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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Diese Tatsachen erfuhr ich erst von Herrn Gryce, als er mich einige Tage später besuchte. An diesem Punkt seiner Erzählung angelangt, fragte er mich:

Sie möchten jetzt wohl gerne wissen, was aus Ruth Oliver geworden ist? Ich will Ihnen auch das sagen. Sie lebt jetzt bei Frau Desberger, einer Dame, die Sie kennen.

Bei Frau Desberger? Ich sagte ganz erstaunt: Und ich sah jeden Tag in den Zeitungen nach, um die Nachricht von ihrer Verhaftung zu lesen.

Das konnte ich mir denken. Aber wir Polizisten sind schlauer, als Sie annehmen. Wir wollen Ruth Oliver noch nicht verhaften. Sie könnten uns jetzt einen Gefallen tun. Ruth Oliver möchte Sie gerne sprechen. Wollen Sie sie besuchen?

Ich stehe gänzlich zu Ihren Diensten, antwortete ich, ohne durch den Ton meiner Stimme die Freude über diesen Auftrag zu verraten.

Dann gehen Sie, bitte, bald hin. Fräulein Oliver erwartet Sie ungeduldig. Sie ist zwar nicht mehr krank, aber sie ist in einem Zustand beständiger Erregung, der sie manchmal ganz unvernünftig erscheinen läßt. Ja, ich muß Ihnen gestehen, sie ist kaum mehr zurechnungsfähig; wir hindern sie in keiner Beziehung und lassen sie kommen und gehen, wohin sie will, nur um sie nicht noch nervöser zu machen. Wenn Sie uns also einen Dienst leisten wollen, so müssen auch Sie sie willig anhören und ihr bei der Ausführung ihrer Pläne behilflich sein, ohne ihr zu widersprechen. Aber diesmal arbeiten Sie für uns, für die Polizei, vergessen Sie das nicht, Miß Butterworth! Sie dürfen also diesmal nichts, aber auch nichts für sich behalten, was Ihnen Ruth Oliver anvertraut. Haben Sie mich auch verstanden?

Natürlich. Aber ich muß Ihnen gestehen, daß mir die Rolle, die Sie mir da so ohne weiteres zuweisen, gar nicht gefällt. Sie brauchten mir wirklich das alles nicht so ins Gesicht zu sagen und könnten sich auch ein wenig auf meinen Verstand verlassen.

Ach, geehrtes Fräulein, der Fall ist schon ein so schwieriger, daß wir jetzt nicht durch Zartfühligkeit und übergroße Rücksichtnahme etwas aufs Spiel setzen dürfen. Herrn Van Burnams Ruf und vielleicht sein Leben hängen von dem ab, was das junge Mädchen aussagen wird. Wollen Sie also den schwierigen Umständen einige Konzessionen machen?

Gewiß, das will ich. Aber ich hoffe nur, daß Fräulein Oliver mich nicht zu oft mit ihren flehenden Blicken ansehen wird. Ich werde mir sonst wie eine erbärmliche Verbrecherin vorkommen.

Wenn Sie nur deshalb zögern, so kann ich Sie versichern, daß ein solcher Blick Sie nicht oft treffen wird. Fräulein Oliver ist ganz verändert. Ihr ganzes Wesen ist hart und energisch geworden. In ihr brennt nur noch der Zorn gegen den Mann, der sie verraten hat, und ein täglich wachsender Rachedurst.

Ach Gott, seufzte ich, das tut mir leid, daß sie sich so verändert hat. Früher war sie mir so sympathisch! Aber was will sie eigentlich von mir? Nun, gleichviel, ich werde zu ihr gehen und sie nicht eher verlassen, als bis sie es ausdrücklich wünscht. Ich bin ja wirklich ebenso begierig wie Sie, die Lösung des Rätsels nun endlich einmal zu erfahren.

Es war noch keine Stunde verflossen, da saßen wir schon in Frau Desbergers Salon. Fräulein Oliver kam bald darauf herunter. Sie hatte ein Straßenkleid an.

Ich war zwar auf eine Veränderung in ihrem Wesen vorbereitet gewesen, aber mein Erstaunen über ihr Aussehen war doch so groß, daß sie es mir anmerkte und zu mir sagte:

Sie sind wohl überrascht, daß ich mich so vollständig erholt habe? Das verdanke ich aber zum Teil Ihnen. Sie sind sehr gütig zu mir gewesen und haben mich so aufopfernd gepflegt. Wollen Sie mir aber noch einen Gefallen erweisen und mir bei etwas helfen, was allein auszuführen ich nicht imstande bin?

Sie war stark gerötet, ihre Bewegungen waren nervös und hastig, und ihre Augen hatten einen Ausdruck, der mir ins Herz schnitt.

Gewiß will ich Ihnen helfen. Verfügen Sie nur über mich! Was soll ich für Sie tun?

Ich möchte mir eine Toilette anschaffen, eine sehr elegante Toilette. Wollen Sie mir die feinsten Geschäfte zeigen? Ich kenne New York nur wenig.

Ich dachte an die Warnung des Detektivs, ihr kein Erstaunen über ihre Pläne zu zeigen und auf alle ihre Wünsche ohne Entgegnung einzugehen. So versprach ich ihr, sie überall hinzuführen, wohin sie nur wollte.

Ich hätte ja auch Frau Desberger darum ersuchen können, meinte sie später, als sie ihren Hut aufgesetzt hatte und ihre Handschuhe zuknöpfte. Aber ihr Geschmack – und dabei warf sie einen Blick durch das Zimmer, – nun, sie liebt eben das Einfache nicht.

Das glaube ich auch, war meine lebhafte Entgegnung.

Wenn ich Sie nur nicht zu sehr bemühe. Ich möchte verschiedene Sachen kaufen, und alles muß sehr elegant sein.

Wenn Sie genug Geld haben, macht das keine Schwierigkeiten.

Oh, Geld habe ich.

Fräulein Oliver hatte einen dichten Schleier angelegt. Wenn Sie einem von Ihren Bekannten begegnen sollten, so stellen Sie mich bitte nicht vor, bat sie mich. Ich kann mit Fremden wirklich nicht sprechen.

Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, beruhigte ich sie.

An der Straßenecke blieb sie stehen. Wir wollen einen Wagen nehmen, sagte sie.

Ich gab einem vorbeifahrenden Kutscher ein Zeichen, und wir stiegen in seinen Wagen. Er führte uns zuerst zu Arnold.

Was für ein Kleid möchten Sie eigentlich kaufen? fragte ich, als wir den Laden betraten.

Eine Abendtoilette. Ein weißes Seidenkleid wäre mir das liebste.

Ich konnte einen Ausruf der Ueberraschung nicht unterdrücken. Aber ich machte diese Ungeschicklichkeit gleich wieder gut, indem ich sagte, daß auch mir weiße Seide als Abendkleid sehr geeignet schiene; wir gingen daher zuerst zu der Seidenabteilung.

Ich möchte alles Ihnen überlassen, sagte sie noch rasch, ehe ein Kommis nach unsern Wünschen fragte. Kaufen Sie, was Ihnen am geeignetsten erscheint, – kaufen Sie, als ob es für Ihre Tochter wäre, – als ob es für Herrn Van Burnams Töchter wäre. Es ist ganz einerlei, was es kostet. Ich habe fünfhundert Dollar bei mir.

Ich kaufte, wie sie es gewünscht hatte.

Und jetzt brauche ich Spitzen und alles was nötig ist, um das Kleid reich und schön zu garnieren. Dann brauche ich noch Ballschuhe und Handschuhe. Sie wissen selbst am besten, was ein junges Mädchen braucht, um elegant auszusehen. Ich möchte sehr elegant gekleidet sein, daß niemand etwas auszusetzen findet. Ich möchte sehr schön aussehen.

Gehen Sie denn auf einen Ball? fragte ich.

Ja, ich gehe auf einen Ball, antwortete sie, aber in so sonderbar schrillem Ton, daß die Leute im Geschäft sich nach uns umblickten.

Lassen Sie alles nach dem Wagen bringen, bat sie mich.

Sie folgte mir von einer Kaufabteilung zur andern, ohne was anderes zu sagen, als: Kaufen Sie, was Sie wollen. Kaufen Sie das Schönste und Teuerste. Ich verlasse mich ganz auf Sie. Kein einziges Mal hob sie den Schleier, um besser zu sehen, was ich auswählte.

.

Hätte mir Herr Gryce nicht so ausdrücklich aufgetragen, allen ihren Launen zu folgen, ich hätte es nicht unterlassen können, ihr doch einige tadelnde Bemerkungen zu machen. Es tat mir leid, zu sehen, wie das junge Mädchen alle ihre Ersparnisse verschleuderte, um solche Luxusartikel zu kaufen; es tat mir leid, ihr Geld verschleudern zu müssen, mehr noch als es mir wehe getan hätte, wäre es mein eigenes Geld gewesen.

Als alles, was ich für notwendig hielt, gekauft war und wir der Ausgangstür zuschritten, flüsterte mir Ruth Oliver plötzlich zu:

Erwarten Sie mich im Wagen. Ich habe noch etwas zu kaufen, ich will es aber allein kaufen.

Aber – wollte ich einwenden.

Ja, ich will noch etwas allein kaufen, und ich bitte Sie, mir nicht zu folgen, erklärte sie so energisch, daß ich zusammenschrak.

Ich sah keine andere Möglichkeit, einer Szene aus dem Wege zu gehen, als ihr den Willen zu tun. Aber ich verbrachte die nächste Viertelstunde in großer Sorge. Und als Fräulein Oliver zu mir in den Wagen stieg, blickte ich neugierig aus das Paket in ihrer Hand. Ich konnte aber den Inhalt nicht erraten.

Jetzt möchte ich zu einer guten Schneiderin fahren, die mir ein Kleid in drei Tagen fertigstellen kann.

Nach einigen vergeblichen Anfragen fanden wir eine Schneiderin, die den Auftrag übernahm und das Kleid pünktlich abzuliefern versprach.

Niemals werde ich das seltsame Benehmen des jungen Mädchens in dem kleinen Probiersalon und später auf der Rückfahrt zu Frau Desberger vergessen können! Scheinbar kalt und ruhig ließ sie die Schneiderin mit sich machen, was sie wollte, aber tief in ihren Augen lag ein Ausdruck des Schreckens, der das geheime Leid verriet, das sie ausstand.

*


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