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Fünfunddreißigstes Kapitel.

Wie ich später erfuhr, war in dem zweiten Wagen wirklich Howard gewesen. Da das junge Mädchen bei seinem Anblick so völlig ihre Beherrschung verloren hatte, war Herr Gryce, als er zu dem Paar in den Wagen stieg, überzeugt gewesen, er würde beide in großer Erregung finden, und beide würden sich so heftige Vorwürfe machen, daß sie nichts mehr leugnen könnten. Aber ganz wider sein Erwarten fand er Ruth Oliver ruhig und einsilbig in einer Ecke lehnend, während Herr Van Burnam auch nicht besonders erregt und nur leise gerötet war, welche Röte aber sofort nachließ, als er sich von Herrn Gryce beobachtet sah.

Mit seiner kalten, ruhigen Stimme, in der nur etwas Unwillen zitterte, fragte Howard den Detektiv:

Was ist denn mit diesem verrückten Mädchen los, das Sie mir da als Begleiterin aufgedrängt haben? Mir wäre es nicht im Traum eingefallen, Ihnen zu folgen, hätte ich gewußt, was Sie mir für Ueberraschungen vorbereiteten.

Sie hören, was der Herr sagt? wandte sich der Detektiv zu Ruth Oliver, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, jetzt aber die Hände fallen ließ und Herrn Gryce mit so starrem Blick betrachtete, daß er Howards Worte gar nicht unberechtigt finden konnte. Aber gleich darauf las er in ihrem Gesicht noch den Ausdruck eines anderen Gefühls, der ihn dann völlig über seine Befürchtung beruhigte, es könnte doch etwas bei ihr nicht richtig sein. Es war nämlich eine feste Entschlossenheit darin zu lesen und eine große Trauer. Es schien dem Detektiv, als ob sie jetzt nachdachte, ob sie ihm nicht doch lieber alles anvertrauen sollte.

Nicht er allein war von diesem traurigen, aber entschlossenen Blick ergriffen. Denn Herr Van Burnam sagte jetzt in weit freundlicherem Tone als früher: Ich sehe, die Dame ist leidend. Ich bitte sie für meine unüberlegten Worte um Entschuldigung. Ich wollte nicht eine Unglückliche beleidigen.

Herr Gryce wurde aus diesen Worten gar nicht klug. Die Haltung des jungen Mannes war so ruhig und höflich! Nichts deutete darauf hin, daß er eine innere Unruhe unterdrückte oder sich zurückhielt, sein heimliches Entsetzen nicht laut zu äußern. Und Fräulein Olivers Blick war weder zornig noch verachtungsvoll, wie er es erwartet hatte. Der Detektiv wußte nicht, was er sagen sollte; so schwieg er und begnügte sich damit, das junge Mädchen unausgesetzt anzusehen. Ruth Oliver rückte noch mehr in ihre Ecke zurück und senkte die Augen. Da sagte Herr Gryce:

Fräulein Oliver, Sie können mir doch ruhig sagen, daß Sie diesen Herrn kennen, wenn er Sie auch nicht erkennen will.

Sie murmelte einige Worte, die er nicht verstand. Aber Howard warf ihm einen wütenden Blick zu und sagte schroff:

Wenn Sie glauben, daß dieses Mädchen mich kennt, oder vielmehr, daß ich sie kenne, so irren Sie sich gewaltig. Sie ist mir ganz unbekannt; ich erkläre das hiermit ausdrücklich. Und ich hoffe, daß meine Freiheit und mein guter Ruf nicht davon abhängen werden, was diese junge Dame zu sagen für gut finden wird!

Ihre Freilassung und Ihr Ruf werden nur von Ihrer Schuldlosigkeit abhängen, antwortete Herr Gryce kurz.

Er fühlte wohl, daß er von diesem kaltblütigen Mann und dieser schweigsamen Frau nichts erfahren würde.

Unterdessen war der Wagen rasch weiter gefahren, und man näherte sich bereits dem Polizeipräsidium. Herr Gryce fürchtete, daß Ruth Oliver sehr erschrecken würde, wenn sie merkte, wohin sie gefahren waren. Deshalb versuchte er, sie durch einige wohlwollende Worte aus ihrer Teilnahmlosigkeit zu reißen. Aber er hatte keinen Erfolg. Sie strengte sich zwar sichtlich an, seinen Worten zu folgen und ihren Sinn zu verstehen, aber ihre Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Sie ist ja in einem sehr traurigen Zustand, flüsterte Herr Van Burnam.

Ja, in einem sehr traurigen Zustand, wiederholte Herr Gryce. Doch der Mann, der sie betrogen hat, wird sich bald in einem viel traurigeren Zustand befinden. Diese Worte fügte er nach einer Pause erst hinzu, nachdem er gesehen hatte, wie Ruth Olivers Züge und Haltung immer entschlossener wurden.

Als der Wagen hielt, schrak sie aus ihren Gedanken auf. Sie hob den Blick wieder.

Ich möchte einen Polizeibeamten sprechen, sagte sie unvermittelt.

Herr Gryce hatte sofort seine sichere Haltung wiedergewonnen; er reichte ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, und sagte: Ich will Sie zu einem Kriminalinspektor führen.

Das junge Mädchen zögerte nicht länger. Ohne noch einen Blick auf Howard Van Burnam zu werfen, stieg sie aus und folgte entschlossen dem voranschreitenden Detektiv.

Kaum hatte sie die Schwelle des Gerichtsgebäudes überschritten, als sie innehielt und ihre Haltung sich wieder ganz veränderte.

Nein, sagte sie. Ich möchte erst nachdenken. Geben Sie mir Zeit zum Nachdenken. Ich darf kein Wort sagen, ehe ich nicht überlegt habe.

Die Wahrheit bedarf keiner Ueberlegung. Wenn Sie den Mann anklagen wollen – ihr Blick sagte, daß sie ihn anklagen wollte – dann ist es an der Zeit!

Sie sah ihn durchdringend an. Sie sind kein Arzt, erklärte sie. Sie sind ein Polizeibeamter?

Ich bin Detektiv.

Oh! Sie schrak zusammen und zögerte, ehe sie weitersprach: Das war also eine Falle. Kein Wunder, daß man mich gefangen hat. Aber ich bin keine Verbrecherin. Und wenn Sie hier etwas zu befehlen haben, so bitte ich Sie, mir erst eine kurze Unterredung mit einem Ihrer Vorgesetzten zu gewähren, ehe man mich einsperrt.

Ich werde Sie vor den Kriminalinspektor führen, sagte Herr Gryce. Aber wollen Sie allein hingehen? Wollen Sie nicht, daß Herr Van Burnam Sie begleitet?

Herr Van Burnam?

Ja, wollen Sie denn nicht ihn anklagen?

Ich will niemanden anklagen.

Aber was wollen Sie denn?

Führen Sie mich zu dem Herrn, der das Recht hat, mich hier zurückzuhalten oder mich gehen zu lassen. Ihm will ich es sagen.

Ganz wie es Ihnen beliebt, antwortete Herr Gryce. Und er führte sie vor den Kriminalinspektor.

Ruth Oliver war jetzt ganz anders als vorher, da sie so in sich zusammengesunken im Wagen gesessen hatte. Die Weichheit und Schüchternheit ihres Wesens war verschwunden; nur finstere Entschlossenheit und eine versteckte Drohung konnte man in ihrem Gesicht lesen. Ihr Benehmen war ruhig und sicher, und nur wenn man in ihre Augen blickte, verstand man, wie ihre Nerven aufs äußerste angespannt waren, und welche Mühe sie hatte, ihr Vorhaben jetzt auszuführen.

Ehe der Kriminalinspektor ein Wort an sie richten konnte, sagte sie:

Man hat mich zu Ihnen geführt, mein Herr, weil man glaubt, ich stehe in enger Verbindung mit einem entsetzlichen Verbrechen, bei dem ich auch wirklich anwesend war. An dem Verbrechen aber bin ich völlig unschuldig. Wie das Verbrechen geschehen konnte, kann Ihnen außer mir und dem Schuldigen niemand sagen. Den Schuldigen haben Sie nicht gefunden; ein völlig Unbeteiligter wurde verhaftet. Ohne meine Hilfe werden Sie den Schuldigen auch nie finden können; seinen Namen aber kann ich Ihnen jetzt noch nicht nennen. Lassen Sie mich jedoch zwei Wochen in völliger Freiheit, lassen Sie mich unbehindert tun, was ich will, und ich verspreche Ihnen, daß ich nach Ablauf dieser Zeit sagen werde, wer der Mörder der Frau Van Burnam ist.

Der Kriminalinspektor machte Herrn Gryce ein Zeichen, das bedeuten sollte: Sie ist verrückt!

Der Detektiv schüttelte den Kopf; er war durchaus anderer Meinung.

Ich weiß genau, setzte Ruth Oliver unbeirrt und ohne jegliche Schüchternheit fort, daß ein solches Ansinnen Ihnen unberechtigt und anmaßend erscheinen wird; aber bedenken Sie wohl: wenn ich Ihnen den Schuldigen nicht nenne, werden Sie seinen Namen nie erfahren. Und ich werde nie sprechen, wenn Sie mir nicht die Möglichkeit geben, meine Erklärung in der mir passenden Weise und zu der von mir festgesetzten Zeit abzugeben. Für all die Pein, die ich erlitten habe, will ich wenigstens eine Genugtuung haben!

Wie wollen Sie durch einen Aufschub für erlittene Unbill Genugtuung erlangen? fragte der Inspektor. Wäre es nicht eine größere Genugtuung für Sie, den Schuldigen jetzt schon anzuklagen und ihn nicht noch längere Zeit in Sicherheit zu wiegen?

Sie aber wiederholte nur: Lassen Sie mir zwei Wochen Zeit. Zwei Wochen völliger Freiheit.

Und alle Bitten, alle Vorstellungen fruchteten nichts. Sie bewahrte ihr hartnäckiges Schweigen und behielt ihre ruhige, sichere Haltung.

Der Inspektor zog den Detektiv beiseite. Sie glauben, daß sie nicht geisteskrank ist?

Sie ist durchaus vernünftig.

Und sie wird auch durch keine Ereignisse der nächsten Wochen in Gefahr kommen, ihr seelisches Gleichgewicht zu verlieren?

Wenn man ihr nicht entgegenarbeitet und ihr ihren Willen läßt, glaube ich nicht.

Sie sind sicher, daß sie mit dem Verbrechen in irgend einem Zusammenhange steht?

Sie war bei dem Morde zugegen.

Und Sie glauben, daß sie die Wahrheit spricht, wenn sie sagt, daß nur sie über das Verbrechen uns aufklären kann?

Ja, ich glaube nämlich, daß sie die einzige ist, die es tun will. Denn die Haltung der Van Burnams, besonders die von Howard, hat mir eben erst wieder gezeigt, daß wir von ihnen keine Aufklärung zu erwarten haben.

Und doch glauben Sie, daß auch die Brüder über die näheren Umstände des Mordes unterrichtet sind?

Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll. Ich muß mich diesmal als geschlagen bekennen. Die ganze Leidenschaft des jungen Mädchens schien mir durch den bloßen Anblick Howards erweckt worden zu sein, und doch scheinen die Gleichgültigkeit, mit der sie einander begegneten, und die jetzt zu Ihnen geäußerten Worte des Mädchens zu beweisen, daß zwischen ihnen kein näheres Band besteht. Dadurch wird auch die Frage von Howards Schuld völlig ausgeschaltet. Hatte sie aber vielleicht doch der Anblick Franklins so erregt? Und war die anscheinende Gleichgültigkeit nur das Resultat einer ungeheuren Selbstbeherrschung? Daran kann ich nicht so recht glauben. Die ganze Angelegenheit ist voll verwirrender Einzelheiten, die kein Gesamtbild ergeben. Entweder besitzen die Verbrecher eine geradezu übermenschliche Selbstbeherrschung und Kühnheit, oder wir befinden uns auf einer falschen Fährte.

Mit andern Worten, Sie haben alles versucht, um die Wahrheit zu erfahren? Sie haben kein Mittel außer acht gelassen, und es ist Ihnen doch nicht gelungen, den Schuldigen zu finden?

Ja, so ist es; ich muß es gestehen, so beschämt ich auch darüber bin.

Dann ist es also am besten, wir nehmen die Bedingungen an. Sie wird doch nicht fliehen?

Wir werden sie auch nicht einen Augenblick unbeobachtet lassen.

Dann wollen wir ihr den Willen tun.

Beide kehrten zu dem jungen Mädchen zurück, und der Kriminalinspektor fragte sie, ob sie nicht glaube, der Mörder könnte in der Zwischenzeit entfliehen.

Eine tiefe Röte bedeckte jetzt die Wangen des Mädchens, und sie rief leidenschaftlich:

Wenn er auch nur das geringste erfährt, daß ein Verdacht auf ihn gefallen ist, wird es mir nicht möglich sein, ihn an der Flucht zu hindern. Sie beide müssen mir also versprechen, daß Sie zu keinem Menschen von mir und meinen Plänen sprechen werden; es darf niemand erfahren, daß ich noch in New York und am Leben bin. Wenn Sie mir dieses Versprechen nicht geben, werde ich nicht einen Finger rühren, um Ihnen den Verbrecher auszuliefern, auch selbst dann nicht, wenn ein Unschuldiger für ihn büßen müßte.

Gut, wir versprechen es Ihnen, antwortete der Inspektor. Also, wann können wir Sie erwarten, um Ihre Aussagen entgegenzunehmen?

Genau in zwei Wochen, acht Uhr abends. Sie müssen mich dann begleiten, wohin ich auch gehe. Ich werde meine Hand auf den Arm eines Mannes legen. Dieser Mann wird Frau Van Burnams Mörder sein.

*


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