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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Ich kehrte nicht sogleich zu Ruth Oliver zurück, sondern wartete, bis das Abendbrot zu ihr hinaufgeschickt wurde. Da nahm ich dem Stubenmädchen die Platte ab. Das Mädchen war darüber gar nicht erstaunt, so daß ich annahm, Fräulein Spicer habe meine Anwesenheit in ihrem Hause ihrem Personal bereits genügend erklärt. Dieser Gedanke beruhigte mich, und ohne zu zögern trat ich jetzt in Ruth Olivers Zimmer. Die Platte stellte ich auf einen kleinen Tisch.

Das Mädchen stand noch an derselben Stelle wie früher, als wir sie verlassen hatten. Aber sie schien sich kaum noch aufrecht halten zu können und stützte sich schwer auf den Bettpfosten. Als meine Augen den ihren begegneten, überlief sie ein Schauer, und sie schien sich zu fragen, wer ich eigentlich sei, und was ich denn von ihr wolle. Ich hatte mich über ihren Körperzustand nicht getäuscht.

Ich näherte mich ihr mit liebreichen Worten, denn ihre trostlose Lage rührte mich, trotz meiner wohlbegründeten Voreingenommenheit gegen sie. Als ich sah, daß sie nicht imstande war, mich zu verstehen und mir zu antworten, setzte ich sie aufs Bett und begann sie zu entkleiden.

Ich hatte erwartet, daß sie widerstreben würde, aber sie ließ ohne Zögern und, wie es schien, dankbar alles mit sich geschehen; nur als ich ihre Schuhe anfassen wollte, sprang sie entsetzt auf und zog ihren Fuß heftig zurück. Ich sah mich genötigt, ihr nachzugeben und sie in Ruhe zu lassen, aus Furcht, sie könnte einen Anfall bekommen.

Das bestärkte mich in meiner Ueberzeugung, daß Luise Van Burnam hier vor mir lag. Sie mußte wohl unausgesetzt an die Narbe denken, von der in den Zeitungen so viel gesprochen worden war, und an der man sie leicht erkennen konnte. Und wenn sie auch schon einen Augenblick das Bewußtsein dessen, was um sie herum geschah, verloren hatte, so war doch der Selbsterhaltungstrieb noch so groß in ihr, daß sie diesen letzten Versuch machte, um sich vor der Entdeckung zu schützen.

Ich hatte Fräulein Spicer gesagt, daß ich vor allem wissen wollte, ob Ruth Oliver im Besitz von gestohlenen Ringen war. Bis zu einem gewissen Grade war das auch richtig, – die Ringe wären noch ein bedeutsamer Beweis für ihre Schuld gewesen – aber in diesem Augenblick hatte ich nur noch den einen Wunsch, die Narbe zu finden, die mit einem Schlage die Identität feststellen mußte.

Als ich aber sah, daß weitere Versuche, ihr Schuhe und Strümpfe auszuziehen, vergeblich waren, beruhigte ich sie liebreich. Ich kühlte ihre Schläfen, die vor Fieber brannten, und ich hatte bald die Befriedigung, sie in einen tiefen aber unruhigen Schlaf fallen zu sehen. Da versuchte ich wieder, ihr die Schuhe auszuziehen, aber ein neues Erschauern und ein heftiger Schrei zeigten mir, daß es dazu noch zu früh war. Ich mußte mich also noch länger gedulden.

Da ich mich hungrig fühlte, oder besser gesagt, da ich einsah, ich müßte mich stärken, um die ermüdende Nacht, die vor mir lag, gut zu überstehen, setzte ich mich an den Tisch und aß einiges von den guten Sachen, die Fräulein Spicer heraufgeschickt hatte. Als ich mein Mahl beendet hatte, fühlte ich, daß es an der Zeit war, auch meine Neugierde zu befriedigen und die Kleider und Habseligkeiten der vermeintlichen Ruth Oliver zu untersuchen.

Das graue Kleid war von einfachstem Schnitt. Die weiße Unterwäsche aber war aus so feinem Batist, daß ein Blick genügte, um die Wäsche der Frau Van Burnam zu erkennen. Zum Ueberfluß sah man noch die Spuren von abgetrennten Spitzen und Bändern, und die Nähte waren so fein ausgearbeitet, wie sie nur eine französische Weißnäherin auszuführen versteht.

Jetzt trat das Stubenmädchen ins Zimmer, um den Tisch abzuräumen. Als sie gegangen war und alles im Hause schon zu ruhen schien, öffnete ich die Tür eines Schrankes, der am Fußende des Bettes stand. Ein brauner Seidenunterrock hing dort, in dessen Tasche sich ein überaus niedliches und elegantes Portemonnaie befand. In dem Geldtäschchen waren einige Rechnungen in Höhe von fünfzehn Dollars, aber kein Geld. Ich steckte das Geldtäschchen in die Rocktasche zurück, hing den Rock in den Schrank und näherte mich wieder der Schläferin, die ich noch aufmerksamer und genauer betrachtete als früher. Sie atmete schwer, ihr Kopf glühte. Aber auch jetzt war sie von einer rührenden Lieblichkeit, so daß ich den Einfluß zu verstehen begann, den sie auf Howard ausgeübt hatte.

Ich war aber nicht gekommen, um ihre Schönheit zu bewundern, sondern um ihre Haare, ihre Hände und ihren Teint zu prüfen. Die Haare waren braun und erinnerten mich an die Haare, die ich in den Händen der Geschworenen gesehen hatte. Ihre Haut war weiß und glatt, ebenso ihre Hände – und doch waren das nicht die Hände einer Dame. Ich hatte das übrigens schon beim ersten Blick bemerkt. Aber das brachte ich nur in Uebereinstimmung mit ihrem Charakter. Denn wer einen so festen Willen hatte wie sie, konnte keine zarten, schlanken Finger besitzen, wie ich sie bei den Van Burnamschen Mädchen oder auch bei Fräulein Spicer und anderen Damen von Welt gesehen hatte. Jetzt erinnerte ich mich auch ihrer Worte, die Fräulein Fergusson vor den Geschworenen uns mitgeteilt hatte: »Bin ich nicht schön, wenn ich in Erregung und Verzweiflung jemanden anflehe?« Und ich mußte ihr jetzt in Gedanken recht geben.

Ich machte einen Rundgang durchs Zimmer. Nichts entging meinem Blick, nichts war mir zu geringfügig, um unbeachtet zu bleiben. Aber ich fand nichts, was mich in den Schlüssen, zu denen ich gekommen war, bestärkt oder beirrt hätte. Das aber brauchte mich nicht wunderzunehmen, denn außer einigen Toiletteartikeln und einer Handarbeit sah ich nichts im Zimmer, was Ruth Oliver gehören konnte. Auch alle Schubladen waren leer, und in der Handtasche, die unter einem Tischchen stand, war nicht einmal eine Haarnadel. Ich hatte sie ganz genau durchsucht; ich wollte die Ringe finden, die gewiß hier waren, wenn die Frau sie auch nicht tragen durfte.

Als ich meine sorgfältige Untersuchung beendet hatte, setzte ich mich nieder und begann nachzudenken, welches Los die arme Frau erwartete, wenn ihre Schuld herauskam. Ich stellte mir vor, wie sie vor den Geschworenen erscheinen würde, mit den flehenden Blicken der schönen Augen und dem unschuldsvollen Ausdruck in Haltung und Gebärden. Da hörte ich leise an die Tür klopfen.

Fräulein Spicer trat ein. Ihre Nichte und deren Bräutigam hatten sie soeben verlassen, und sie kam, um sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen.

Geht es Fräulein Oliver besser? fragte sie. Und haben Sie gefunden, was –

Warnend legte ich meinen Finger an die Lippen. Vor allen Dingen war es notwendig, daß die Kranke den Grund meiner Anwesenheit bei ihr nicht erfuhr.

Sie schläft, antwortete ich leise. Und ich glaube gefunden zu haben, was eigentlich mit ihr los ist.

Fräulein Spicer schien diese Worte zu verstehen. Sie warf einen Blick voll liebevoller Sorge auf die Schlafende und wandte sich dann wieder zu mir.

Ich habe unten keine Ruhe. Wenn Sie erlauben, will ich eine Zeitlang mit Ihnen wachen.

Sie könnten mir kein größeres Vergnügen bereiten, gab ich zur Antwort.

Sie zog einen Lehnstuhl heran. Für Sie! sagte sie freundlich lächelnd, und setzte sich in einen Stuhl neben mich.

Wir schwiegen beide. Ihre Gedanken schienen wo anders zu weilen, denn von Zeit zu Zeit lächelte sie gütig vor sich hin.

Das Glück Ihrer Nichte freut Sie wohl ungemein? erlaubte ich mir schüchtern zu bemerken.

Sie seufzte leicht auf. Ja, ihr Glück freut mich unendlich. Ich habe in meinem Leben so wenig Liebe genossen, daß es für mich rührend und erfreulich zu sehen ist, wie gern meine Nichte und Herr Stone einander haben, mit welchen Aufmerksamkeiten sie einander überschütten, und wie sie sich von Tag zu Tag inniger zusammenfinden. Es ist der Abglanz von diesem Glück, den Sie in meinem Gesicht gesehen haben. Und dabei bin ich doch wieder traurig, daß mich die jungen Leute so bald verlassen werden. Ich werde noch einsamer sein. Und wieder seufzte sie.

Die Kranke regte sich und schien aufzuwachen. Ich war sofort bei ihr, um sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Sie richtete aber nur ihre fieberglühenden Augen verständnislos auf mich und verfiel wieder in ihren unruhigen Schlummer.

Geht es ihr schlechter? fragte Fräulein Spicer.

Nein, antwortete ich. Das Fieber scheint etwas nachzulassen. Ich erneuerte die kalten Umschläge auf die Stirn der Kranken und flößte ihr einige Tropfen Arznei zwischen die halbgeöffneten Lippen ein.

Ist sie wieder eingeschlafen?

Ich glaube, sie schläft ganz fest.

Ich setzte mich wieder neben Fräulein Spicer. Nach einer Pause sagte sie unvermittelt:

Was denken Sie von dem Mord bei den Van Burnams?

Ich war so erschrocken über die plötzliche Nennung dieses Namens, daß ich Fräulein Spicer schon die Hand auf den Mund legen wollte und ängstlich nach der Kranken hinsah, um zu erspähen, welchen Eindruck diese Worte auf sie gemacht hatten. Aber sie regte sich nicht und atmete jetzt sogar friedlicher als vorhin. Nun war ich ganz sicher, daß sie fest schlief, oder zum mindesten in einem lethargischen Zustand war, in dem sie nicht mehr verstand, was um sie vorging.

Ich denke, antwortete ich, daß Howard sich in einer schlimmen Lage befindet. Alle Anzeichen sprechen gegen ihn!

Es ist schrecklich! Einfach schrecklich! Ich weiß gar nicht, was ich darüber denken soll. Die Van Burnams und vor allem Franklin haben einen so guten Ruf. Die arme Frau Van Burnam.

Ja, die muß man wirklich aufrichtig bedauern! bemerkte ich, wobei ich meine Augen auf das regungslose Gesicht der Kranken heftete.

Fräulein Spicer fuhr fort:

Als ich hörte, daß eine junge Frau im Hause der Van Burnams tot aufgefunden wurde, dachte ich sofort an Howards Frau. Ich kann nicht sagen, weshalb ich an sie dachte, denn ich hatte keine Ursache, anzunehmen, ihre Ehe würde ein so plötzliches, tragisches Ende finden. Und ich kann nicht glauben, daß Howard sie ermordet hat. Sind Sie nicht derselben Meinung, Miß Butterworth? Howard ist zu sehr Gentleman, viel zu zartfühlend, um eine so brutale Tat zu begehen. Denn das Verbrechen ist mit ebenso großer Gewandtheit wie ungeheurer Brutalität ausgeführt worden. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?

Ja, nickte ich, ich habe das Verbrechen von allen Seiten mir zu beleuchten versucht.

Herr Stone ist noch ganz verzweifelt über seine Rolle als Belastungszeuge, die er bei der Verhandlung vor dem Coroner spielen mußte. Aber es blieb ihm keine Wahl. Die Polizei bestand auf seiner Aussage.

.

Und sie hat recht gehabt, warf ich ein.

Ja, vielleicht, aber jetzt wünschen wir alle noch um so mehr, daß es Howard gelingt, seine Unschuld zu beweisen. Aber ich glaube nicht, daß es ihm gelingen wird. Wenn seine Frau nur gewußt hätte – –

Zitterten die Lider der Kranken? Ich hob die Hand, um Fräulein Spicer Schweigen zu gebieten, ließ sie aber wieder fallen, denn ich hatte mich getäuscht. Da sprach Fräulein Spicer weiter:

Sie war keine schlechte Frau, nur etwas oberflächlich und leichtsinnig. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, bei den Van Burnams eine große Rolle zu spielen, und ihre Enttäuschung über ihren Mißerfolg war nicht gering. Als ich sie sah – –

Sie hatte sie gesehen! Ich sprang auf, wobei ich den kleinen Arbeitskorb umwarf, der neben meinem Stuhl stand. Aber ich dachte nicht daran, ihn aufzuheben.

Sie haben sie gesehen! rief ich, und sah mit grenzenlosem Erstaunen auf Fräulein Spicer.

Ja, wiederholte sie. Sie war eine Zeitlang Gouvernante bei einer mir bekannten Familie. Das war, noch ehe sie Franklin und Howard Van Burnam kennen lernte.

Meine Ueberraschung war so groß, daß es mir schwer fiel, zu sprechen. Meine Blicke wanderten ruhelos von Fräulein Spicer zur Schlafenden, und dann wieder zu jener zurück.

Sie haben sie gesehen! wiederholte ich, wie ich meinte flüsternd. Es mußte aber doch wohl einem Schreien ähnlicher geklungen haben. Und Sie konnten dann diese Frau bei sich aufnehmen?

Jetzt war ihr Erstaunen nicht geringer als meines.

Weshalb sollte ich dieses Mädchen denn nicht aufnehmen? Wie bringen Sie denn die beiden zusammen?

Ich sank in meinen Stuhl zurück. Das ganze Gebäude meiner Theorie begann zu wanken.

Sehen sich – sehen die beiden sich nicht sehr ähnlich? stammelte ich fassungslos. Ich dachte, ich hatte mir eingebildet – –

Luise Van Burnam soll diesem Mädchen ähnlich gesehen haben? O nein, sie war eine ganz andere Frau! Warum dachten Sie, daß die beiden sich ähnlich sehen sollten?

Ich antwortete nicht. Das Gebäude, das ich mit solcher Sorgfalt und solchen Mühen errichtet hatte, brach über mir zusammen, und stöhnend lag ich unter den Trümmern!

*


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