nun, erzählen Sie, rasch, begann er von neuem. Da kommt schon der Coroner. Sagen Sie nur alles, was Sie wissen, gerade heraus, wie eine rechtschaffene ehrliche Frau, die Sie zu sein scheinen!

Ich liebe keine Komplimente! entfuhr es mir, ganz gegen meinen Willen. Und ich bin Miß Butterworth und bin nicht gewöhnt, daß man zu mir wie zu einer Frau aus dem Volke spricht! Ich will Ihnen gern alles erzählen, denn ich habe nichts zu verhehlen, und meine Erzählung kann Ihnen nur nützen, mir aber nicht schaden!

Nun erzählte ich ihm die ganze Begebenheit; leider aber mehr, als ich ursprünglich beabsichtigte, so geschickt wußte er die Fragen zu stellen. Nur über das sonderbare Benehmen der Aufwartefrau vermieden wir beide zu sprechen. Vielleicht war es ihm nicht sonderbar erschienen; jedenfalls fühlte ich, daß ich durch das Verschweigen meiner Beobachtung einen Vorteil über ihn errungen hatte, der vielleicht zu bedeutsamen Resultaten führen konnte.

*


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