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Zweiunddreißigstes Kapitel.

Herr Gryce besitzt ein Talent, um das ich ihn wirklich beneide. Das ist die Gewandtheit, mit der er seine Leute zu behandeln versteht. Er war noch nicht fünf Minuten bei Fräulein Spicer, und schon hatte er ihr Vertrauen gewonnen und konnte ganz nach seinem Belieben in ihrem Hause schalten und walten. Wieviel Worte hatte ich dagegen verschwenden müssen, um Fräulein Spicers Argwohn zu besiegen. Ihm genügte ein Wort und ein Blick, und schon gehorchten ihm alle.

Fräulein Oliver, nach der ich mich zuerst nicht zu erkundigen wagte, aus Furcht, ich könnte erfahren, daß sie wieder geflohen sei, fühlte sich bedeutend wohler; ich hoffte daher, daß es uns ein leichtes sein würde, sie zum Geständnis zu bringen und das Rätsel zu lösen. Aber Herr Gryce war anderer Meinung, denn als wir vor Ruth Olivers Tür standen, sagte er:

Unsere Aufgabe ist jetzt nicht leicht. Gehen Sie doch zuerst hinein, Miß Butterworth, und unterhalten Sie sich lebhaft mit dem jungen Mädchen; ich möchte dann unbemerkt eintreten. Ich will sie erst etwas beobachten, ehe ich zu ihr spreche. Aber ja kein Wort von dem Mord! Ueberlassen Sie das mir.

Ich nickte zustimmend. Dann klopfte ich leicht an und trat ein. Im Zimmer saß ein Stubenmädchen; es trat mir entgegen und sagte leise: Sie schläft!

Ich will Sie ablösen, sagte ich und winkte Herrn Gryce.

Das Stubenmädchen verließ das Zimmer, und schweigsam blickten Herr Gryce und ich auf die Schlafende. Nach einer Weile sah ich Herrn Gryce den Kopf schütteln. Er erklärte mir aber nicht, was das heißen sollte.

Seinem Wink folgend setzte ich mich an das Kopfende des Bettes; er setzte sich an die Seite des Bettes in einen großen Lehnstuhl, den er vorsichtig heranschob. Sein Gesicht hatte einen überaus milden und gütigen Ausdruck angenommen.

Die Schlafende regte sich nicht; bleich und eingefallen waren ihre Wangen, tiefe Schatten lagerten unter den Augen, und die langen, dunklen Wimpern verschärften noch den krankhaften Eindruck des Gesichts.

Und so traurig war das Gesicht! Ich wußte, der Eindruck, den mir Ruth Oliver in diesem Augenblick machte, würde mich lange Zeit verfolgen.

Herr Gryce hatte wohl ähnliche Gedanken, denn der wohlwollende Ausdruck in seinem Gesicht prägte sich noch deutlicher aus, je länger er die Schlafende betrachtete. Plötzlich bewegte sich das junge Mädchen. Der Detektiv warf mir einen warnenden Blick zu, neigte sich dann über die Kranke, befühlte ihren Puls und zog seine Uhr aus der Tasche.

Durch diese Haltung täuschte er das Mädchen. Sie hatte die Augen geöffnet, sah Herrn Gryce lange aufmerksam an, seufzte dann tief auf und sprach:

.

Sagen Sie nicht, daß es mir besser geht, Herr Doktor. Ich will nicht länger leben.

Der jammernde Ton, die müde Stimme schienen Herrn Gryce zu verwundern. Er ließ die Hand des jungen Mädchens los und sagte freundlich:

Das gefällt mir nicht, so traurige Worte von so jungen Lippen sprechen zu hören. Aber Ihre Worte bestätigen mir, was ich von allem Anfang an glaubte, daß Sie weniger eines Arztes bedürfen als eines Freundes. Und wenn Sie mir erlauben, will ich gerne dieser Freund sein.

Gerührt blickte sie ihn an. Mich sah sie nicht, sie glaubte mit dem Arzt allein zu sein, und sie antwortete sanft:

Sie sind sehr gut, Herr Doktor, sehr zartfühlend, aber – hier verfiel sie wieder in ihre Verzweiflung – Sie können mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen.

Das bilden Sie sich bloß ein, schalt Herr Gryce liebevoll. Aber Sie kennen mich eben nicht, liebes Kind. Sie werden sehen, daß ich Ihnen nützlich sein kann. Bei diesen Worten zog er ein Päckchen aus der Tasche und öffnete es vor den erstaunten Augen der Kranken. Gestern haben Sie in Ihrem Delirium diese Ringe in einem Bureau in der Stadt bei Bekannten von mir vergessen. Da die Ringe sehr wertvoll sind, habe ich sie Ihnen gleich zurückgebracht. Habe ich nicht recht getan, liebes Kind?

Nein! O nein! Sie hatte sich aufgesetzt, und in ihrer Stimme zitterten Furcht und Entsetzen. Ich will die Ringe nicht mehr haben. Ich kann sie gar nicht sehen. Sie gehören mir auch gar nicht. Sie gehören ihnen.

Ihnen? Wen meinen Sie damit? fragte Herr Gryce einschmeichelnd.

Die – die Van Burnams. So heißen sie doch? O, verlangen Sie nicht, daß ich darüber spreche. Ich bin ja so krank. Nehmen Sie die Ringe fort, bitte, nehmen Sie sie fort!

Gerne, liebes Kind, gerne. Die Stimme des Detektivs klang väterlicher, wirklich aufrichtig und zärtlich. Ich will sie fortbringen. Aber welchem der Brüder soll ich sie übergeben? Franklin oder Howard? Die Namen hatte er zögernd ausgesprochen.

Ich dachte, auf diese liebevollen Worte würde sie auch antworten. Aber trotz des hohen Fiebers, trotz ihrer großen Erregung hatte sie sich doch noch in der Gewalt. Sie warf ihm einen langen Blick zu, der ihn zu rühren schien, dann stammelte sie:

Das ist mir ganz gleichgültig. Ich kenne sie alle beide nicht. Aber ich denke, die Ringe müssen Howard gebracht werden.

Eine längere Pause folgte. Herr Gryce klopfte nervös mit der Handfläche auf seine Knie. Schließlich bemerkte er:

Sie meinen also den, der verhaftet ist? Der andere, Franklin, ist, soweit ich gehört habe, bis jetzt von der Polizei nicht belästigt worden.

Ihre Lippen blieben fest verschlossen.

Er wartete.

Noch immer keine Antwort.

Wenn Sie keinen der beiden Brüder kennen, wie kamen Sie denn dazu, die Ringe in deren Bureau abzugeben?

Ich hatte ihre Namen erfahren, ich hatte den Weg zu ihrem Bureau erfragt. Jetzt ist mir das alles wie ein Traum. Bitte, o bitte! Fragen Sie mich nicht weiter, Herr Doktor! Sehen Sie denn nicht, daß ich das jetzt nicht ertragen kann?

Er lächelte und tätschelte ihr die Hände. Ich sehe, Sie leiden darunter, gab er zu. Aber ich bin genötigt, Ihnen diese kleinen Schmerzen zuzufügen, um Sie dann von all den Sorgen zu befreien. Wenn Sie mir nur alles sagen möchten, was Sie von diesen Ringen wissen –

Sie wandte leidenschaftlich den Kopf ab.

Vielleicht kann ich Sie dann wieder gesund und glücklich machen. Sagen Sie mir nur, in welches Drama Sie durch diese Ringe verwickelt sind.

Sie zuckte zusammen.

Sie scheinen zu wissen, daß die Ringe der ermordeten Frau Van Burnam gehörten?

Ein erneutes Zusammenzucken.

Wie kommen aber Sie, liebes Kind, zu diesen Ringen?

Sie wühlte nun nicht mehr ihren Kopf in die Kissen, sondern flüsterte die Worte: Ich war dort.

Das wußten wir bereits. Und doch, es war schrecklich, von diesen kindlichen, unschuldsvollen Lippen das entsetzliche Geständnis zu vernehmen. Aber noch schrecklicher waren die Worte, die sie im nächsten Augenblick ausstieß, als ob ihr Gewissen sie gezwungen hätte, die ungeheure Last von sich abzuwälzen.

Ich habe die Ringe genommen. Ich konnte nicht anders handeln. Aber ich habe sie nicht behalten. Ich bin keine Diebin, Herr Doktor. Was man mir auch vorwerfen kann, ich bin keine Diebin!

Ja, ja, das weiß ich. Aber warum mußten Sie die Ringe nehmen, liebes Kind? Was machten Sie überhaupt dort in dem Haus, und mit wem waren Sie dort?

Sie bewegte die Arme und antwortete nicht.

Wollen Sie es mir nicht doch sagen? bat er.

Noch ein kurzes Schweigen; dann ein leises »Nein!«

Herr Gryce stieß einen Seufzer aus. Seine Aufgabe war schwerer durchzuführen, als er gedacht hatte.

Fräulein Oliver, sagte er, man weiß mehr über diese unselige Affäre, als Sie vermuten. Zuerst hatte man keine Ahnung davon, aber man ist jetzt zu der Gewißheit gekommen: der Mann, der die unglückliche Frau in das Haus brachte, ist Franklin Van Burnam.

Wir hörten nur ein Aufschluchzen.

Sie wissen, daß das die Wahrheit ist, Fräulein Oliver?

O, müssen Sie mich denn fragen? Sie warf sich stöhnend in ihrem Bett herum, und ich dachte, Herr Gryce würde aus reinem Mitleid jetzt mit seinen Fragen aufhören. Aber die Detektivs scheinen aus härterem Stoff gemacht zu sein, als wir »alte Jungfern«. Er sah zwar recht betrübt aus, fragte aber doch weiter.

Liebes Kind, nur der aufrichtige Wunsch, Ihnen zu helfen, zwingt mich, Sie mit Fragen zu martern. Sind nicht Sie die Frau, die um Mitternacht mit jenem Mann in das Van Burnamsche Haus trat?

Ja, die bin ich.

Es war um Mitternacht?

Ja.

Und mit diesem Mann?

Schweigen.

Antworten Sie doch, Fräulein Oliver.

Das Schweigen dauerte an.

Also Franklin war mit Ihnen im Hotel D.?

Sie stieß einen Schrei aus.

Und Franklin riet Ihnen, sich neue Kleider und Wäsche bei Altman zu bestellen?

Oh! rief sie bloß.

Weshalb also soll nicht auch er der Mann gewesen sein, der Sie zu der Wäscherei des Chinesen führte und später nach dem Haus in Grammercy Park?

Sie wissen alles, stöhnte sie. Sie wissen ja doch alles!

Verbrechen bleiben in dieser Welt nicht lange verborgen, Fräulein Oliver. Die Polizei weiß alles, was Sie von dem Moment an getan haben, als Sie das Hotel D. verließen. Deshalb habe ich solches Mitleid mit Ihnen, und ich möchte Ihnen helfen, den Folgen aus dem Wege zu gehen, denen Sie ausgesetzt sein könnten, da Sie beim Verbrechen zugegen waren. Denn Sie waren bloß zugegen, Sie sind nicht mitschuldig –

Oh! rief sie jetzt halb unfreiwillig, wenn Sie mir nur helfen könnten, daß ich nicht in diese Sache hineingezogen werde. Wenn Sie mir helfen könnten zu fliehen!

Aber Herr Gryce war nicht der Mann, sie zu solchen Plänen noch zu ermutigen.

Das ist mir unmöglich, Fräulein Oliver. Sie sind die einzige Person, die über das Verbrechen etwas aussagen kann. Wenn auch ich Sie entfliehen lassen wollte, die Polizei würde Sie daran verhindern. Also weshalb wollen Sie mir nicht lieber gleich sagen, wer die Hutnadel aus Ihrem Hut herauszog und –

Schweigen Sie! rief die Gemarterte. Schweigen Sie! Sie töten mich ja! Ich kann das nicht aushalten, ich werde noch verrückt, wenn Sie davon sprechen! Ich sehe wieder all das Schreckliche vor mir auftauchen. Um Gottes willen, schweigen Sie!

Jetzt spielte sie uns keine Komödie vor; in wirklicher Todesangst bat und flehte sie um Gnade. Der Detektiv war sogar über diesen Ausbruch, den er veranlaßt hatte, sehr erschrocken und konnte lange nichts erwidern. Aber dann zwang ihn die Notwendigkeit, sich vor einem neuen Irrtum schützen und die Schuldfrage jetzt endgültig feststellen zu müssen, zu den Worten:

Es haben schon viele andere Frauen so gehandelt, wie Sie. Ich meine nämlich, daß sie sich freiwillig für den Schuldigen, der ihnen teuer war, opferten. Aber Ihnen wird die Aufopferung nichts nützen, Fräulein Oliver, die Wahrheit wird sich doch herausstellen. Vertrauen Sie sich lieber mir an, der Ihnen wohl will und Ihnen gute Ratschläge geben wird.

Sie wollte jedoch nichts davon wissen.

Mich kann niemand verstehen, ich verstehe mich selbst nicht! Ich weiß nur noch, daß ich mich vor allen Menschen hüten muß und zu niemand mehr Vertrauen haben darf. Ich werde nichts mehr sagen. Sie wandte sich von ihm ab und vergrub ihr Gesicht tief in die Kissen.

Jeder andere Mann hätte jetzt die Geduld verloren. Aber Herr Gryce wartete einen Augenblick, bis sie sich etwas erholt hatte, dann sprach er langsam:

Sie werden auch dann nichts sagen, wenn es Ihnen schwerer fallen sollte, zu schweigen, als zu sprechen? Selbst dann nicht, wenn man glauben wird, – ich werde es nie glauben, denn ich bin von Ihrer Unschuld überzeugt – also selbst wenn die Leute glauben sollten, daß Sie an dem Tode der Frau schuldig sind?

Ich! – – Man konnte nicht mehr im Zweifel über den Grund ihres Entsetzens sein. Das Schweigen, das diesem einen Worte folgte, war ausdrucksvoll genug.

Alle Welt wird es glauben, die guten wie die schlechten Menschen. Er wird die Welt nicht eines Besseren belehren. Die Männer sind so rücksichtslos.

Ach ja! O weh mir! stöhnte sie fassungslos. Sie zitterte so heftig, daß das Bett unter ihr zu erbeben schien. Aber weiter war nichts aus ihr herauszubringen; der Detektiv mußte sich als besiegt ansehen.

Nach einer längeren, peinlichen Pause begann er wieder zu sprechen, diesmal in tief betrübtem Ton.

Es gibt nur wenige Männer, die einer solchen Aufopferung wert wären, Fräulein Oliver, und ein Verbrecher ist ihrer keinesfalls wert. Aber durch solche Gedanken lassen sich Frauen nicht bewegen. Doch eines sollten Sie bedenken: vielleicht ist ein Unschuldiger angeklagt, und vielleicht wird auch ein Unschuldiger verurteilt werden. Wenn einer der beiden Brüder das Verbrechen begangen hat, so sollten Sie aus Rücksicht auf den Unschuldigen den Namen des Verbrechers nennen.

Nicht einmal diese Worte machten Eindruck auf sie.

Ich werde keinen Namen nennen, sagte sie.

Sie brauchen nur ein Zeichen zu geben.

Ich werde kein Zeichen geben.

So wird also Howard die Anklagebank betreten!

Sie seufzte, antwortete aber nicht.

Und Franklin, der Schuldige, wird ungestraft davonkommen?

Sie bemühte sich, die Antwort zu unterdrücken, aber sie entschlüpfte ihr wider Willen.

Wie Gott will, sagte sie. Ich kann nichts dazu tun. Von Schmerz überwältigt, halb ohnmächtig, sank sie in die Kissen zurück. Herr Gryce machte nun keinen weiteren Versuch, die Wahrheit zu erfahren.

*


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