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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Sie ist nicht schlecht, sie ist nur unglücklich, bemerkte der Detektiv, als wir zusammen das Zimmer verließen. Aber man muß sie streng bewachen, denn in ihrem jetzigen Gemütszustand könnte sie leicht eine Dummheit begehen. In einer oder spätestens in zwei Stunden wird eine Frau da sein, um Ihnen zu helfen, Miß Butterworth. Können Sie bis dahin bei ihr wachen?

Wenn es notwendig ist, kann ich die ganze Nacht bei ihr wachen.

Das Nähere werden Sie mit Fräulein Spicer besprechen. Und sobald es Fräulein Oliver etwas besser gehen wird, werde ich einen kleinen Plan ausführen, durch den es mir vielleicht gelingen wird, die Wahrheit zu erfahren. Ich muß unbedingt wissen, für welchen der beiden Männer sie sich aufopfert.

Sie sind also der Meinung, daß nicht sie Frau Van Burnam ermordet hat?

Ich glaube nur, daß wir es mit einem ganz außerordentlich schwierigen und verwickelten Fall zu tun haben. Inwieweit die beiden Brüder am Morde beteiligt waren, können wir noch nicht mit Gewißheit sagen, denn was wir als gewiß annehmen können, ist nur, daß Franklin Ruth Oliver in das Haus führte, und daß Howard um vier Uhr morgens auf der Freitreppe desselben Hauses gesehen worden ist. Aber wer von ihnen den Mord verübte, ist mir nicht klar.

Und ich behaupte nach wie vor, daß Ruth Oliver die Hand im Spiel gehabt hat; sie braucht ja ursprünglich keine böse Absicht gehabt zu haben. Ohne die Hilfe einer Frau hätte ein Mann das alles nicht bewerkstelligen können. Das ist meine feste Ueberzeugung, und niemand wird mich davon abbringen.

Ich will ja gar nicht versuchen, Sie davon abzubringen. Ich will nur herausbringen, wie weit das junge Mädchen am Mord beteiligt war, vor allem aber, wer der Mann ist, der sie begleitet hatte.

Und was ist Ihr Plan, um das herauszubringen?

Das sage ich nicht. Ich kann ihn aber erst ausführen, wenn Ruth Oliver gesund ist. Sie müssen also dafür sorgen, daß sie gut gepflegt wird und bald imstande ist, aufzustehen. Ich verlasse mich auf Sie.

Ich versprach, mein möglichstes zu tun.

Als Herr Gryce gegangen war, begab ich mich zu Ruth Oliver und bemühte mich, sie zu beruhigen. Und es gelang mir wider Erwarten sehr bald; die Unterredung mit dem etwas rücksichtslosen Detektiv hatte sie so weich gestimmt, daß sie sich nach einem weiblichen Wesen sehnte und die liebevolle Aufmerksamkeit, mit der ich sie umgab, mit dankbaren Blicken und Worten anerkannte. Nach einer Stunde ungefähr kam eine Krankenpflegerin, und es tat mir jetzt wirklich leid, das Mädchen zu verlassen, so lieb und freundlich war sie zu mir.

Ich stieg in den Salon zu Fräulein Spicer hinab. Sie war damit beschäftigt, die Einladungen zur Hochzeit ihrer Nichte zu adressieren; der Ausdruck ihres Gesichts schien mir besorgt zu sein.

Ich bin in großer Verlegenheit, Miß Butterworth, sagte sie. Ich hatte darauf gerechnet, Fräulein Oliver würde mir bei dieser Arbeit und den andern Vorbereitungen zur Hochzeit und zu dem Abschiedsfestmahl, das ich einige Tage vorher meiner Nichte geben will, helfen, und ich kenne niemand, dem ich diese vielfältigen Arbeiten anvertrauen könnte. Ich selbst habe so viel zu tun, daß – –

Wollen Sie, daß ich Ihnen helfe? bot ich mich bereitwilligst an. Ich habe zu Hause nichts besonders Wichtiges zu tun, und – nun ja, es würde mir wirklich auch Freude machen, einmal in meinem Leben bei den Vorbereitungen zu einer Hochzeit zu helfen. Ich würde mich wieder jung fühlen.

Aber – sie wollte etwas einwenden.

Ich war so entzückt über die Aussicht, noch länger in diesem Hause verweilen zu können, daß ich ihr rasch ins Wort fiel und ihr nochmals versicherte, welch große Freude sie mir bereiten würde, und wie ich ganz genau ihren Anordnungen folgen wollte. Schließlich konnte sie meinen freundlichen, entgegenkommenden Worten nicht widerstehen, nahm mein Anerbieten an und wies mir die Arbeit zu.

Bis zehn Uhr blieb ich in ihrer Gesellschaft und in der des Brautpaares unten in der Bibliothek, dann wünschte ich Gute Nacht und ging noch einmal zu Ruth Oliver ins Zimmer. Die Pflegerin stand vor der Tür.

Sie schläft, sagte sie, aber sie ist sehr unruhig. Ich entsinne mich nicht, einen so traurigen Fall gesehen zu haben. Sie stöhnt unausgesetzt, aber nicht vor körperlichen Schmerzen. Sie muß Schreckliches durchgemacht haben. Und es fehlt ihr gewiß nicht an Mut. Von Zeit zu Zeit setzt sie sich auf und zwingt sich, zu sprechen. Doch hören Sie selbst, jetzt spricht sie wieder.

Aus dem Zimmer tönten die Worte: Ich will nicht leben, Herr Doktor, ich will nicht leben! Versuchen Sie nicht, mich gesund zu machen!

Das sagt sie schon die ganze Zeit, bemerkte die Pflegerin. Ist das nicht schrecklich traurig?

Ich mußte ihr beistimmen, obwohl ich mich innerlich fragte, ob das junge Mädchen nicht eigentlich recht hatte, sich den Tod zu wünschen, der allein ihren seelischen Qualen ein Ende setzen konnte.

Am frühen Morgen suchte ich Ruth Oliver wieder auf; es ging ihr etwas besser. Sie fieberte nicht mehr, und ihr Gesicht sah ruhiger aus. Sie fragte mich gleich, ob man sie heute abholen und ob man ihr erlauben würde, erst noch Fräulein Spicer zu sprechen. Ich versicherte, heute würde niemand sie stören, worüber sie sehr erfreut schien.

Fräulein Spicer ist so gut zu mir gewesen, daß ich ihr gern danken möchte. Und Fräulein Althorpe möchte ich auch gern noch einmal sehen; sie war auch sehr lieb und gut zu mir.

Ich versprach ihr, den Damen zu sagen, sie möchten doch einen Augenblick zu ihr heraufkommen. Als ich wieder gehen wollte, hielt mich Ruth Oliver an meinem Rock fest und fragte:

Kennen Sie den Herrn, den Fräulein Althorpe heiraten wird? Was ist es für ein Mann? Sie ist so gut und liebevoll, und eine Heirat ist ein so schreckliches Wagnis.

Ein schreckliches Wagnis? wiederholte ich.

Ja, es ist doch schrecklich, einem Manne seine ganze Liebe, sein ganzes Sein zu schenken, und was erhält man dafür? Aber ich will nicht daran denken. Ich hoffe, daß Herr Stone gut zu ihr sein wird. Er liebt sie ja sehr. Glauben Sie, daß Fräulein Althorpe glücklich sein wird? Es ist vielleicht unrecht von mir, so zu fragen, aber ich bin den Damen so dankbar, daß ich allen beiden von Herzen wünsche, sie möchten immer glücklich bleiben.

Fräulein Althorpe hat eine gute Wahl getroffen, sagte ich. Es gibt nicht zwei solche Männer wie Herrn Stone.

Sie seufzte herzzerreißend. Leise sprach sie:

Ich will für sie beten, ich will für ihr Glück beten!

Was sollte ich darauf antworten? Jedes Wort, jede Bewegung des jungen Mädchens kam so überraschend und unerwartet, war so aufrichtig, daß man sich zu ihr hingezogen fühlen mußte. Ich hätte sie ja gern ermutigt, sich auszusprechen, aber ich durfte es nicht tun, weil sie sich dabei noch mehr aufregen konnte und vielleicht wieder kränker geworden wäre. Deshalb richtete ich nur einige freundliche Worte an sie, rief dann die Pflegerin und entfernte mich.

Am nächsten Tage sprach Herr Gryce vor.

Geht es Ihrer Patientin besser? fragte er mich.

Bedeutend besser, erwiderte ich fröhlich. Sie wird heute nachmittag aufstehen und herumgehen können.

Ah, das ist gut. Kommen Sie um drei Uhr mit ihr zum Haus heraus. Ich werde unten in einem Wagen auf Sie warten.

Ich fürchte aber, es wird schwer fallen, sie herunterzubringen. Es kann üble Folgen haben. Doch ich werde tun, was Sie von mir verlangen. Und ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Wir haben bis jetzt angenommen, daß Ruth Oliver ein junges Mädchen ist; ich bin jetzt der Ansicht, daß sie verheiratet ist, und daß ihr Mann –

Nun, warum sprechen Sie nicht weiter? Was ist's mit ihrem Mann?

Ach, lassen wir das. Führen Sie erst Ihren Plan aus, dann werden wir weiter sehen. Sie wollen doch heute schon Ihren Plan ausführen?

Ja, heute nachmittag um drei Uhr, wenn Ruth Oliver das Haus verläßt. Keine Minute früher und keine Minute später. Denken Sie daran!

*


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