Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Das Grab der Mutter.

Eine Allerseelengeschichte.

Die ganze Nacht hatte Betty geopfert, am Morgen kam sie mit der halbvollendeten Arbeit eine Stunde früher ins Geschäft und blieb über die Mittagstunde, damit sie die dringende Arbeit nur ja bis vier Uhr nachmittags abzuliefern vermöchte. Außerdem hätte sie es niemals wagen dürfen, sich von ihrem strengen Chef für den Rest des Nachmittags freizubitten. Daß draußen im Friedhof das kaum überwachsene Grab ihrer Mutter noch ohne Schmuck war für den Tag der Toten – was kümmerte das den Mann, der nichts anderes kannte, als sein Geschäft und seinen Vorteil. Als Betty nun zu ihm kam mit der fertigen Arbeit, nickte er wohl auf ihr Ersuchen ein verdrossenes Ja, doch als sie mit scheuen, stammelnden Worten die Bitte vorbrachte, der Herr möchte ihr den halben Verdienst der Woche ausbezahlen, war ein kurzes Nein die Antwort. Zahltag wäre übermorgen. Die Thränen schossen ihr in die Augen – aber sie schwieg und ging. Sie hatte ja vorausgewußt, daß es so kommen würde, und da war nur gut, daß sie sich in den letzten Tagen den Bissen vom Munde abgespart hatte.

Als sie auf die Straße trat, überkam es sie in ihrer Erregung und Übermüdung wie ein Schwindel. Einige Sekunden stand sie an die Mauer gelehnt, dann raffte sie sich auf und eilte mit hastigen Schritten einer langen, laut belebten Straße entgegen. Sie durfte ja keine Minute verlieren, wenn sie den Friedhof vor Thorschluß noch erreichen wollte. Auf halbem Wege trat sie in einen kleinen Blumenladen und erstand für die paar Kreuzer, die ihr vom Verdienst der letzten Woche noch geblieben waren, einen armseligen Kranz. Mit ängstlicher Sorgfalt behütete sie die spärlichen Blätter, während sie auf dem von Menschen erfüllten Trottoir ihrem Ziel entgegeneilte. Mit der einen Hand hielt sie den Kranz an sich gedrückt, mit der anderen deckte sie zur Not die Flügel ihres Mäntelchens darüber, und so eilte sie dahin, in sich versunken, und sah die Leute nicht, die sich an ihr vorüberdrängten, und am allerwenigsten gewahrte sie die zudringlichen Männeraugen mit den neugierigen und begehrlichen Blicken, die der schlanken, jugendlichen Gestalt und dem hübschen Köpfchen galten, dessen sanfte Züge umrahmt waren von schimmerndem Blondhaar.

Nur einmal, als sie ihrem Ziel schon nahe war, blickte sie auf. Da ging sie gerade an dem Hof eines Steinmetz vorüber, und hinter dem luftigen Holzgitter sah sie in Reih und Glied die schimmernden Grabsteine und die weißen Monumente stehen, die eines Käufers warteten. Ein Seufzer stieg aus ihrer Brust. Wie lange, lange müßte sie sparen, bis sie das Grab ihrer lieben Mutter mit solch einem Steine schmücken konnte – und wenn es auch nur der kleinste wäre von all den vielen Steinen, die sie da drinnen stehen sah. Ihre Schritte verzögerten sich, nun kam sie am offenen Thor vorüber, an dessen Pfosten gelehnt ein junger Steinmetz stand, eine gesunde, jugendlich-kräftige Gestalt, mit verstaubtem Schurzfell angethan, in der einen Hand den Meißel, in der anderen den hölzernen Schlegel. Als er das Mädchen gewahrte, richtete er sich auf und machte zwei große Augen. Die Blicke der beiden begegneten sich – und Betty verstand das herzliche Wohlgefallen, das aus diesen zwei blauen, freundlichen Augen sprach. Eine feine Röte überhuschte ihre Wangen, und mit gesenktem Köpfchen eilte sie hastig vorüber. Ihre Hände zitterten, denn sie empfand es wie einen bitteren Vorwurf, daß auf dem Wege, den sie ging, in ihrem Innern sich auch noch Raum fand für einen anderen Gedanken, als nur für den Gedanken an ihre tote Mutter. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, hastiger und hastiger wurden ihre Schritte.

Es dämmerte schon, als sie den Friedhof erreichte, aus dessen steinernem Thor die Menschen in schwarzer Schar hervorströmten; sie alle hatten die Pflicht gegen ihre Toten schon erfüllt, und nun traten sie den Heimweg, die einen mit ernsten, verweinten Gesichtern, die anderen mit gleichgültigen Mienen, und wieder andere mit lautem Geplauder und mit einem Lachen, das dem einsamen Mädchen in die Seele schnitt. Wie kann man lachen, wenn man von den Gräbern seiner Lieben kommt!

Betty hatte Mühe, durch das Thor sich hindurch zu drängen, und als sie sich seitwärts zwischen die Gräber wenden wollte, wurde sie von einem Wächter angerufen: »Sie! Junges Fräulein! sie müssen sich eilen! In einer halben Stunde wird das Thor geschlossen.«

Betty nickte nur und eilte davon. Zwischen reich geschmückten Gräbern ging ihr hastiger Weg dahin, bis sie endlich in einer verlorenen Ecke vor einem kleinen, schmucklosen Hügel stand. Ein schwarzes Holzkreuz, aus plumpen Pfosten gefügt, stak in der Erde, und über dem verwelkten Gras – dem ersten, das den frischen Hügel überwachsen hatte – lagen die dürren Reste weniger Kränze.

»Mutterl!« brach es mit schluchzendem Laut von Bettys Lippen, und die hellen Thränen fielen über ihre Wangen, während sie in die Knie sank und mit zitternden Händen den bescheidenen Kranz, den sie gebracht, auf dem Hügel zurecht legte. Dann kauerte sie sich auf die Erde nieder, lehnte das Köpfchen an das hölzerne Kreuz – und die Hände im Schoß gefaltet, mit nassen Augen an dem Hügel hängend, begann sie zu beten.

Und während ihre Lippen leise raunten, Gebet um Gebet, schauten die Augen ihrer Seele zurück in die vergangene Zeit, zurück in die Kindheit, in der sie den Vater verloren, zurück in die stillen Jahre, in denen die Mutter ihr einziges Kind mit der Arbeit ihrer Hände ernährt und mit der schlummerlosen Sorge ihres liebenden Herzens behütet hatte. Dann war sie groß gewachsen, die kleine Betty, und hatte den müden Händen der Mutter die Arbeit abgenommen. Wohl mußte sie vom frühen Morgen an den ganzen langen Tag von der Mutter ferne sein – doch nach dem Tagewerk kamen die lieben, freundlichen Stunden des Abends. An diese Stunden dachte sie nun, und da sah sie das arme, kleine Stübchen vor sich, welches doch so traulich war, denn zwischen den kahlen Wänden wohnte die Liebe und das zufriedene Genügen. Dort in der Ecke stand der Tisch, erleuchtet von der kleinen Hängelampe, und bestellt mit dem bescheidenen Mahl. Plaudernd aßen sie zusammen, dann nahm die Mutter den Strickstrumpf in die welken Hände, und Betty holte das alte dicke Legendenbuch herbei und las der Mutter vor.

Versunken in dieses Bild, vergaß sie, daß sie in dunkelnder Nacht dem hölzernen Kreuz zu Füßen saß, sie hörte nicht den Schall der mahnenden Glocke, ihre Lider waren geschlossen, in trautem Erinnern spielte ein sanftes Lächeln um ihre Lippen, sie sah die Mutter vor sich, wahrhaftig und lebend, sie hörte leise die emsigen Nadeln klappern, die eigene Stimme glaubte sie zu hören, mit der sie die Geschichte der heiligen Genofeva las . . . die Lieblingsgeschichte der Mutter . . . in den Singsang ihrer Stimme mischte sich der tickende Pendelschlag der kleinen Uhr, das sachte Knistern des im Ofen erlöschenden Feuers, all' diese traulichen Töne vereinigten sich in ihrem Ohr zu einem schmeichelnden Summen, welches sanfter und sanfter klang . . . wie ein Wiegen und Schaukeln befiel es ihre schweren Glieder . . . Müdigkeit und Erschöpfung griffen nach ihrem Rechte . . . und über Bettys Augen senkte sich der Schlaf, ein fester, traumloser, dumpfer Schlaf.

* * *

Der Morgen des Allerseelentages graute, als Anton Berger, der junge Steinmetz, den Friedhof betrat, um die Arbeit nachzusehen, die seine Gesellen am verwichenen Abend vollendet hatten. Während er den Weg zwischen den Gräbern suchte, hörte er plötzlich in seiner Nähe eine grobe, scheltende Männerstimme und die schluchzende Stimme eines Mädchens. Horchend blieb er stehen, und aus den Worten, die er hörte, glaubte er zu verstehen, daß es sich um die Verhaftung einer Blumendiebin handle. Hastig wand er sich zwischen den reichgeschmückten Grabsteinen hindurch, jetzt sah er den scheltenden Wächter und die vermeintliche Diebin . . . und das erschrockene Aufleuchten seiner Augen bewies, daß er das Mädchen wieder erkannte. Auch Betty erkannte ihn, und da riß sie sich mit aller Kraft von den Fäusten los, die sie gefaßt hielten, stürzte ihm entgegen, und während sie in verzweifelter Angst mit zitternden Händen seinen Arm umkrampfte, schluchzte sie: »Helfen Sie . . . helfen Sie mir!«

»Um Gotteswillen,« stammelte er, »was ist denn geschehen?«

Betty brachte kein Wort mehr über die Lippen, die Knie versagten ihr und weinend preßte sie das zuckende Gesicht wider den Arm des jungen Mannes.

Nun trat der Wächter heran. »Lassen Sie sich mit Der nicht ein, Herr Berger, wenn ich Ihnen raten darf.«

»Aber Mensch, wie kommen Sie denn dazu . . . was hat denn das Mädchen gethan?«

»Die ganze Nacht ist sie im Friedhof gewesen . . .«

»Die ganze Nacht?«

»Ja, und was wird sie wollen haben: Blumen und Kränze stehlen!«

»Nein, nein . . . das ist nicht wahr!« schluchzte Betty mit versagender Stimme.

»Nein, liebes Fräulein, nein, das glaub' ich auch nicht!« sagte der junge Mann mit herzlichen Worten, während er die schwielige Hand wie schützend über Bettys Haar streifte. »Und Sie . . . lassen Sie das arme Mädchen in Ruhe.«

»Na, meinetwegen, Herr Berger,« brummte der Wächter, »gefunden hab ich ja nichts bei ihr . . . und wenn Sie für die Person einstehen wollen . . .«

»Ja, ich stehe ein, für alles! Kommen Sie, Fräulein, kommen Sie, ich will Sie zu einem Wagen führen. Sie können ja nicht mehr stehen vor Schwäche . . .« Und er griff mit seinen zwei gesunden Armen zu, richtete sie empor und führte sie dem Thor entgegen. »Aber sagen Sie mir nur, ums Himmelswillen, was ist Ihnen nur eingefallen . . . die ganze Nacht . . .«

»Ich weiß es ja selbst nicht, wie es gekommen ist,« stammelte sie unter Thränen. »Ich habe einen Kranz gebracht . . . für das Grab meiner Mutter . . .«

»Ja, ja, ich weiß,« sprudelte es über seine Lippen, »und es ist mir auch aufgefallen, daß Sie nicht mehr zurückgekommen sind. Aber ich dachte mir, daß Sie vielleicht einen anderen Weg genommen hätten.«

In ihrer Schwäche und Erschöpfung fiel ihr der verräterische Sinn dieser Worte gar nicht auf. Sie schüttelte nur den Kopf. »Nein . . . es war so spät am Abend . . . ich habe mich ein wenig niedergesetzt . . . ich war so todmüde von der Arbeit . . . und . . .« Nein! Daß sie zwei Tage kaum einen Bissen genossen hatte, das wollte sie ihm doch nicht gestehen, ». . . und . . . und da bin ich eingeschlafen, ohne daß ich es merkte . . . und als ich erwachte, mitten in der Nacht . . .« Sie verstummte. Ein Schauer überflog sie bei der Erinnerung an die grauenvollen Stunden, die sie zwischen den Gräbern verbracht hatte, in dunkler Nacht, eingeschlossen im Friedhof. Schwerer und schwerer stützte sie sich auf den Arm ihres Führers, und als sie das Thor erreichten, war es zu Ende mit ihrer Kraft.

»Jesus Maria!« stammelte der junge Mann, aber mit entschlossenen Armen griff er zu, hob die Ohnmächtige an seine Brust empor, und unbekümmert um das Gaffen und Lachen der Leute, trug er sie quer über die Straße hinüber seinem nahen Hause zu.

Unter der Thüre kam ihm seine Mutter entgegen, eine behäbige, freundliche Frau. Sie machte wohl große Augen, als sie den Gast gewahrte, den der Sohn ihr über die Schwelle trug. In fliegenden Worten erklärte er der Mutter alles, während er die Bewußtlose in die Stube trug und auf das Sofa legte. Dann mußte er das Zimmer verlassen. Als er nach einer Weile wieder eintreten durfte, hatte sich Betty erholt und streckte ihm mit dankbarem Lächeln die blasse, zitternde Hand entgegen. Frau Berger humpelte geschäftig davon, um heißen Thee zu bereiten; den mußte Betty trinken und dazu mußte sie ausführlich berichten, wie alles gekommen war, mußte von ihrer Mutter erzählen, von ihrem Leben . . .

Wortlos und lauschend hing der große, lange Mensch an ihren Lippen; aber jede Zähre, welche über Bettys Wangen rieselte, brachte eine merkwürdige Unruhe über ihn. Und was Frau Berger zu allem dachte, was sie hörte und sah, das ließ sich ohne Mühe von ihrem freundlichen, zwischen Lachen und Thränen zwinkernden Gesichte lesen.

Als dann Frau Berger einmal abgerufen wurde, saßen die beiden allein und wußten kein Wort zu reden. Betty hob wohl in einer mutigen Anwandlung die Blicke, aber als sie zwei gewissen, blauen Augen begegnete, wandte sie das Gesicht dem Fenster zu. Durch die blinkenden Scheiben sah sie den weiten Hof und die ernste, steinerne Gesellschaft, die da draußen stand in Reih' und Glied.

»Das sind so wunderschöne Steine . . . da draußen,« lispelte sie mit dünner Stimme.

»Ja, ja, es ist schon was Ordentliches darunter . . . tüchtige Arbeit.«

»Und . . . so ein Stein ist wohl . . . sehr teuer?«

»Ja . . . das heißt . . . mit Unterschied.«

»Was würde wohl einer kosten . . . so einer . . . von den billigsten?«

Da legte sich eine schwere, aber warme Hand über ihre Finger; sie zuckte wohl ein klein wenig, aber sie zog ihre Hand nicht zurück.

»Sie möchten wohl so einen Stein haben . . . für Ihr Mutterl?«

Sie nickte. Gleich aber fügte sie mit hastigen Worten bei: »Nicht jetzt . . . in zwei, drei Jahren einmal.«

Der Meister Steinmetz überlegte. Dann plötzlich rückte er näher, legte zu der einen Hand die andere und sagte: »Wissen Sie was, Fräulein: Ich schlag' Ihnen etwas vor. Machen wir ein Geschäft, ich setze Ihrem Mutterl den Stein . . . gleich morgen . . . den schönsten aus meiner Werkstatt, ja, und den zahlen Sie mir so nach und nach ab . . . wissen Sie . . . auf Raten . . . so . . . zum Beispiel . . . fünfzig Kreuzer jede Woche. Was meinen Sie?«

Jetzt schaute sie ihn mit großen Augen an. »Fünfzig Kreuzer . . . jede Woche . . . aber . . . aber das würde sehr lange dauern?«

»Ja, ja, . . .« und der Meister Steinmetz rückte wiederum näher, »ja . . . da müßten Sie schon sehr oft zu uns herauskommen.«

Das war nun doch gar zu deutlich, als daß es nicht hätte verstanden werden müssen. Über Bettys Wangen flog eine brennende Röte . . . und es war nur gut, daß in diesem Augenblick Frau Berger das Zimmer betrat. Da konnte sich Betty erheben, um sich mit stammelndem Danke zu verabschieden. Fast hätte sie dabei vergessen, dem Meister Steinmetz eine Antwort auf seinen Vorschlag zu geben. In ihm aber war der Geschäftsgeist nun einmal erwacht, und er wollte sich den lockenden Vorteil so leicht nicht mehr entschlüpfen lassen. Das merkte man an der auffälligen Hast, mit welcher er Bettys Hand ergriff und sagte: »Na also, Fräulein, unser Geschäft ist gemacht! Wenn Sie wieder Zeit haben . . . übermorgen . . . oder morgen . . . dann gehen wir miteinander hinüber, und Sie zeigen mir den Platz!«

Betty brachte kein Wort hervor, sie schaute nur mit zagenden Blicken zu ihm auf, nickte ihm zu, und dann eilte sie hastig davon, um die Thränen zu verbergen, mit denen sich ihre Augen füllten.

Als ihre leichten Schritte verhallten, begann Frau Berger den Tisch zu räumen, und dazu sagte sie mit verstecktem Lächeln: »Du, Toni . . . soviel ich da noch gehört hab' . . . das ist ja ein recht gutes Geschäft, das Du heut gemacht hast!« Wie merkwürdig sie dieses »gut« betonte.

»O, die zahlt schon,« erwiderte der Meister Steinmetz, während er das Gesicht an die Fensterscheiben drückte, um besser auf die Straße sehen zu können. »Das muß ein gutes, kreuzbraves Mädel sein!«

»Ja, kreuzbrav . . . das muß wahr sein.«

Eine kleine Pause trat ein.

»Und . . . sauber ist sie auch.«

»Ja, bildsauber!«

Wieder eine Pause. Dann klang es vom Fenster her, mit etwas diplomatischem Ton: »Die thät mir gefallen!«

»Mir auch!«

Zwei ellenlange Schritte – und der Meister Steinmetz stand am Tische, faßte mit beiden Händen den grauen Kopf der Mutter und drückte einen schallenden Kuß auf ihre faltige Wange.

 


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