Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.

Es war wohl nicht einer im Saal, der nicht durch den bisherigen Verlauf des Verhörs in die größte Spannung versetzt war.

Ein zweiter Kutscher wurde vorgerufen. Wir ahnten, daß man jetzt versuchen wollte, die Beziehungen zwischen den beiden geheimnisvollen Paaren des 17. September herzustellen. Der zweite Kutscher, der einen ziemlich melancholischen Eindruck machte, hatte seinen gewöhnlichen Stand auf der Ostseite des Madison Squares. Es war gegen Mitternacht; er war gerade im Begriff, auf seinem Bock einzuschlummern, als ihn ein leichter Schlag auf seinen Arm aus dem Halbschlaf riß. Neben seinem Wagen stand ein Herr und eine Dame.

»Wir wollen nach Grammercy Park,« sagte die Dame. »Fahren Sie rasch.« Ich nickte bloß, denn wozu sprechen, wenn man es sich ersparen kann? Sie stiegen also ein.

Können Sie uns sagen, wie der Herr und die Dame aussahen?

Ich schaue mir meine Fahrgäste nie weiter an. Außerdem war es doch ganz finster. Der Mann sah eher behäbig aus, die Frau war sehr lebhaft und lachte, als sie den Wagen schloß.

Erinnern Sie sich nicht, wie die Frau gekleidet war?

Nein; ich erinnere mich nur, daß etwas um ihre Schultern flatterte. Der Hut war wohl von dunkler Farbe; mehr habe ich nicht gesehen.

Und das Gesicht des Mannes?

Das habe ich nicht gesehen; er hatte es abgewandt. Er wollte wohl nicht, daß man ihn sah. Sie bekümmerte sich um alles.

Da haben Sie also ihr Gesicht gesehen?

Ja, eine Sekunde lang. Aber wiedererkennen würde ich sie nicht. Sie war jung und hübsch, die Hand, die mir das Geld gab, war klein. Mehr weiß ich nicht zu sagen, und wenn Sie mir goldene Berge versprechen.

Wußten Sie, daß das Haus, vor dem Sie hielten, der Familie Van Burnam gehört, und daß es nicht bewohnt war?

Nein; ich kenne doch nicht alle feinen Leute. Meine Freunde und Bekannten wohnen in einem andern Stadtteil.

Sie mußten aber doch sehen, daß das Haus nicht erleuchtet war?

Vielleicht habe ich es gesehen; aber ich erinnere mich nicht daran.

Können Sie also nichts weiter über Ihre Fahrgäste aussagen?

Nein, – oder eigentlich doch; am nächsten Morgen, als ich den Wagen ausstaubte, fand ich unter den Polstern einen zusammengelegten blauen Schleier. Er war aber mitten durchschnitten, so daß man ihn nicht mehr brauchen kann.

Das war wieder sonderbar. Verschiedene Leute um mich herum äußerten ihre Ansichten. Ich sagte leise vor mich hin: »Ganz die Manier von James Pope!« Immerhin, mich überraschte diese Uebereinstimmung, welche die beiden Paare eigentlich identisch erscheinen ließ.

Der Coroner hatte noch einen Zeugen, der uns einen weiteren Schritt vorwärts führen sollte. Es war ein Polizist, dessen Runde die Straßen vom Madison Square bis zur 3. und 27. Straße umfaßte. Dienstag nacht durchschritt er, einige Minuten vor Mitternacht, diese Straßen. Zwischen der Lexington Avenue und der 3. Straße begegneten ihm ein Herr und eine Dame, die eiligst nach der Avenue zu gingen. Beide trugen ziemlich umfangreiche Pakete. Das Paar fiel dem Polizisten durch seine Lebhaftigkeit auf; er hätte sich trotzdem nichts weiter über sie gedacht, wenn die beiden nicht kurz darauf mit leeren Händen zurückgekommen wären. Jetzt schienen sie noch heiterer zu sein. Die Frau trug einen halblangen Kragen und der Mann einen dunklen Rock. Näher konnte er die beiden nicht beschreiben, weil sie sehr rasch vorbeigingen. Ihn interessierte nur, wo sie zu so später Stunde binnen so kurzer Zeit die großen Pakete gelassen hatten. Er hatte noch gesehen, daß sie nach der Richtung des Madison Square gingen; kurz darauf hörte er einen Wagen losfahren.

Der Coroner fragte ihn: Hatte die Frau noch ein Paket, als Sie sie zum zweiten Male sahen?

Ich habe keines gesehen.

Konnte sie es nicht unter ihrem Kragen verborgen tragen?

Nur wenn es ein sehr kleines Paket war.

Wenn es so groß war wie ein Damenhut?

Wenn er kleiner war, als die modischen, ja.

Damit endete sein Verhör. Es folgte wieder eine kurze Pause. Der Coroner, ein ziemlich beleibter Mann, litt sehr unter der herrschenden Hitze. Mit abgespannter Miene lehnte er nun in seinem Sessel, während die Geschworenen wie immer unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten, – wie ungeduldige Schulkinder – und die Beendigung der Sitzung, die sie allein von allen Anwesenden nicht interessierte, kaum erwarten konnten.

Schließlich wurde der Türsteher in das anstoßende Zimmer gesandt und kam gleich darauf mit einem Herrn zurück. Die Haltung des Publikums veränderte sich, als man Franklin Van Burnam erkannte. Der Coroner setzte sich steif aufrecht und legte das Blatt Papier fort, mit dem er sich Kühlung zugefächelt hatte. Sogar die Geschworenen wurden aufmerksam. Alles schwieg erwartungsvoll.

Franklin Van Burnam ist mittelgroß – seine Gestalt ähnelt sehr der seines Bruders Howard. Haar und Augen sind dunkel, der Schnurrbart aber braun, und die Hautfarbe von zartestem Weiß. Seine Haltung ist meist reserviert, und der Ausdruck seines Gesichts ist ernst; nur beim Sprechen oder Lachen hellt es sich auf und bekommt etwas ungemein Liebenswürdiges.

Doch heute lächelte er nicht. Dennoch war der Eindruck, den er auf die meisten der Anwesenden machte, günstig; das konnte man aus der Achtung ersehen, mit der seine Worte aufgenommen wurden.

Er hatte eine Menge Fragen zu beantworten, die entweder die Angelegenheit selbst betrafen, oder auch solche, die mit ihr in keiner sichtbaren Verbindung standen. Er antwortete zurückhaltend, aber höflich, mit der korrekten Gewandtheit eines Weltmannes; seine Art übte auf das Publikum, das durch die Erzählungen der Kutscher und des Polizisten sehr erregt war, einen beruhigenden Einfluß.

Bald aber wurde das anders, als nämlich der Coroner den Zeugen fragte, ob zwei Schlüssel zur Haupttür des Van Burnamschen Hauses vorhanden waren. In ganz verändertem Tonfall antwortete Herr Franklin:

Nein. Der Schlüssel, den unser Hausverwalter hat, öffnet bloß die Nebentür.

Der Coroner lächelte befriedigt. Kein Duplikat, sprach er. So wird es Ihnen ein leichtes sein, uns zu sagen, wo der eine Schlüssel während der Abwesenheit Ihres Vaters aufbewahrt wird.

Der Schlüssel war gewöhnlich bei mir.

Gewöhnlich! Der Ton, in dem der Coroner das Wort wiederholte, war ironisch; er verstand es gut, die Verlegenheit des jungen Mannes auszunutzen. Und wo war denn der Schlüssel am 17. September? Bei Ihnen?

Nein. – Der junge Mann versuchte ruhig und sicher drein zu sehen, aber man merkte, wie schwer es ihm wurde. Am Morgen dieses Tages hatte ich den Schlüssel meinem Bruder eingehändigt.

Endlich etwas Ernsthaftes! Ich begann zu glauben, daß der Coroner genau wußte, wo hinaus er wollte. Und die Anwesenden hatten dasselbe Gefühl. Von verschiedenen Seiten erhob sich ein Murmeln, und der Coroner mußte energisch auftreten, um einen Tumult zu verhindern.

Franklin Van Burnam stand mittlerweile hochaufgerichtet und mit entschlossener Miene da. Nur in seinen Augen konnte man sehen, wie unangenehm berührt er war. Er wandte keinen Blick nach dem Zimmer, in dem seine Familie versammelt war. Aber seine Gedanken waren sicher bei seinen Angehörigen.

Des Coroners Gesicht blieb unbewegt. Darf ich wissen, wo Sie Ihrem Bruder den Schlüssel übergaben? fragte er.

Ich gab ihm den Schlüssel Dienstag früh in meinem Bureau. Mein Bruder sagte, er wolle noch vor Ankunft unseres Vaters in das Haus gehen.

Sagte er Ihnen nicht, was er dort wollte?

Nein.

Ging er des öfteren während der Abwesenheit Ihres Vaters allein in das Haus?

Nein.

Hatte er vielleicht Kleider dort? Oder irgendwelche Sachen, die ihm persönlich oder seiner Frau gehörten?

Nein.

Und doch wollte er hingehen?

So sagte er.

Und Sie gaben ihm den Schlüssel, ohne ihn weiter zu fragen?

Natürlich.

War das nicht gegen Ihre Prinzipien – ich will sagen, gegen Ihre Gewohnheit?

Eigentlich ja! Aber Prinzipien, wie Sie sagen – und Sie verstehen darunter wohl Geschäftsprinzipien – haben nichts mit meinen persönlichen Beziehungen zu meinem Bruder zu tun. Er bat mich um eine Kleinigkeit, und ich bewilligte sie ihm ohne weiteres. Die Sache hätte viel wichtiger sein müssen, um mich zu bewegen, Aufklärung zu verlangen.

Sie stehen sich aber doch nicht gut mit Ihrem Bruder seit einiger Zeit – man sagt wenigstens so!

Wir hatten keinerlei Streit miteinander.

Hat er Ihnen den Schlüssel zurückgebracht?

Nein!

Seither haben Sie also den Schlüssel nicht gesehen?

Nein!

Würden Sie ihn herausfinden, wenn man Ihnen einige Schlüssel zeigte?

Ich müßte erst probieren, ob er unser Haupttor ausschließt.

Wenn Sie den Schlüssel bloß sähen, könnten Sie ihn also nicht erkennen?

Ich glaube nicht.

Herr Van Burnam, es ist mir sehr peinlich, mich in Familienangelegenheiten zu mischen. Aber wie kam es, daß, obgleich Sie keinen Streit mit Ihrem Bruder hatten, Sie sich in letzter Zeit so selten sahen?

Mein Bruder wohnt in Connecticut und ich in Long Branch. Das genügt zur Erklärung wohl?

Nein, das genügt durchaus nicht! Sie haben doch in New York ein gemeinsames Bureau?

Gewiß, das Bureau unserer Firma.

Und da begegneten Sie einander doch zuweilen, wenn Sie auch weit voneinander entfernt wohnten?

Ja, denn unsere Geschäfte erfordern manchmal unsere Anwesenheit in New York, und da begegnen wir uns natürlich.

Unterhalten Sie sich da miteinander?

Unterhalten?

Ich meine von anderen als geschäftlichen Dingen. Sind Ihre Beziehungen freundschaftlich? Genau so wie vor drei Jahren?

Wir sind beide älter und wohl auch zurückhaltender geworden.

Aber Ihre Gefühle zueinander sind dieselben geblieben?

Nein. Ich sehe, Sie wollen durchaus davon sprechen, so will ich es Ihnen auch nicht länger verschweigen. Unser gegenseitiges Verhältnis ist nicht mehr so freundschaftlich. Aber wir sind uns auch nicht feindlich gesinnt. Ich achte meinen Bruder sehr.

Haben Sie irgend einen greifbaren Grund für die Entfremdung? Hat Ihr Bruder etwas getan, was Ihnen mißfiel?

Ich sah seine Verheiratung nicht gern.

War die Ehe nicht glücklich?

Die Verbindung paßte nicht für ihn.

Kannten Sie Frau Van Burnam so gut, daß Sie das behaupten konnten?

Ja, ich kannte sie. Meine Angehörigen kannten sie nicht.

Und doch stimmten sie mit Ihnen überein?

Die Heirat mißfiel ihnen noch mehr als mir. Die Dame, die Howard heiraten wollte, war ja klug, und es war ihr persönlich nichts vorzuwerfen; aber wir hatten eine andere Partie für Howard.

Und Sie haben ihm Ihre Gefühle nicht verhehlt?

Wie hätten wir das nicht tun sollen?

Selbst nach seiner Verheiratung?

Wir durften die Ehe nicht anerkennen.

Und Ihr Bruder – es ist mir sehr peinlich, so fragen zu müssen – zeigte er Ihnen, daß er unter der Entfremdung litt?

Das Antworten ist mir ebenso peinlich wie Ihnen das Fragen. Mein Bruder ist eine sehr anhängliche Natur und andererseits sehr stolz. Ich glaube wohl, daß er unter der Entfremdung litt, aber er zeigte es nie.

Herr Van Burnam, nennen Sie uns bitte die Inhaber Ihrer Firma!

Es sind mein Vater, mein Bruder und ich!

Sonst niemand?

Nein!

Haben Sie von der Drohung Ihres Vaters gehört, die Firma, wie sie jetzt besteht, aufzulösen?

Ja. Mein Vater sagte, er würde ausscheiden, wenn mein Bruder es nicht täte. Ich zweifle aber, daß er es getan hätte, wenn er auch manchmal harte Worte spricht.

Also er drohte wirklich?

Ja!

Und Ihr Bruder wußte das?

Mein Bruder wußte es.

Herr Van Burnam, ist Ihnen seit dieser Drohung eine Veränderung im Benehmen Ihres Bruders aufgefallen?

Inwiefern? Was meinen Sie?

In seinem Verhalten zu seiner Frau oder zu Ihnen?

Seit mein Bruder nach Haddam zog, habe ich ihn nicht in Gesellschaft seiner Frau gesehen. Sein Benehmen zu mir war unverändert.

Herr Van Burnam, wie oft ungefähr sahen Sie die Gattin Ihres Bruders?

Ziemlich oft. Vor der Verheiratung öfters als nachher.

Ihr Bruder hatte Ihnen alles anvertraut? Sie wußten, daß er sich verheiraten wollte?

Ich besuchte Luise Stapleton nur deshalb so oft, weil ich die Verlobung rückgängig machen wollte.

Ah! Diese Erklärung kommt meiner Frage zuvor. Ich wollte von Ihnen erfahren, wieso nur Sie von allen Familienmitgliedern die Dame kannten.

Der Zeuge fand, daß die Frage bereits beantwortet war und erwiderte nichts. Aber die nächste Bemerkung konnte er nicht stillschweigend übergehen.

Da Sie Frau Van Burnam so oft sahen, kannten Sie ihre äußere Erscheinung recht gut?

Natürlich, wie man irgend jemand kennt, dem man in der Gesellschaft wiederholt begegnet.

War ihr Haar blond oder braun?

Sie hatte braunes Haar.

Aehnlich wie dieses?

Der Coroner zeigte die Locke, die der Arzt vom Haar der Ermordeten abgeschnitten hatte.

Ja, so ziemlich ähnlich. Der Ton, in dem dies gesagt wurde, war unbewegt, aber seine Unruhe konnte Franklin doch nicht ganz verbergen.

Herr Van Burnam, haben Sie die Frau, die im Hause Ihres Vaters ermordet wurde, genau angesehen?

Ja!

War an der Gestalt im ganzen oder an den unverletzt gebliebenen Körperteilen etwas, das Sie an Frau Van Burnam erinnerte?

Nur auf den ersten Blick fand ich eine gewisse Aehnlichkeit.

Und als Sie genauer hinsahen, änderten Sie ihre Meinung?

Franklin Van Burnam sah etwas bestürzt aus, antwortete aber mit fester Stimme: Das kann ich nicht gerade sagen. Aber Sie dürfen meine Meinung nicht als ausschlaggebend ansehen, fügte er hastig hinzu. Ich kannte meines Bruders Frau doch nicht genügend.

Die Geschworenen werden das in Betracht ziehen. Was wir jetzt hauptsächlich wissen möchten, ist: Haben Sie am Körper der toten Frau etwas gesehen, wonach Sie schließen konnten, daß die Tote nicht Frau Howard Van Burnam war?

Dergleichen habe ich nicht gesehen.

Nach dieser ausdrücklichen Erklärung wurde sein Verhör geschlossen. Bis zum Ende der Sitzung wurde dann noch Frau Howard Van Burnams Schrift mit der von Frau James Pope verglichen. Man kam aber nur zu dem Schluß, daß es möglich wäre, daß die beiden Schriften von derselben Person herrührten; doch um das genau bestimmen zu können, wäre die eine zu verstellt. Aber in diesem Punkt stimmten die Gutachten nicht alle überein.

*


 << zurück weiter >>