Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.

Meine Köchin hatte mir ein vorzügliches Abendbrot bereitet, denn sie dachte, daß ich nach solchen Anstrengungen und Aufregungen der Stärkung bedürfen werde. Aber ich konnte nur wenig essen; mein Geist arbeitete zu heftig weiter. Wie würde das Urteil der Geschworenen lauten?

Um sieben Uhr stand ich von Tisch auf und ging in meinen Salon. Ich war entschlossen, nicht eher zu ruhen, bis ich nicht meine Gedanken über die Ereignisse des Tages geordnet und mir eine feste Meinung gebildet haben würde.

Wie weit mußte man Howards Aussagen Glauben schenken? War er trotz seiner Beteuerungen doch der Mörder? Mein Verstand sträubte sich gegen die Annahme von Howards Schuld, obgleich seine widersprechenden Aussagen und sein Leugnen einen schlechten Eindruck auch auf mich gemacht hatten. Warum nur wollte ich nicht an seine Schuld glauben? Die Lügen, die er gesagt hatte, hätten sonst unter allen Umständen jede Person in meiner Achtung völlig sinken lassen. War es bloß Sympathie für ihn, die mich immer wieder nach Gründen suchen ließ, sein Verhalten erklären und entschuldigen zu können?

Wenn ich alles genau überdachte, so mußte ich zu dem Schlusse kommen: die erste Hälfte seiner Aussage stand Wort für Wort in Widerspruch zu der zweiten Hälfte, und das war beabsichtigt. Zuerst gab sich Howard als ein gefühlloser Egoist aus, der nicht einmal so viel Interesse für seine Frau hatte, daß er sich überzeugen wollte, ob sie das Opfer eines Mordes geworden war oder nicht. Und später dagegen gab er sich als ein Mann, der selbst den unsinnigsten Launen seiner Frau willig folgte. Ich kenne zur Genüge die Inkonsequenz der menschlichen Natur, deshalb konnte ich vernünftigerweise keine der beiden Aussagen als ganz der Wahrheit entsprechend ansehen. Ein Mann, der in einem Augenblick die verkörperte Energie und Festigkeit ist, kann sich nicht im nächsten Augenblick als willenloses Geschöpf zeigen. Was also sollte ich von der mit fester Stimme abgegebenen Erklärung Howards denken, daß er trotz aller gegenteiligen Beweise an einen Selbstmord seiner Frau glaubte? War er der Mann, den ich um Mitternacht in das Nachbarhaus eintreten sah, oder war er es nicht?

Warum nur sträubte ich mich gegen die nach den gegebenen Aussagen ganz vernünftige Annahme, daß Howard um Mitternacht seine Frau ermordete, später aber wiederkam und den Kasten auf die Leiche stürzte? War damit nicht alles schon erklärt? Vielleicht alles, – nur, wie war es dann mit der Uhr? Die Uhr gab an, daß der Schrank zehn Minuten vor Fünf umfiel, und nach Herrn Stones' Aussage war es gegen Vier, als Howard Van Burnam das Haus seines Vaters verließ. Konnte man aber dem Zeugnis der Uhr unbedingt trauen? Sie war vielleicht falsch gestellt worden, oder ging doch nicht im Augenblick des Herunterfallens. Nein, auf einen so unsicheren Beweis durfte ich mich nicht verlassen. Aber den Gedanken konnte ich nicht abschütteln, daß Howard die Wahrheit sprach, als er erklärte, man hätte kein Recht, ihn mit dem Tode seiner Frau in irgendwelche Verbindung zu bringen. Und dabei blieb ich.

Ging man von dieser Hypothese aus, wie konnten dann die anderen Umstände des Mordes erklärt werden? Konnte man wirklich den von Howard geäußerten Gedanken eines Selbstmordes oder Unfalles annehmen?

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und zog wieder den Zettel mit meinen Notizen zum Mord hervor. Ich las meine Aufzeichnungen genau durch. Ich mußte mir eingestehen, daß ich eigentlich meine ursprüngliche Meinung auch jetzt in keinem einzigen Punkte ändern konnte. Die Annahme des Mordes schien die wahrscheinlichste. Aber wer war der Mörder? War es doch Howard? Konnte ich mein Gefühl nicht mit meiner vernünftigen Ueberlegung in Einklang bringen? Konnte ich keinen stichhaltigen Grund finden, der auch meinen Verstand von Howards Unschuld überzeugte?

Die beiden Hüte? Nun, Howard hatte ja erklärt, wie die beiden Hüte in das Haus kamen, aber seine Erklärung befriedigte mich nicht. Ich hatte keinen Hut in der Hand der Frau gesehen, als sie die Freitreppe hinauflief. Aber vielleicht hielt sie ihn wirklich unter ihrem Kragen verborgen und ich bemerkte es nicht? Zwei Hüte und zwei Paar Handschuhe, – da war der Punkt, von wo alle weiteren Untersuchungen ausgehen mußten.

Ein Indizium, das deutlich zugunsten Howards sprach, konnte ich trotz aller Bemühungen nicht finden. Und da ich einsah, wie schwach die Grundlage war, auf die ich meine Hypothese aufgebaut hatte, stand ich hastig auf und nahm einige Aenderungen an meiner Toilette vor, um die Freundinnen, die ich an diesem Abend noch erwartete, würdig empfangen zu können. Man hatte nämlich Vorkehrungen getroffen, um noch an diesem Abend die Leiche der Frau Van Burnam zu beerdigen. Und als die zur Beerdigung angesetzte Stunde herankam, klopfte manche Freundin bei mir an und bat, von meinem Fenster aus den Trauerfeierlichkeiten zusehen zu dürfen.

Aber mir paßte das nicht; diese bloße Neugierde flößte mir kein Mitleid ein, und ehe es neun Uhr schlug, hatte ich mich von den lästigen Besuchern befreit und konnte nun in Ruhe meine ungeteilte Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Straße so widmen, wie es nötig war, ohne durch ein Dutzend geschwätziger Freundinnen abgelenkt und gestört zu werden.

.

*


 << zurück weiter >>