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Vierunddreißigstes Kapitel.

Für mich war das etwas ganz Neues, Herrn Gryce blindlings zu folgen. Aber die letzten Tage und Wochen hatten mir gezeigt, daß es nicht gut ist, sich immer nur auf sich selbst zu verlassen, und so wollte ich diesmal seinem Scharfsinn vertrauen, ohne weiter zu grübeln.

Pünktlich um drei Uhr stieg ich mit der Rekonvaleszentin die Treppe herab. Im Hausflur wartete der Detektiv auf uns. Als er uns sah, eilte er uns entgegen und stützte sorgfältig das Mädchen, das von der Anstrengung des Herabsteigens ganz erschöpft war und sich nur mühsam aufrecht hielt.

Ich freue mich, zu sehen, wie gut Sie sich bereits erholt haben, sagte er. Ich hatte Ihnen ja prophezeit, daß in einigen Tagen alles gut sein würde.

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu.

Sie scheinen über alles so gut Bescheid zu wissen, Herr Doktor! Wollen Sie mir nicht sagen, wohin man mich jetzt führt?

Schon hatte Herr Gryce die Troddel eines Vorhangs erfaßt und prüfte sie aufmerksam. Ganz plötzlich und scheinbar unmotiviert fragte er:

Haben Sie schon Fräulein Spicer Adieu gesagt?

Das junge Mädchen warf einen Blick nach der Salontür und sagte leise:

Man hat mir nicht die Gelegenheit dazu gegeben. Aber ich möchte, ehe ich fortgehe, ihr danken für all die Liebe und Güte, die sie mir bewiesen hat. Ist sie im Salon und kann ich zu ihr gehen?

Herr Gryce ließ die Troddel los.

Fräulein Spicer ist, wie ich glaube, soeben in einen Wagen eingestiegen, der vor der Tür hält. Sie wollte einen Besuch machen. Aber sie sagte mir, sie möchte Sie noch gern sehen; sie wollte warten, bis Sie herabkämen.

O, wie gut sie ist! kam es über die bleichen Lippen des Mädchens. Schwankenden Schrittes eilte sie zur Tür, die Herr Gryce ihr zuvorkommend öffnete.

Zwei Wagen standen vor dem Hause. Herr Gryce zeigte auf den ersten und sagte ganz ruhig:

Sie wartet wirklich noch auf Sie! Treten Sie an den Wagen heran und öffnen Sie nur ruhig den Schlag. Sie hat Ihnen noch etwas zu sagen.

Fräulein Oliver schien erstaunt zu sein, aber sie gehorchte. Sie stützte sich schwer auf die Brüstung und ging langsam zum Wagen heran.

Ich blieb auf der Schwelle stehen. Herr Gryce stand hinter mir im Hausflur. Wir beide wandten kein Auge von Fräulein Oliver. Sie war jetzt an den Wagen herangetreten, hatte aber kaum den Schlag geöffnet, als sie ihn auch schon wieder zuschlug und, zu Herrn Gryce gewandt, betreten sagte:

Sie haben sich geirrt, es ist ein Herr in dem Wagen!

Herr Gryce, dem offenbar sein Anschlag, von dem er viel erwartet hatte, mißlungen war, sah sie erst eine Weile aufmerksam an, ehe er leichthin antwortete:

Ich habe mich geirrt? Das ist möglich! Dann wird Fräulein Spicer wohl in dem andern Wagen warten.

Ruhig wandte sich Ruth Oliver dem zweiten Wagen zu. Ich hatte jetzt verstanden, was der Detektiv im Sinne hatte, und ich dachte, daß, wenn das Mädchen über die Person, die in dem ersten Wagen saß, nicht weiter überrascht war, sie im nächsten Augenblick dafür sicher Zeichen großer Erregung geben würde.

Meine Erwartung wurde nicht getäuscht. Kaum hatte das junge Mädchen den Schlag des zweiten Wagens geöffnet, so erzitterte sie, schwankte und fiel wie leblos auf das Trottoir nieder; doch sie richtete sich im nächsten Augenblick mit übermenschlicher Anstrengung auf und warf sich in den Wagen, dessen Schlag sie heftig hinter sich zuschlug; im selben Augenblick zogen die Pferde an; der Wagen machte Fräulein Spicers Equipage Platz, die herangekommen war.

Nun, was ist das? kam es von des Detektivs Lippen. Die widersprechendsten Gefühle klangen in diesen Worten durch: Aerger, Freude und Erstaunen. Ich überlegte nicht lange, sondern stürzte auf den Wagen zu, um zu sehen, wer denn die Person war, über die Fräulein Oliver zuerst so erschrocken war, und zu der sie sich dann geflüchtet hatte. Aber im nächsten Augenblick befand ich mich Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe gegenüber, denen Herr Stone aus ihrem Wagen geholfen hatte, und ich war mir sofort der sonderbaren Situation bewußt, in der ich mich da vor den Damen befand. Ich wollte lange Erklärungen und Entschuldigungen machen, aber Herr Gryce kam mir mit seinem in schwierigen Lagen ganz außerordentlich feinen Takt zu Hilfe. Es gelang ihm, die Aufmerksamkeit der Damen auf sich zu lenken, so daß beide sich gar nicht bewußt wurden, in welch kritischem Augenblick sie gerade gekommen waren.

Indessen war der Wagen, in dem Fräulein Oliver saß, auf ein Zeichen des Detektivs dem andern Wagen gefolgt, und beide fuhren nun in raschem Tempo von dannen, ohne daß ich erfahren hätte, wer denn eigentlich in diesen Wagen saß.

.

Rasch verabschiedete ich mich von den Damen und von Herrn Stone, der unterdessen die Freitreppe hinaufgestiegen war und Herrn Gryce anhörte. Dann eilte ich mit langen Schritten in der Richtung von dannen, welche die Wagen eingeschlagen hatten. An der nächsten Ecke sah ich den einen Wagen halten.

Aber Herr Gryce lief noch schneller als ich. Ohne sich um mich zu kümmern, ohne nur an den Pakt zu denken, den wir doch stillschweigend eingegangen waren, sprang er in den Wagen, rief dem Kutscher gebieterisch etwas zu, und fort waren sie. Alles, was ich gesehen hatte, war ein Zipfel des grauen Kleides von Ruth Oliver.

Fest entschlossen, mich von diesem schlauen Detektiv nicht nasführen zu lassen, wandte ich mich nach der andern Straße, in die der zweite Wagen gefahren war. Jetzt war er schon fast an die Avenue herangekommen, mußte aber stehenbleiben, weil gerade viele Personen den Weg kreuzten. Ich lief so rasch ich konnte und erreichte ihn noch rechtzeitig genug, um sehen zu können, daß in dem Wagen, dessen Vorhänge halb herabgelassen waren, Franklin Van Burnam saß.

Was sollte ich denken? Daß der Herr, der vermutlich in dem andern Wagen sich befand, Howard Van Burnam war, und daß Herr Gryce jetzt wußte, mit welchem der beiden Brüder Ruth Oliver durch das schreckliche Geheimnis verbunden war?

*


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