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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Sofort, nachdem ich Frau Desberger verlassen hatte, ließ ich mich zu Fräulein Spicer fahren, um mich unverzüglich zu vergewissern, ob die Unglückliche, die ich suchte, sich in ihrem Hause befand.

Sonntag abend sechs Uhr ist freilich keine günstige Zeit für einen solchen Besuch, und in diesem Falle war es um so weniger günstig, als ich bestimmt annehmen konnte, daß Fräulein Spicer, wenn sie überhaupt zu Hause war, Gäste haben würde. Sicher waren am Sonntag abend Fräulein Althorpe und ihr Bräutigam bei ihr, wenn nicht etwa Fräulein Spicer sich bei dieser befand.

Der Gedanke, Fräulein Spicer nicht zu treffen, erregte mich sehr, und ich atmete erst beruhigt auf, als ich hörte, sie wäre zu Hause.

Fräulein Spicer nahm mich in der liebenswürdigsten Weise auf und verstand ihre Ueberraschung so gut zu verbergen, wie es eben nur eine wirkliche Dame von Welt kann. Aber abgesehen von ihrem vornehmen und liebenswürdigen Wesen fühlte ich mich vom ersten Augenblick an zu Fräulein Spicer hingezogen. Ihre ganze Art strömte Güte aus und gab ihren früher gewiß sehr schönen Zügen etwas Rührendes.

Wir befanden uns in einem großen Salon; ich hörte deutlich aus dem Nebenraum die Stimme des Herrn Stone und eine jugendlich helle, weibliche. Sicher war es Fräulein Althorpes Stimme. Dennoch zauderte ich keinen Augenblick, von dem zu beginnen, was mich hergeführt hatte.

Sie werden sich wahrscheinlich sehr über meinen Besuch wundern. Ich habe nämlich vor einigen Tagen Ihre Annonce im »Herald« gelesen und komme aus diesem Grunde. Haben Sie unterdessen vielleicht schon jemand gefunden, der Ihnen zusagt?

O ja, ich habe ein junges Mädchen engagiert, das mir sehr gut gefällt.

Ach! Also Sie sind schon versorgt? Die Dame wurde Ihnen wohl empfohlen?

Nein, empfohlen wurde sie mir nicht; sie hatte nicht einmal Zeugnisse. Aber ihr Aeußeres und ihr Auftreten gefielen mir sehr, und sie wünschte so lebhaft, bei mir bleiben zu dürfen, daß ich den Versuch mit ihr machen wollte. Und ich bin außerordentlich zufrieden mit ihr! Das arme Mädchen!

Das arme Mädchen? Sie meinen wohl arm, weil sie wahrscheinlich wie so viele andere durch einen plötzlichen Umschwung des Schicksals gezwungen wurde, sich allein durchs Leben zu schlagen? Sie hat wohl ihre Eltern oder Anverwandten verloren?

Sie trägt keine Trauer, aber ein großes Unglück muß sie betroffen haben, denn sie ist sehr niedergeschlagen. Aber das interessiert Sie gewiß nicht, Miß Butterworth, – Sie wollten mir wahrscheinlich jemanden empfehlen?

Ich überhörte absichtlich die Frage. Ich dachte angestrengt nach, wie ich dieses Gespräch jetzt noch fortsetzen könnte. Sollte ich Fräulein Spicer ins Vertrauen ziehen oder auf Umwegen etwas zu erfahren suchen? Ich sah ihr Lächeln, und es wurde mir noch mehr bewußt, wie peinlich mein Schweigen war. Kurz entschlossen sagte ich:

Bitte, entschuldigen Sie mich, aber ich möchte Ihnen etwas mitteilen, was Ihnen vielleicht sonderbar erscheinen wird.

Bitte, sprechen Sie nur!

Nun, ich interessiere mich sehr für das junge Mädchen, das Sie bei sich ausgenommen haben, aber aus anderen Gründen, wie Sie vielleicht annehmen werden. Ich fürchte – ich habe allen Grund zu fürchten – – sie ist nicht gerade ein Mädchen, das man gern unter seinem Dach beherbergt.

Wirklich? Ja, da müssen Sie mir aber sagen, was Sie über das Mädchen wissen!

Ich schüttelte den Kopf und ersuchte sie, mir erst zu sagen, unter welchen Umständen das junge Mädchen zu ihr gekommen war und wie sie aussah.

Sie sieht sehr sanft aus, war die Antwort. Sie ist nicht gerade schön, aber ihr Benehmen, ihr Auftreten ist sehr sympathisch. Sie hat braunes Haar, braune Augen und einen reizenden Mund. Ja wirklich, sie sieht so bescheiden und dabei so damenhaft aus, daß ich mir nichts anderes wünschen könnte, als sie zu meiner Gesellschafterin zu machen. Sie ist sehr aufmerksam, sehr zuvorkommend; sie scheint sich auch hier ganz wohl zu fühlen, – nur sehr schweigsam ist sie und hat auch einen Hang zur Einsamkeit. Ich habe sie deshalb die ersten Tage viel sich selbst überlassen und habe nicht weiter versucht, sie zum Sprechen zu bringen. Aber was meinen Sie damit, unter welchen Umständen sie zu mir kam?

Ich meine, zu welcher Stunde und an welchem Tage? War sie ordentlich gekleidet, oder sah sie sehr ärmlich aus?

Sie kam an demselben Tage, an dem die Annonce erschien. Ich glaube, es war am 18. Sie war auch recht ordentlich gekleidet, ihre Kleider sahen ganz neu aus. Außer einer Handtasche hatte sie kein Gepäck.

Die Handtasche schien wohl auch neu zu sein? fragte ich.

Ich habe nicht darauf geachtet.

O, Fräulein Spicer! rief ich jetzt mit großer Lebhaftigkeit. Ich fürchte, oder vielmehr ich hoffe, es ist die Frau, die ich suche.

Die Frau, die Sie suchen?

Ja, aber weshalb ich sie suche, das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Ich muß meiner Sache erst ganz sicher sein, ich will keinen Verdacht auf eine Unschuldige laden. Das möchten Sie doch auch nicht?

Einen Verdacht? Meinen Sie etwa, daß das Mädchen nicht ehrlich ist? Mir wäre das sehr unangenehm, denn, wie Sie vielleicht gehört haben, heiratet meine Nichte, Fräulein Althorpe, und das Haus ist voll Anschaffungen für die Aussteuer, und – – Aber das kann ich nicht von ihr glauben. Es wird wohl etwas anderes sein?

Ich kann nichts Gewisses sagen. Ich fürchte nur – – Welchen Namen hat sie Ihnen angegeben?

Oliver, Ruth Oliver.

Könnte ich sie nicht sehen? bat ich zögernd.

Ja, wie soll ich das nur einrichten? antwortete Fräulein Spicer. Das junge Mädchen ist sehr scheu, zeigt sich auch nicht am Fenster; sie hat mich sogar gebeten, auf ihrem Zimmer essen zu dürfen, solange meine Nichte noch nicht verheiratet ist und allein oder mit ihrem Bräutigam oft Mahlzeiten bei mir einnimmt. Aber wir könnten ja auf ihr Zimmer gehen. Wenn mit ihr alles in Ordnung ist, wird sie sich vor einem Besuch nicht fürchten. Und wenn sie etwas Unrechtes vor mir verbirgt, so wäre ich Ihnen auf jeden Fall dankbar, wenn Sie es mir sagten.

Dazu bin ich gern bereit, antwortete ich.

Wir standen auf. Ich dachte angestrengt nach, um einen triftigen Grund zu finden, den ich dem Mädchen als Erklärung für meinen Besuch angeben könnte. Da wandte sich Fräulein Spicer nochmals zu mir:

Das Mädchen ist sehr nervös. Sie scheint einen großen Schreck durchgemacht zu haben. Bitte also, sie zu schonen, soweit Sie es nur können, geehrtes Fräulein Butterworth. Und erschrecken Sie sie nicht plötzlich durch eine vielleicht doch unberechtigte Anklage.

Nach diesen Worten öffnete sie die Tür zu dem Zimmer ihrer Gesellschafterin. Ich trat rasch ein. Die vermeintliche Ruth Oliver schlief. Die tiefe Stille des Zimmers, das in hellen, freundlichen Farben gehalten war, vor allem aber das schöne bleiche Weib, das in rührender Friedlichkeit auf dem Bette liegend schlummerte, übten auf mich eine überraschende Wirkung aus. Ich trat noch leiser auf und näherte mich nur zögernd dem Bette, das halb von Vorhängen verdeckt war; ich schob die Vorhänge beiseite und neigte mich über sie.

Ja, das war wirklich ein Madonnengesicht; trotz aller Versicherungen hatte ich nicht diese friedliche Unschuld und diese schwermütige Trauer auf dem lieblichen Gesicht zu finden erwartet. Und da diese Lieblichkeit mir so gar nicht mit dem Charakter der jungen Frau übereinzustimmen schien, bemühte ich mich, irgend eine Unregelmäßigkeit, irgend einen Fehler in ihren Zügen zu entdecken. Ich sah aber nur, wie der Ausdruck des Gesichts immer schmerzlicher und ängstlicher wurde, als ob sie schwer träumte.

Die unruhigen Augenlider, der zitternde Mund rührten mich gegen meinen Willen. Um meiner selbst wieder Herr zu werden, wollte ich die Schläferin aufwecken, als ich eine leise Hand auf meiner Schulter fühlte.

Ist es das junge Mädchen, das Sie suchen? fragte Fräulein Spicer.

Ich antwortete nicht, sondern blickte mich rasch im ganzen Zimmer um. Meine Augen fielen auf ein kleines, blaues Nadelkissen, das auf einem Tischchen lag.

Haben Sie diese Stecknadeln da hineingesteckt? fragte ich, anstatt zu antworten.

Nein, ich habe sie nicht hineingesteckt. Aber weshalb fragen Sie?

Ich zog eine schwarze Stecknadel aus meinem Gürtel und verglich sie mit den Nadeln des Kissens. Es waren dieselben großen schwarzen Stecknadeln. Das ist ja bloß eine Kleinigkeit, dachte ich, aber sie weist nach der Richtung hin, die ich verfolge. Und dann sagte ich laut zu Fräulein Spicer: Ich fürchte, sie ist es doch! Ich habe wenigstens keinen Grund, annehmen zu können, daß sie es nicht ist. Aber ich muß Gewißheit haben. Erlauben Sie, daß ich die Frau wecke?

O, mir scheint das grausam zu sein. Sie leidet wirklich schon genug. Sehen Sie doch nur, wie sie sich vor Schmerzen krümmt und wie sie stöhnt!

Ich glaube im Gegenteil, daß wir ihr nur Gutes tun, wenn wir sie aus ihren schmerzlichen Träumen herausreißen.

Nun, vielleicht, aber ich will lieber nicht dabei sein, wenn Sie sie wecken. Was wollen Sie ihr denn sagen? Wie wollen Sie Ihre Anwesenheit hier erklären?

Ich werde schon etwas finden. Wenn Sie wollen, so können Sie ja etwas zurücktreten. Aber hören Sie bitte unserem Gespräch zu. Ich trage die Verantwortung irgend eines Zufalls lieber nicht allein.

Fräulein Spicer, die mein ganzes Gebaren nicht verstand, warf mir einen Blick voll Fragen und Zweifeln zu, tat aber, um was ich sie gebeten hatte. Das Rauschen ihres Kleides schreckte die Schlafende etwas auf. Einen Augenblick später warf sie die Arme in die Luft und schrie:

»O, wie kann ich sie anrühren! Sie ist ja tot! Ich habe noch nie eine Leiche berührt!«

Vor Erregung zitternd trat ich zwei Schritte zurück. Fräulein Spicers Augen waren entsetzt auf mich gerichtet. Auch sie wollte aufschreien; ich machte aber eine gebieterische Geste, und so zog sie sich noch mehr in den Hintergrund zurück.

Ich trat jetzt wieder näher, legte meine Hand auf die Schlafende, die am ganzen Körper zitterte, und ich sagte:

Fräulein Oliver, wachen Sie auf! Ich soll Ihnen von Frau Desberger etwas ausrichten!

Sie wandte den Kopf mir zu, öffnete die Augen, sah mich erstaunt an und setzte sich dann langsam auf.

Wer sind Sie? fragte sie, wobei sie einen fremden, irren Blick auf mich und ihre Umgebung warf, bis er endlich auf Fräulein Spicer haften blieb, die, halb beschämt, halb mitleidig dreinsehend bei der Tür stand.

O, Fräulein Spicer, sagte sie jetzt in bittendem Ton, entschuldigen Sie mich! Ich wußte nicht, daß Sie mich brauchten. Ich bin eingeschlafen.

Diese Dame möchte mit Ihnen sprechen, entgegnete Fräulein Spicer. Es ist eine Freundin von mir, und Sie können sich ihr ruhig anvertrauen!

Anvertrauen? Sie wurde leichenblaß, und in dem Blick, den sie mir zuwarf, las ich Erstaunen und Entsetzen. Warum glauben Sie, daß ich jemandem etwas anzuvertrauen habe? Und wenn, so würde ich gewiß zuerst Ihnen alles sagen.

.

Ihre Stimme klang tränenerstickt; ich zwang mich, an das arme Opfer, das jetzt in Woodlawn begraben lag, zu denken, um nicht mehr Mitleid mit dieser Frau zu empfinden, als sie verdiente. Ihre Stimme, ihr Aeußeres waren mir ungemein sympathisch, aber das war noch kein Grund, um zu vergessen, was sie getan hatte.

Niemand verlangt Ihre vertrauensvollen Mitteilungen, protestierte ich. Wenn es auch einem jungen Mädchen nie schaden kann, sich durch Entgegenkommen gute Freunde zu gewinnen. Ich wollte Ihnen, wie schon gesagt, nur etwas von Frau Desberger ausrichten.

Ich bin Ihnen sehr verbunden, sagte sie, wobei sie heftig zitternd sich völlig erhob. Frau Desberger war sehr lieb zu mir. Was wünscht sie von mir?

Ich hatte mich also nicht geirrt! Sie gab zu, Frau Desberger zu kennen!

Sie wollte nur, daß ich Ihnen dies übergebe. Als Sie sich bei ihr umkleideten, muß es aus Ihrer Tasche gefallen sein! Und ich händigte ihr das kleine rote Nadelkissen ein, das mir die Van Burnamschen Mädchen überlassen hatten.

Das gehört mir nicht! Ich weiß nichts davon, – ich habe das nie gesehen! stammelte sie und blickte schreckerfüllt drein. Sie mußte die ganze Schreckensszene in jenem Haus, wo ich das Kissen her hatte, jetzt innerlich wieder erleben.

Wer sind Sie? fragte sie mich jetzt unvermittelt, indem sie ihre Augen gewaltsam von dem kleinen Gegenstand losriß, den ich ihr noch immer hinhielt, und mich anzublicken versuchte. Frau Desberger kann mir das nicht schicken! Ich – –

Sie tun gut, nicht weiter zu sprechen, bemerkte ich. Dann schwieg ich mit dem unangenehmen Bewußtsein, eine Situation herbeigeführt zu haben, aus der ich nicht mehr herauszukommen wußte.

Dieser Augenblick des Schweigens hatte genügt, um Fräulein Oliver die Selbstbeherrschung wiedererlangen zu lassen. Sie ging auf Fräulein Spicer zu.

Ich weiß nicht, wer diese Dame ist, noch was sie eigentlich von mir will. Aber ich hoffe, daß es sich nicht darum handelt, mich zu zwingen, Ihr Haus zu verlassen, das mein letzter Zufluchtsort geworden ist.

Fräulein Spicer war so sehr zugunsten der jungen Frau eingenommen, daß sie bei dieser rührenden Bitte den Schuldverdacht vergaß, der noch unaufgeklärt auf ihr lastete, und ihr freundlich lächelnd antwortete:

Es müßte schon etwas sehr Schlimmes sein, was mich bewegen könnte, mich von Ihnen zu trennen. Und ich habe soviel Vertrauen zu Ihnen, daß ich glaube, Sie würden in einem solchen Falle nicht länger bei mir bleiben wollen.

Es folgte ein neues Schweigen. Die junge Frau schien vor Erregung nicht sprechen zu können.

Gibt es irgendwelche Gründe, die mich hindern könnten, Sie in meinem Hause zu behalten, Fräulein Oliver? Ich bin überzeugt, daß Sie in diesem Falle mich freiwillig verlassen werden, wenn Sie bedenken, wie nahe die Hochzeit meiner Nichte bevorsteht, und wie ich schon Arbeit, Mühe und Sorgen genug mit den Vorbereitungen dazu habe.

Noch immer schwieg die junge Frau, nur ihre Lippen bewegten sich leise, als ob sie etwas sagen wollte.

Ich denke, Sie haben großes Unglück gehabt, versuchte Fräulein Spicer jetzt mit noch gütigerem Blick und Ton sie aufzumuntern. Und in diesem Falle soll Ihnen mein Haus eine Zuflucht, ein Schutz gegen alle Unbill sein. Nun, Fräulein Oliver, was können Sie mir darauf antworten?

Jetzt brach eine Flut von Worten über die Lippen des jungen Weibes: O, Sie sind meine Retterin! Glauben Sie mir doch nur! Von Unglück verfolgt bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe nichts Böses getan. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Sie verlassen müßte, wenn nur nicht mein heimlicher Kummer Ihnen lästig fällt.

War das die Sprache einer leichtfertigen Frau, die nur zufällig in den schrecklichen Mord verstrickt worden war? In diesem Falle war sie eine weit vollendetere Schauspielerin, als ich es nach Howards Beschreibung von ihr gedacht hätte.

Sie machen mir den Eindruck eines Mädchens, das die Wahrheit zu sprechen gewöhnt ist, sagte Fräulein Spicer. Dann zu mir gewandt, mit freundlichem Lächeln: Glauben Sie nicht, daß Sie sich doch geirrt haben, Fräulein Butterworth?

Ich hatte vergessen, sie zu bitten, meinen Namen vor der Fremden nicht zu erwähnen. Ich fürchtete, Ruth Oliver würde jetzt mit einem Schrei von mir zurückweichen. Aber sie zeigte sich nicht erregter als früher. Das überraschte mich, denn ich hatte ihr eine so große Selbstbeherrschung doch nicht zugetraut. Wenn sie meinen Namen, der mit dem Drama in Grammercy Park so eng verknüpft war, plötzlich nennen hörte, mußte sie sich doch verraten! Aber kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht.

Ich sah ein, daß ich gegenüber einem so gewandten Gegner meine Taktik ändern mußte. Deshalb antwortete ich mit meinem liebenswürdigsten Lächeln zu Fräulein Spicer gewandt: Vielleicht habe ich mich wirklich geirrt. Auch mir scheinen Fräulein Olivers Worte aufrichtig zu sein, und ich bin geneigt, wenn Sie selbst ihr Glauben schenken, es auch zu tun. Man kann ja so leicht zu falschen Schlüssen gelangen.

Ich steckte das Nadelkissen in meine Tasche, wobei ich eine Miene machte, als wäre mit den letzten Worten die Angelegenheit für mich endgültig erledigt. Meine Haltung schien auf die junge Frau den gewünschten Eindruck zu machen, denn sie lächelte leise, wobei sie zwei Reihen der schönsten weißen Zähne sehen ließ.

Entschuldigen Sie mich, Fräulein Oliver, sagte ich zu ihr, daß ich bei Ihnen so ungebeten eingedrungen bin.

Noch einen scharfen Blick warf ich über das ganze Zimmer und suchte mir die wenigen Sachen einzuprägen, die Fräulein Oliver gehören mochten; dann trat ich aus dem Zimmer. Fräulein Spicer folgte mir auf dem Fuße.

Die Sache ist viel ernster, als ich Ihnen zu verstehen gegeben habe, vertraute ich ihr jetzt an, sobald wir uns einige Schritte entfernt hatten. Wenn sie doch die Person ist, die ich meine, wird die Polizei benachrichtigt werden müssen, daß sie sich bei Ihnen befindet.

Sie hat also gestohlen?

Sie hat ein viel schwereres Verbrechen begangen.

Fräulein Spicer blickte ratlos um sich. Endlich sagte sie: Ich möchte gern meine Nichte und dann vor allem Herrn Stone um Rat fragen. Sein Urteil kann uns nützlich sein.

Ich möchte lieber niemanden ins Vertrauen ziehen – schon gar nicht einen Mann. Er würde nur Ihre Interessen wahrnehmen wollen und mit dem jungen Mädchen rücksichtslos umgehen. Und auch Fräulein Althorpe würde vor allem an Sie denken.

Ja, vielleicht haben Sie recht. Aber wie sollen wir allein uns Rat schaffen?

Das ist sehr einfach. Wir müssen, ohne weiter zu zögern, uns versichern, ob dieses Mädchen die Person ist, die unter anderem auch einige Gegenstände aus dem Haus einer meiner Freundinnen mitgenommen hat. Ist sie es, so finden wir gewiß in ihrem Zimmer oder auf ihr selbst die unwiderleglichen Beweise dafür. Ich nehme an, daß sie seit ihrer Ankunft bei Ihnen das Haus nicht verlassen hat?

Nein.

Und sie ist meist oben auf ihrem Zimmer geblieben? Ja, nur wenn ich sie brauchte, ist sie herab gekommen. So könnte ich alles, was ich wissen will, in ihrem Zimmer erfahren. Aber wie soll ich dort nachforschen, ohne sie zu verletzen?

Was möchten Sie eigentlich wissen, Fräulein Butterworth?

Ob sie fünf wertvolle Ringe bei sich hat.

Nun, Ringe lassen sich leicht verbergen.

Und sie verbirgt sie gewiß recht gut. Daran zweifle ich jetzt nicht mehr. Aber ich muß es auch beweisen können; eher ist es mir nicht möglich, die Polizei zu Hilfe zu nehmen.

Ja, jetzt müssen wir beide die Wahrheit wissen. Armes Mädchen! In einem solchen Verdacht zu stehen! Wie groß muß die Versuchung gewesen sein!

Wenn Sie mir nur vertrauen wollen, Fräulein Spicer, so werde ich alles in Ordnung bringen.

Ja, wie soll ich das tun?

Das Mädchen ist krank, lassen Sie mich sie pflegen.

Sie ist krank?

Ja, oder sie wird doch spätestens morgen früh krank sein. Sie fiebert jetzt schon hochgradig. Sie hat sich soviel gegrämt, daß sie davon krank geworden ist. Ich will sie aber auch gewiß gut pflegen.

Das hatte ich auf einen mißtrauischen Blick Fräulein Spicers noch rasch hinzugefügt. Nach einigem Nachdenken erhielt ich die Antwort:

Sie stellen mich vor ein schwieriges Problem. Doch immerhin scheint mir das besser zu sein, als das arme, vielleicht unschuldige Wesen fortzujagen oder gleich die Polizei zu holen. Aber meinen Sie, daß sie Sie in ihrem Zimmer dulden wird?

Ich glaube ja; wenn ihr Fieber steigt, wie ich sicher annehme, wird sie sich wenig um das kümmern, was um sie herum vorgeht. Ich kenne mich bei solchen Krankheiten gut aus.

Und während sie bewußtlos ist, wollen Sie das Zimmer und sie selbst durchsuchen?

Schauen Sie nicht so entsetzt drein, Fräulein Spicer. Ich habe Ihnen versprochen, daß ich sie nicht quälen werde. Sie wird sich gewiß nicht ohne Hilfe auskleiden können. Und dabei werde ich wohl gewahr werden, ob sie etwas auf sich verbirgt.

Ja, das wäre möglich.

Jedenfalls werden wir dann klüger sein, als jetzt. Also soll ich es versuchen, Fräulein Spicer?

Ich kann nicht nein sagen, kam es langsam und zögernd von ihren Lippen. Es scheint Ihnen so viel daran zu liegen.

Ja, ich habe auch alle Ursache dazu, ich tue es auch aus Rücksicht auf Sie.

Daran zweifle ich gar nicht. Aber kommen Sie doch jetzt mit mir zum Abendbrot.

Nein, ich danke. Bemühen Sie sich nicht weiter um mich, ich brauche nichts für mich. Aber lassen Sie bitte meinem Stubenmädchen, das unten im Wagen auf mich wartet, sagen, sie möge nach Hause fahren und über meine Abwesenheit nicht in Sorge sein. Und bitte denken Sie jetzt nicht weiter an diese Ruth Oliver und an das, was ich von ihr wissen will.

*


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