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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Die folgende Nacht konnte ich kein Auge schließen, so sehr quälte mich die Erinnerung an jenen seltsamen gemischten Ausdruck in Gesicht und Haltung von Ruth Oliver und der Gedanke daran, was wohl diese plötzliche Wandlung in ihrem Wesen herbeigeführt haben konnte. Planlos gingen meine Gedanken bald hier- bald dorthin, bis ich mich endlich ärgerlich über mich selbst im Bette aufrichtete und den festen Entschluß faßte, auf dieselbe systematische Weise, die mir bisher in der ganzen Angelegenheit so gute Dienste geleistet hatte, auch diese neueste verblüffende Wendung zu untersuchen.

Zwar hatte Ruth Oliver versprochen, daß sie genau zwei Wochen nach dem Tage, an dem Herr Gryce mit ihr das verunglückte Experiment vorgenommen hatte, gegen acht Uhr abends die endgültige Aufklärung geben würde. Aber ich konnte mich beim besten Willen nicht der Befürchtung erwehren, daß, wenn sie wirklich die feste Absicht hatte, ihr Versprechen zu halten, doch vielleicht ihre bis aufs äußerste gespannte Nervenkraft versagen würde. Und dann, so großes Mitleid ich jetzt mit ihr empfand, ebenso wie mit Howard und Franklin, von denen der Verdacht, wenn er auch vermindert schien, doch noch immer nicht ganz genommen war, es reizte mich doch vor allem, selber einen Teil des Dunkels aus eigener Kraft zu durchdringen. Es empörte sich etwas in mir dagegen, daß ich, die ich das Hauptsächlichste geleistet hatte, um die Angelegenheit so weit vorwärts zu bringen, nun ganz zum Schluß eigentlich über das Wichtigste gerade so klug war wie zu Beginn und für die endgültige Lösung des Rätsels auf den guten Willen irgend eines anderen angewiesen war.

Ich erhob mich, zog mich wieder an und setzte mich in meinen Lehnstuhl, damit ich im Bette nicht doch etwa von der Müdigkeit überrumpelt würde. Von welchem Punkte mußte ich nun bei meinen Betrachtungen ausgehen? Zweifellos von der Szene vor dem Hause des Fräulein Spicer, als Ruth Oliver auch in dem zweiten Wagen nicht Fräulein Spicer erblickte, sondern Howard Van Burnam, woraus sie mit einem plötzlichen Entschluß zu ihm in den Wagen sprang. Von diesem Augenblick an hatte die Wandlung in ihr begonnen, die uns alle so in Erstaunen versetzte. Bis dahin hatte sie nicht einen Augenblick geschwankt, jede nähere Aussage über das Verbrechen, dem sie beigewohnt hatte, zu verweigern. Zuerst hatte ich wie Herr Gryce angenommen, daß sie – damit ihre frühere Bekanntschaft mit Howard Van Burnam zugestanden und, ob mit oder wider Willen, in ihm den Verbrecher bezeichnet hatte. Aber nach allem, was der Detektiv mir dann von ihrem und Howards Verhalten im Wagen erzählte und über das, was sie vor dem Kriminalinspektor gesagt und versprochen hatte, konnte meiner Meinung nach davon nicht mehr die Rede sein.

Herr Gryce schien es freilich noch immer nicht für völlig ausgeschlossen zu halten, daß doch jene Deutung von Ruth Olivers erstaunlichem Verhalten beim Anblick Howards die richtige war. Für mich aber gab es nur zwei Möglichkeiten: Ruth Oliver und Howard Van Burnam hatten eine außerordentlich geschickte Komödie gespielt, als sie sich nicht zu kennen schienen und verwundert taten, wie sie dazu kämen, einander in demselben Wagen gegenüberzusitzen; und Ruth Oliver hatte dann Herrn Gryce und den Kriminalinspektor mit Erfolg irregeführt, als sie erklärte, sie wäre nun entschlossen, den Verbrecher anzugeben. Dadurch, daß sie so genau Tag und Stunde angab, an dem sie die Hand auf den Mörder legen würde, hatte sie dann geglaubt, jeglichen Verdacht von Howard Van Burnam abzuwenden, da dieser ja noch immer im Untersuchungsgefängnis saß und sie gar nicht zu ihm gelangen konnte. Ihr Entschluß, zu Howard Van Burnam in den Wagen zu steigen, hätte dann also den Grund gehabt, daß sie daran verzweifelte, ihre Beziehungen zu ihm zu verheimlichen. Diese Verzweiflung aber hatte nur einen Augenblick gedauert, und in den wenigen Minuten, in denen die beiden allein im Wagen waren, bis Herr Gryce zu ihnen stieg, hatten sie sich zwar nicht über die Einzelheiten verständigen können, wohl aber wenigstens darüber, daß der Widerstand fortgesetzt werden müßte. Während nun Ruth Oliver mit dem Detektiv und Howard zum Kriminalinspektor fuhr, hatte sie mit erstaunlicher Geistesgegenwart die Grundzüge des Planes ausgedacht.

Aber was hatte Ruth Oliver inzwischen erreicht, wenn das alles so stimmte? Nur eine Verzögerung von zwei Wochen. Wenn sie dann ihr Versprechen nicht erfüllte, so mußte der Verdacht mit um so stärkerem Gewicht auf Howard fallen.

Vielleicht glaubte Herr Gryce tatsächlich, – wenn er auch so tat, als vertraute er Ruth Oliver bedingungslos, – daß sich alles so verhielt, wie ich es eben auseinandersetzte. Und deshalb gab er noch immer nicht zu, daß Howard Van Burnam für das Verbrechen nun ganz und gar ausscheide. Er wartete eben in aller Ruhe ab, bis Ruth Oliver durch ihr Benehmen und das Nichteinhalten ihres Versprechens dies alles noch bestätigte und er hoffte, sie dann auf Grund dessen auch zum Reden zu bringen. Ich aber glaubte nicht an Howards Schuld, wollte auch nicht an sie glauben, ehe nicht alle anderen Möglichkeiten erschöpft waren. Und es gab noch eine zweite Möglichkeit.

Als Ruth Oliver in dem ersten wie in dem zweiten Wagen ihr fremde Männer erblickte, von denen sie aber wohl ahnen konnte, daß sie Franklin und Howard Van Burnam waren, zwischen denen der Verdacht schwankte, jenen Mord begangen zu haben, war sie sich klar geworden, daß ihr nichts helfen würde, daß man sie immer wieder auf die Probe stellen und versuchen würde, sie zum Sprechen zu bringen. Sie war sich klar geworden, daß nichts sie davor retten würde, immer wieder von dieser Angelegenheit zu hören, an die auch nur von ferne zu denken sie mit einer wahnsinnigen Furcht erfüllte. Da entschloß sie sich, dem ein Ende zu machen; auch ihre Aufopferungsfähigkeit für jenen Mann, der das Verbrechen begangen und sie darein verwickelt hatte, hatte eine Grenze. Oder sie wollte zwar nach wie vor ihr Schweigen aufrecht erhalten, aber sie hoffte, wenn sie zwei Wochen Zeit gewann, Gelegenheit zur Flucht zu finden.

So wie mir Herr Gryce jedoch ihr ganzes Verhalten, ihren Gesichtsausdruck, den Ton ihrer Stimme während ihrer Anwesenheit auf dem Polizeipräsidium schilderte, und nach dem Eindruck, den ich selbst von ihr erhalten hatte, konnte ich doch nicht glauben, daß sie nur eine solche Verlegenheitsausflucht gebraucht hatte. Sondern die düstere Energie, die jetzt den Grundton ihres Wesens ausmachte, konnte nur daher rühren, daß sie entschlossen war, einen verzweifelten Kampf um das Leben des von ihr doch noch immer geliebten Mörders gegen die Justiz zu führen. Entweder kannte sie also Howard doch, und er war auch der Mörder, oder sie hatte wirklich die ernste Absicht, ihr dem Kriminalinspektor und Herrn Gryce gegebenes Versprechen zu halten.

Nahm man dies letztere an, so blieb freilich der plötzliche Umschwung in ihrem Verhalten doch noch immer unerklärlich. Daß sie bloß, um endlich Ruhe zu bekommen, den Mörder, den sie noch immer lieben mußte, angeben wollte, widersprach auch dem ganzen Eindruck, den sie auf mich gemacht hatte.

Immerhin wollte ich bei dieser Annahme, daß sie wirklich ihr Versprechen erfüllen wollte, einmal bleiben. Um mich nun in Ruth Olivers Seelenzustand versetzen zu können, als sie plötzlich zu – dem nach dieser Annahme ihr fremden – Howard in den Wagen sprang und den Entschluß faßte, den wirklichen Mörder nunmehr zu nennen, stellte ich mir noch einmal ganz genau die Szene an jenem Nachmittag vor dem Hause Fräulein Spicers vor. Es war vielleicht doch in diesem Bilde, das mir nun vor Augen stand, irgend eine bisher nicht genügend beobachtete Stelle, die mit jener plötzlichen Entschlußwandlung in Verbindung stand. Ich sah mich oben auf der Freitreppe stehen, Herrn Gryce hinter mir, im Hausflur durch das Fenster spähend; ich sah Ruth Oliver zu dem vordersten Wagen gehen, umkehren, die Treppe in die Höhe kommen und zum zweiten Wagen schreiten und dann, als sie den Wagen geöffnet hatte, plötzlich furchtbar zusammenfahren. Aber jetzt fiel mir ein, daß ich ja zu gleicher Zeit von links her den Wagen mit Fräulein Spicer, ihrer Nichte und deren Bräutigam hatte kommen sehen. Wie, wenn auch Ruth Oliver ihn gesehen und die Insassen erkannt hatte? Und deshalb schnell, um sich zu verbergen, zu Howard in den Wagen gestiegen war?

Auf den ersten Blick schien dies zwar etwas Unerklärliches mit ebenso Unerklärlichem verständlich machen zu wollen. Weshalb floh sie denn vor Fräulein Spicer, die sie doch hatte sprechen wollen? Nun, dafür konnte man schon einen Grund finden. Als sie Fräulein Spicer von einer Fahrt aus der Stadt kommen sah, statt daß sie unten wartete, wie Herr Gryce ihr gesagt, hatte sie vielleicht angenommen, daß man ihrer Versicherung, sie hätte zwar dem Verbrechen beigewohnt, aber keinerlei Anteil an ihm, nicht Glauben schenkte, da man solche Listen gegen sie anwandte. Vielleicht dachte sie nun, daß auch Fräulein Spicer von dieser List vorher gewußt habe und ebenfalls an ihre Mitschuld glaubte, oder sie wenigstens nicht für ausgeschlossen hielt; und in einem Gemisch von Scham und Zorn hatte sie sich einer Begegnung mit ihr entzogen. Ueberdies war Fräulein Spicer nicht allein, sondern in Gesellschaft des Brautpaares. Und nun, nachdem sie sich so vor Fräulein Spicer geflüchtet hatte, erfaßte sie ein heftiger Zorn gegen jenen Mann, den sie so lange geschont hatte. Jetzt zum erstenmal sah sie vielleicht wirklich ein, daß sie, wenn sie nicht sprach, doch der Mittäterschaft am Morde verdächtig wurde, und daß man ihren einfachen Unschuldsversicherungen keinen Glauben schenken würde, was sie bisher kindlicherweise doch immer noch angenommen zu haben schien. Dazu kam wohl noch, daß der Anblick des glücklichen Brautpaares die Erinnerung an ihr eigenes Unglück und den Zorn gegen den, der es veranlaßt hatte, besonders aufstachelte.

Bei diesem Punkt meiner Ueberlegung angelangt, mußte ich mir zwar eingestehen, daß das alles bloß Vermutungen waren, aber ich hatte doch das instinktive Gefühl, ich käme immer mehr auf den richtigen Weg. Als ich mir sagte, welchen Eindruck unter all diesen Umständen und bei ihrer seelischen Verfassung der Anblick des glücklichen Brautpaares auf Ruth Oliver machen mußte, fiel mir ein, was ich schon zu Herrn Gryce gesagt hatte: Ruth Oliver müsse nach ihren Aeußerungen über die Gefährlichkeit der Ehe selbst eine verheiratete Frau sein. Der Gedanke, der mir schon wiederholt flüchtig gekommen war, der Mörder wäre ihr Gatte, drängte sich mir – ich konnte mir selbst nicht genau die Gründe dafür sagen – jetzt wie ganz naheliegend auf.

Wenn diese Vermutung, die mir das Blut in den Adern erstarren ließ, aber etwa wirklich richtig war, und wenn Ruth Oliver den unter dieser Voraussetzung mir selbst nun entsetzlichen Entschluß gefaßt hatte, ihren Gatten als Mörder der Polizei zu überliefern, was bedeutete dann die von ihr geforderte, bis auf Tag und Stunde genau bestimmte Frist, und was bedeuteten die Einkäufe, die sie gestern mit mir gemacht hatte?

Unwillkürlich berechnete ich noch einmal das genaue Datum des Tages, an dem sie den Mörder der Justiz zu überliefern versprochen hatte. Es war der Tag, an dem Fräulein Spicer ihrer Nichte in ihrem Hause ein Abschiedsfest geben wollte, zwei Tage vor Fräulein Althorpes Hochzeit. Die Balltoilette, die Ruth Oliver gestern bestellt hatte, ihre Worte, die so schrill klangen: »Ja, ich gehe auf einen Ball!« all das trat mir nun in eine immer nähere Verbindung miteinander, so daß ich nicht mehr ruhig sitzen bleiben konnte, sondern erregt auf und ab ging. Sicher hatte Ruth Oliver von dem bei Fräulein Spicer bevorstehenden Fest gehört. Wenn sie mit Absicht nicht nur den Tag, sondern auch die Stunde, an dem das Fest beginnen sollte, als Endfrist angegeben hatte, war das am Ende mehr als Zufall? Hatte sie etwa die Absicht, auf diesem Fest zu erscheinen, und sollte dort die Entscheidung fallen? Dort, unter den angesehensten und reichsten Leuten New Yorks, sollte sich dort etwa der Mörder der Frau Van Burnam und Ruth Olivers Gatte befinden?

Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, so verwarf ich ihn wieder als ein durch nichts zu begründendes Hirngespinst. Ich sagte mir, daß ich nun doch mit meinem Nachdenken zu nichts gelangt wäre, und daß es besser sei, mich zu Bett zu legen, als solchen Phantastereien nachzuhängen.

Aber ich konnte mir nicht helfen: immer wieder mußte ich auf jenen Gedanken zurückkommen. Bald überlegte ich mir, ob ich nicht die Pflicht hätte, auf alle Fälle Fräulein Spicer vor einem etwaigen Skandal bei dem Feste, das sie ihrem Liebling gab, zu bewahren; bald überlegte ich mir, ob ich nicht doch Fräulein Spicers Einladung, die ich eigentlich schon abzulehnen beschlossen hatte, annehmen sollte; bald ließ ich die ganze Reihe der glänzenden Namen, die ich neulich auf die Einladungskuverts geschrieben hatte, an mir vorüberziehen. Aber fast alle, die dort erscheinen sollten, waren mir nur dem Namen nach bekannt, und so schwebte mir immer nur Herrn Stones Name vor, als der einzige, den ich von Ansehen kannte. Aber als mir auch die Tatsache, daß er gerade am Tage nach dem Mord sich den Schnurrbart hatte abnehmen lassen, auf einmal wie etwas Verdächtiges erschien, kam ich zu dem Schluß, daß ich heute nacht nicht gerade viel von der Geistesschärfe besäße, auf die ich mir sonst immerhin etwas einbildete, sagte mir selbst ein Wort, das ich hier lieber nicht wiederholen will, legte mich zu Bett und verbot mir jeden weiteren Gedanken.

Ich schlief denn auch schließlich ein. Es war aber ein sehr unruhiger und von schrecklichen Träumen erfüllter Schlummer; die Träume drehten sich natürlich alle um den Mord der Frau Van Burnam und die Entdeckung des Täters, und Herr Gryce, die beiden Brüder Van Burnam, Ruth Oliver und Herr Stone spielten darin eine große Rolle.

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