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Fünfzehntes Kapitel.

Eine lange Pause folgte, eine endlos lange Pause, so daß sogar mir, die ich mich sonst stets zu gedulden weiß, die Geduld riß. Mit dem nächsten Zeugen schien etwas nicht zu klappen. Der Coroner schickte wiederholt Herrn Gryce in das angrenzende Zimmer, und erst als die Ungeduld der Anwesenden sich laut zu äußern begann, trat ein Herr langsam vor, bei dessen Anblick die Bewegung im Saal noch größer wurde.

Ich kannte diesen Mann nicht. Es war ein schöner Mann, ein sehr schöner Mann; aber das war nicht der Grund, weshalb die Anwesenden die Hälse reckten, um ihn nur recht genau zu sehen. Die Leute waren von einem plötzlichen Enthusiasmus erfaßt, der sich in Lächeln, verständnisinnigem Winken und Flüstern äußerte. Am begeistertsten waren die Frauen. Auch die Geschworenen waren unruhig und starrten den jungen Mann unausgesetzt an.

Als ich endlich den Namen hörte, wunderte ich mich nicht mehr über die Ovation, die das Publikum dem jungen Mann gebracht hatte. Randolph Stone, der Verlobte der steinreichen Miß Althorpe, spielte in New York eine bedeutende Rolle. Nicht nur sein Aeußeres und sein Auftreten waren von größter Vornehmheit, auch sein Gesicht war von ganz außergewöhnlicher Schönheit. Von hervorragender Intelligenz, hatte er sich im Laufe von fünf oder sechs Jahren zu der hohen gesellschaftlichen Stellung hinaufgeschwungen, die er jetzt einnahm. Diese Vollkommenheit in jeder Beziehung erstaunte mich nicht wenig, obgleich von einem Manne, den Miß Althorpe zu heiraten einwilligte, nichts anderes zu erwarten war.

Ich hörte jemand hinter mir sagen: »Seit wann trägt er denn keinen Schnurrbart? Ich sehe ihn so zum erstenmal. Es steht ihm aber gut.«

.

»Ja,« ertönte von anderer Seite die Antwort, »Miß Althorpe wird ihn auch deshalb gebeten haben, sich den Schnurrbart abnehmen zu lassen.«

Darauf lachten die beiden. Ich aber dachte mir, Miß Althorpe hat ganz recht gehabt, wenn sie ihn darum gebeten hat. Sein außerordentlich weißer, zarter Teint kommt bei dem glattrasierten Gesicht noch mehr zur Geltung.

Als der neue Zeuge zu sprechen begann, klang seine Stimme so einschmeichelnd und wohltuend, wie nur andauernde Uebung und der Wunsch, zu gefallen, eine Stimme zu solchem Wohlklang bringen können.

Randolph Stone war ein guter Freund Howards. Das bewies mir der zwischen den beiden rasch gewechselte Blick, als Herr Stone den Saal betrat.

Aber er kam nicht zu einer freundschaftlichen Aussage her; das bewies Howards Erstaunen und das mitleidige Zögern des Zeugen selbst. Trotz seiner Selbstbeherrschung und der Achtung, die er Howard bezeugte, gab er auf alle mögliche Weise zu verstehen, wie leid es ihm tat, daß seine Aussage auch nur im geringsten Maße den Anschein von Howards Schuld vergrößern mußte, mit dem er doch mehr oder weniger intim war.

Er sagte aus, daß er in der Nacht des 17. September mit dringender Arbeit ungewöhnlich lange in seinem Bureau beschäftigt war. Da er vor Ueberarbeitung nicht einschlafen zu können befürchtete, war er anstatt in der 30. Straße, wo er wohnte, schon in der 21. Straße aus dem Zug ausgestiegen.

Das Lächeln, mit dem die Anwesenden die Aussage aufnahmen – Miß Althorpe wohnt in der 21. Straße – wurde von ihm nur mit einem Stirnrunzeln beantwortet, als ob er zu verstehen geben wollte, daß die Situation zu ernst wäre, um Scherz und Heiterkeit aufkommen zu lassen. Howard war gewiß der gleichen Meinung, denn als er die Worte »21. Straße« vernahm, warf er seinem Freunde einen verstörten, fassungslosen Blick zu, den zum Glück außer mir niemand sah, denn alle anderen waren vollauf mit dem Zeugen beschäftigt. Vielleicht aber sah auch Herr Gryce diesen Blick.

Ich hatte natürlich bloß die Absicht, einen kleinen Spaziergang zu machen, ehe ich nach Hause ging, sprach der Zeuge ernst weiter. Und es tut mir ungemein leid, daß ich genötigt bin, von dieser plötzlichen Laune hier sprechen zu müssen. Ich kam also über die 3. Avenue und ging in der Richtung nach dem Broadway weiter, so daß ich unweit des Hauses der Van Burnams vorbeikam.

Wann war das?

Gegen vier Uhr morgens. Ich verließ mein Bureau um halb vier.

War es um diese Zeit bereits hell? Konnte man die Dinge schon genau unterscheiden?

Es war schon ziemlich hell.

Und was sahen Sie? Etwas Ungewöhnliches an dem Hause der Van Burnams?

Nein, nichts Ungewöhnliches. Ich sah nur, wie Howard Van Burnam die Freitreppe herabkam, als ich gerade um die Ecke bog.

Irren Sie sich nicht? Sind Sie sicher, daß Herr Howard Van Burnam zu dieser Stunde auf der Freitreppe des Hauses seines Vaters stand?

Ich bin ganz sicher, daß er es war. Ich bedauere – –

Der Coroner ließ ihn den Satz nicht beenden. Sie sagten, Sie seien ein Freund des Herrn Van Burnam, und es sei hell genug gewesen, daß Sie ihn erkennen konnten. Hat auch er Sie gesehen? Und haben Sie ihn vielleicht angesprochen?

Nein. Ich dachte an – nun, ich dachte eben an etwas anderes. (Und diesmal unterdrückte er ein leises Lächeln nicht.) Auch Herr Van Burnam war ganz in Gedanken versunken, denn soviel ich weiß, schaute er gar nicht nach meiner Richtung hin.

Sie blieben nicht stehen?

Nein, er sah nicht aus, als ob ihm eine Störung willkommen gewesen wäre.

Und das war am 18. dieses Monats, um vier Uhr morgens?

Gegen vier Uhr.

Sie sind der Zeit und des Tages ganz sicher?

Völlig sicher. Ich würde nicht hier aussagen, wenn ich meiner Sache nicht eben ganz gewiß wäre. Ich bedauere – –

Wieder unterbrach ihn der Coroner: Bei einem solchen Verhör spielen persönliche Gefühle keine Rolle. Hierauf entließ er den Zeugen.

Herr Stone, der augenscheinlich wider Willen ausgesagt hatte, schien erleichtert aufzuatmen, als sein Verhör beendet war. Als er wieder nach dem anstoßenden Zimmer zurückschritt, achteten die meisten nur auf seinen eleganten Gang und seine stolze Haltung. Ich aber sah noch mehr. Ich sah den bedauernden Blick, den er seinem Freunde Howard zuwarf.

Als er gegangen war, herrschte ein peinliches Schweigen. Dann sagte der Coroner, zu den Geschworenen gewandt:

Meine Herren! Ueber die Bedeutsamkeit dieser Aussage müssen Sie selbst urteilen. Herr Stone ist allgemein als ein rechtschaffener Mann bekannt. Aber vielleicht kann uns Herr Van Burnam sagen, weshalb er um vier Uhr morgens dieser denkwürdigen Nacht wieder nach dem Hause seines Vaters zurückkehrte, wenn er, wie seine letzte Aussage lautete, seine Frau um Mitternacht dort noch am Leben und gesund verließ und später nicht nochmals sah. Ich will ihm die Gelegenheit dazu geben.

Das ist ja zwecklos, begann der junge Mann mit völlig gleichgültiger Stimme von seinem Platz aus zu sprechen, ohne sich auch nur zu erheben. Aber er bekam doch wieder Mut, stand plötzlich auf, schritt rasch vorwärts, blickte den Coroner und die Geschworenen offen an und sagte mit erzwungener Energie:

Ich kann auch das erklären, nur zweifle ich, ob Sie meiner Erklärung Glauben schenken werden. Ich war um diese Stunde vor dem Hause meines Vaters, aber nicht im Hause. Ich war sehr unruhig und wollte meine Frau aufsuchen. Da ich aber den Schlüssel nicht mehr in meiner Tasche fand, stieg ich die Freitreppe wieder herab und ging fort.

Ah, nun verstehe ich, weshalb Sie früher die Stunde nicht angeben wollten, zu der Sie den Schlüssel zuerst vermißten.

Ich weiß, daß meine Aussage voll Widersprüche ist.

Sie fürchteten zu sagen, daß Sie in jener Nacht ein zweites Mal beim Haus Ihres Vaters waren?

Natürlich. Ich merkte wohl, wie ich allen hier immer verdächtiger erschien.

Sie traten zum zweiten Male nicht wieder ins Haus?

Nein.

Sie schellten nicht?

Nein.

Weshalb nicht? Sie verließen Ihre Frau, als sie noch am Leben war?

Ich wollte sie nicht aus dem Schlaf schrecken! Ich hatte ja keinen besonderen Grund, sie sehen und sprechen zu wollen. Das kleine Hindernis ließ mich von meinem Vorhaben abstehen.

Zur Zeit, als Herr Stone Sie sah, gingen Sie also bloß die Freitreppe hinauf und gleich wieder hinab?

Ja. Wäre er eine Minute früher gekommen, so hätte er gesehen, wie ich die Treppe hinaufstieg und nicht nur, wie ich sie hinabging. Ich stand nicht lange an der Tür.

Aber Sie standen doch eine kurze Weile davor?

Ja, lange genug, um den Schlüssel zu suchen und meiner ersten Verwunderung Herr zu werden, als ich ihn nicht fand.

Sahen Sie Herrn Stone?

Nein.

War es bereits hell, wie Herr Stone aussagte?

Ja, es war bereits hell.

Und trotzdem sahen Sie ihn nicht?

Nein.

Sie folgten ihm aber doch, wahrscheinlich in ganz geringem Abstand?

Das weiß ich nicht. Ich ging durch die 20. Straße. Ich weiß nicht, weshalb ich gerade diesen Weg nahm, denn ich wohne in der entgegengesetzten Richtung. Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich in jener Nacht diesen oder jenen Schritt tat.

Das will ich Ihnen gerne glauben, bemerkte der Coroner.

Bei diesen Worten empörte sich Howard Van Burnam. Sie versuchen, mich mit dem Tod meiner Frau in dem unbewohnten Haus meines Vaters in Zusammenhang zu bringen. Es wird Ihnen nicht gelingen, denn ich bin an ihrem Tod ebenso unschuldig wie Sie oder irgend einer der Anwesenden. Auch habe ich nicht, wie Sie die Herren Geschworenen glauben lassen möchten, den Kasten auf sie herabgestürzt, als ich ahnungslos zum zweiten Male an der Tür des Hauses stand. Meine Frau hat sich selbst getötet oder sie ist durch einen Zufall ums Leben gekommen. Und das werden Sie schon herausfinden, wenn Gerechtigkeit die Untersuchung leiten und an Stelle der Voreingenommenheit bei den Herren Geschworenen überlegende Vernunft treten wird.

Er verneigte sich vor dem Coroner und wartete ruhig auf seine Entlassung. Als sie ihm bewilligt war, kehrte er nicht in seine einsame Ecke zurück, sondern neben Vater und Bruder, die ihn mit besorgten, halb hoffnungsvollen, halb ungläubigen Blicken ansahen.

Die Geschworenen werden ihr Urteil Montag früh abgeben, verkündete der Coroner und vertagte die Sitzung.

*


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