Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das sprechende Buch.

Inmitten des weiten Tannenwaldes lag eine kleine Laubinsel. Ein Dutzend herrlicher Buchen standen hier im Kreise und wölbten ihre Zweige und Blätter zu einem prächtigen Laubdach ineinander, welches die leuchtende Sonne kaum in haarfeinen Strahlen zu durchdringen vermochte. Goldige Schatten zitterten über dem Grunde, auf welchem einzelne blühende Gräser schlank emporstiegen aus dem weichen, tiefgrünen Moos. Glitzernde Fliegen summten in der Runde, ein Trauerfalter gaukelte zwischen den Bäumen umher, und ein Schwarzblättchen, das irgendwo im Laube versteckt saß, zwitscherte so leise, als wär es in der Mittaghitze schläfrig geworden und sänge sich nun selbst in Traum und Schlummer.

Das war so recht ein Plätzchen, um jenes Buch zu lesen, welches aufgeschlagen vor dem jungen Mädchen lag, das hier in dieser lauschigen Waldesstille mit wohliger Behaglichkeit im Moose ruhte. Ein lichtes Sommerkleid, das freilich nicht vom elegantesten Schnitte war und auch unter mancher Wäsche schon bedenklich gelitten hatte, verhüllte die knospenden Formen der zierlichen Gestalt. Auf schmalen Schultern wiegte sich ein allerliebstes Köpfchen, um welches die gelösten Haare ihre blonden Wellen gossen; wo immer die feinen Sonnenstrahlen, die sich durch das dichte Netz der Blätter zu stehlen wußten, dieses Haar erreichten, weckten sie ein Funkeln und ein Schimmern, als schlänge sich eine Kette gleißender Goldperlen durch die weichen Strähne. In dem sanften, von der Sonne leicht gebräunten Gesichte lächelten die frischen Lippen, und mit ziellosen Blicken schauten die blauen, träumerischen Augen in den grünen Dämmerschein des Waldes, um immer zurückzukehren zu den weißen Blättern des Buches. Das waren die »Juniuslieder« Emanuel Geibels. Seit Franzi in einem Schranke ihres Vaters dieses Buch gefunden, hatte sie es wohl schon zu hundertmalen mit sich hinausgetragen in den stillen Wald. Wie ein süßer Rausch war es aus diesen Blättern über ihre junge Seele gekommen, und ein unsagbares Sehnen füllte ihr Herz, das bislange nichts anderes umschlossen hatte, als die Liebe zu den Eltern, die Liebe zum Walde und eine dunkle Erinnerung an die große, schöne Stadt, die der Vater vor langen Jahren verlassen.

Von den schönen, seelenvollen Liedern, die in dem Buche zu lesen waren, hatte sie eines besonders liebgewonnen. Es kam ihr vor, als wäre dieses Lied ganz allein um ihretwillen gedichtet worden. Es paßte auch gar zu gut auf all' das Leben, welches sie führte. Wohl hieß sie nur Franzi und nicht »Melusine«, wie das Lied überschrieben war. Auch hielt sie allzu wenig von ihrer kleinen Person, um in sich das »Mädchen wunderhold« zu sehen, von welchem da gesungen wird. Aber wie diese Melusine, so lebte auch sie

»Mitten im Walde;
Was da webet und grünt und blüht,
Gehorcht ihr balde.

Und tritt sie früh aus ihrer Thür
Auf leichten Füßen,
Flattern die Vögel um sie her,
Die blauen Blumen zu grüßen.

Das fleckige Rehlein hält ihr still,
Lässet sich streicheln mit Nicken;
Sie hat gezähmt den jungen Wolf
Mit ihren holdseligen Blicken.«

Seit einigen Wochen stimmt auch diese Strophe, denn der alte Förster, der draußen am Waldsaum wohnte, hatte ihr ein wirkliches, lebendiges junges Reh geschenkt, das nun in einer kleinen Umfriedung sein verhätscheltes Dasein führte. Und für »den jungen Wolf« pflegte sie »den wilden Schnauz« zu substituieren, den Kettenhund, der bei Tag und Nacht ihres Vaters Haus bewachte, und der sie bei der Heimkehr immer so schmeichelnd umsprang, während er gegen jeden Fremden so grimmig knurrte wie ein richtiger Wolf.

»Singend über das tauige Moos
Schreitet die Holde,
Die Morgensonne wirft ihr um
Den Mantel von Golde.«

So heißt es in dem Liede weiter, und es paßte auch die folgende Strophe, in welcher von dem »klaren Brunn« erzählt wird,

»Den sie zum Spiegel wählet,
Sie lacht hinein mit rotem Mund,
Wenn ihr Haar sie strählet.

»Sie lacht hinein und singt dazu:
O lustig Schweifen!
Mein Sinn ist wie der Wind, Wind, Wind,
Wer kann ihn greifen!

Und wie ein Schrein, so ist mein Herz,
Nur fester, feiner.
Wo liegt der Schlüssel? Ich weiß es wohl,
Doch find't ihn keiner!«

Diese letzten Worte gaben ihr so viel zu sinnen und zu träumen. Sie hatte sich eine eigene Melodie dafür zurecht gelegt, und die sang sie bald mit lauter Stimme hinein in den lauschenden Wald, bald summte sie dieselbe leise vor sich hin – so, wie jetzt gerade – und immer wieder, immer leiser und feiner:

»Wo liegt der Schlüssel? ich weiß es wohl,
Doch find't ihn keiner . . .«

Da hob sie plötzlich verwundert das Köpfchen. Es war ihr vorgekommen, als hätte einer der Bäume, die hier im Kreise standen, hörbar aufgeatmet. Aber atmen denn die Bäume? Oder hatte sie am Ende selbst so tief geseufzt? Das mochte sie doch wohl nicht glauben – und da ward ihr so seltsam bang zu Mut, und mit scheuen Augen blickte sie umher, um jählings zu erschrecken bis ins innerste Herz.

Wenige Schritte vor ihr, angelehnt an den Stamm einer Buche, stand ein fremder Mann mit gekreuzten Armen, den Hut in der einen Hand. Ein graues Gewand umschloß die hohe, stolze Erscheinung. Tiefschwarze Haare und ein gekräuselter Bart umrahmten das männlich schöne, aber krankhaft blasse Gesicht, dessen Züge die Spuren tiefer Schmerzen trugen, welche wohl nicht allein von der schweren Wunde gekommen sein mochten, als deren bleibender Zeuge sich eine frische Narbe quer über die bleiche Stime zog. Und wie seine großen Augen blickten! So wehmutsvoll und doch so freundlich! Es war dem Mädchen, als ginge ihr dieser Blick bis auf den Grund der Seele. Ein dunkles Rot überhuschte ihre Wangen, zitternd raffte sie ihr Buch von der Erde und erhob sich mit verlegener Scheu.

Da trat er näher und sagte mit weicher Stimme: »Verzeihen Sie, mein liebes Kind, wenn ich Sie störte. Aber ich habe mich im Walde verirrt, ihre Stimme hat mich hiehergelockt, und . . .« Nun stockte er; denn wie hätte er gestehen dürfen, daß er seit langen Minuten schon in ihrer Nähe stand, versunken in ihren lieblichen Anblick, gerührt von ihrer kindlich reinen Schönheit.

Sein Schweigen verwirrte sie noch mehr, und mit schüchternen Worten erwiderte sie: »Ich will Ihnen gern den Weg zum Dorfe zeigen.«

»Aus dem Dorfe komm' ich gerade. Ich suchte ein Haus, das hier im Walde liegen soll – das Haus des Malers Bertolan.«

Nun wußte sie, wer der Fremde war. Er nannte sich Konrad v. Ziel, war aus der großen Stadt, hatte lange Monate schwer krank darniedergelegen, kam nun, um in der ungestörten Ruhe und würzigen Luft des Waldes völlige Genesung zu finden – und das Haus, das er suchte, war das Haus ihres Vaters.

»Kommen Sie, ich will Sie führen,« sagte sie leise und schritt ihm unter den Bäumen voran.

Nur wenige Minuten hatten sie zu gehen, bis sie inmitten des dunklen Tannenwaldes zu einer mit morschen Stangen umzäunten und von blühenden Obstbäumen durchsetzten Wiese kamen. Zur Seite eines sorgsam gepflegten Blumengärtchens erhob sich hier ein freundliches Bauernhaus, in dessen kleinem Stalle freilich seit langen Jahren kein Rind mehr brüllte. Der gewölbte Raum, der sonst den gutmütigen Wiederkäuern zur Herberge gedient, war mit einem großen Fenster versehen worden, und hatte sich so in das »Atelier« des Malers Bertolan verwandelt. Der hatte sich in seinen jungen Jahren wohl auch eine andere Zukunft erträumt als dieses einsame Leben im Walde. Er hatte große Dinge von seinem Talent erwartet, hatte mit rechtem Künstlerleichtsinn in den Tag hinein geheiratet, und dann war die Zeit der schmerzlichsten Enttäuschungen, die Zeit der bittersten Sorgen über ihn gekommen. Um mit dem Wenigen, was sein halbes Können ihm einbrachte, doch ohne Not noch leben zu können, hatte er die große, teuere Stadt verlassen und hatte das kleine Haus im Walde gekauft, das er im Laufe der Jahre mit wenig Kosten, aber vieler Mühe zu einem freundlichen Heim zu gestalten wußte. Der Winter brachte wohl immer harte Tage; aber wenn auch die Sonne oft durch lange Wochen hinter unfreundlichen Wolken verborgen lag, so hatte das alternde Paar doch eine liebliche, lachende Sonne bei sich unter dem Dache wohnen. So sehr aber auch Franzi die ganze Freude ihrer Eltern war, so war sie auch deren ganzer Kummer. Wie sollte Franzi hier im Walde eine Zukunft finden, was sollte aus ihr werden, wenn der Vater einst die Augen schloß? Brachten ihm doch die kleinen Bildchen, die er mit emsigem Fleiß malte und allmonatlich in die Stadt zum Verkauf schickte, kaum das Nötigste zum Leben ein! Da war nun seine Frau bei dem unermüdlichen Grübeln, wie ihre Einnahmen zu steigern wären, auf den Gedanken verfallen, die zwei leerstehenden Dachzimmerchen wohnlich einzurichten und an Sommergäste zu vermieten. Bertolan hatte an einen seiner Jugendfreunde, einen Arzt in der Stadt, geschrieben, hatte ihm die freundliche und gesunde Lage des Hauses geschildert, und schon nach wenigen Tagen war die willkommene Nachricht eingetroffen, daß sich ein Gast für das Waldhaus gefunden hätte. Das war ein langer Brief gewesen und es mußten merkwürdige Dinge in ihm gestanden sein, so meinte Franzi, weil die Eltern so viel darüber zu flüstern hatten. Das machte sie natürlich neugierig, und sie schmollte eine ganze Minute mit dem Vater, weil er all' ihren Fragen nur immer das Sprichwort vom Kopfweh und dem vielen Wissen entgegenhielt. In rechter Spannung erwartete sie den Gast – und da war er nun gekommen, und von ihr selbst geführt, betrat er den blinkenden Kiesweg, der sich durch die Wiese zum Hause schlängelte. Kläffend umsprang der »wilde Schnauz« den Fremden und machte in seiner blinden Wachsamkeit einen so fürchterlichen Spektakel, daß Mimmi, das kleine Rehkitzlein, welches mit bimmelndem Glöcklein seiner jungen Herrin entgegentrippeln wollte, in scheuen Sätzen hinter eine Hecke flüchtete. Nun kamen die Eltern; herzlich begrüßten sie ihren Gast, und in unverhehlter Bewegung streckte ihm Bertolan die beiden Hände hin; er wußte, daß er hier einen Genossen seiner selbst vor sich hatte, wenn auch von anderer Art, einen, dessen Glück und Hoffen auch zersprungen war wie sprödes Glas. Was half da dem Armen sein Reichtum und sein klingender Name?

Die Mutter führte den Gast hinauf in die Stübchen, die schon für ihn bereitet waren. Der Vater aber zog das »Kind« an sich, strich ihm die vom Winde zerzausten Haare glatt und sagte: »Gelt, Franzi, du wirst recht lieb und freundlich mit ihm sein? Und wirst ihn mit deinem Lachen und Tollen nicht stören – er braucht Ruhe und Einsamkeit. Er ist so krank, das siehst du ja – und sehr, sehr unglücklich . . .«

Da schossen ihr die Thränen in die Augen, und sie vermochte kein Wort zu erwidern. Sie ging in den Garten hinaus, lockte ihr Mimmi und den »wilden Schnauz«, und zwischen den beiden Tieren saß sie regungslos und lugte verstohlen zu einem offenen Fensterchen empor, durch welches sie den Hall von rastlos auf- und niederwandelnden Schritten hören konnte.


Wochen und Wochen vergingen. Er war ein guter Arzt, der stille grüne Wald. Der alte Bertolan lächelte zufrieden, so oft er seinen Gast betrachtete. Der war genesen, ganz und gar, das zeigten die einst so bleichen Wangen, die jetzt überhaucht waren von der frischen Röte der Gesundheit. Nur eines wollte Herr Konrad noch immer nicht finden – die Ruhe. Fast stand es in diesem Punkte jetzt noch schlimmer um ihn, als in den ersten Tagen. Das kam oft so plötzlich und so verwunderlich aus ihm heraus. Wenn er bei Bertolan im »Atelier« verweilte, während der Alte seine kleinen Bilder strichelte, und Franzi kam zur Thüre hereingeflogen – oder an den Abenden auch, wenn sie alle vor dem Hause beieinander saßen, dann kam diese Unruhe über ihn, dann stand er oft hastig von seinem Sessel auf und ging ohne Wort davon. Daß sie aber auch diese quecksilberne Beweglichkeit und dieses störend helle Lachen sich gar nicht abgewöhnen konnte, diese Franzi! Der Vater hatte so viel darüber zu schelten – denn es war ja ersichtlich: Herr Konrad vertrug das nicht. Es war nur gut, daß Franzi ihr Unrecht einsah. Sie ließ zur Schelte des Vaters ihr Köpfchen gar trüb und traurig hängen, und ging darnach oft Tage lang so still und gedrückt umher, daß es Herr Konrad selbst für nötig fand, sie wieder ein wenig aufzuheitern. Da saß er oft viele Stunden plaudernd mit ihr im Schatten auf der Hausbank oder drüben am Waldsaum, in Gesellschaft Mimmis und des wilden Schnauz. Von der Stadt erzählte er, von seinen Reisen in fremden Ländern, und sie lauschte ihm so andächtig, als höre sie das Evangelium predigen. Einmal, er hatte von sich selbst erzählt, von seiner Jugend und seinen Soldatenjahren, da deutete sie nach seiner Stirne und fragte leise: »Wer hat Ihnen das gethan?«

Er schüttelte den Kopf: »Niemand! Das hab' ich mir selbst gethan.« Dann atmete er schwer auf, und seine Züge wurden so ernst, seine Augen so finster. Er dachte des berückenden Weibes, das ihn mit gleißenden Reizen in ihr Netz gesponnen und dann betrogen; er dachte des falschen Freundes, der ihn verraten und dann im Zweikampf mit scharfer Waffe noch auf den Tod getroffen hatte. Und während er so dachte, hingen seine Blicke an Franzis lieblichen Augen, und da löste sich nach und nach die Härte seiner Züge und um die Lippen spielte ihm ein träumerisches Lächeln. Stumm griff er nach dem Buche, das sie geschlossen im Schoße hielt, blätterte darin und verweilte bei einem Liede, das er nicht zum erstenmal zu lesen schien:

»Ach, nach dem Trauern,
Dem dumpfen Schmerz,
Wie löst dies Schauern
Selig mein Herz!
O rastloses Drängen,
Willst du gewaltsam
Die Brust zersprengen?
Ich kenne dich –
Liebe, Liebe, du kommst unaufhaltsam
Noch einmal, Herrliche, über mich!«

Seufzend schloß er das Buch, reichte es ihr schweigend hin und ließ sie allein.

Mit feuchten Augen schaute sie ihm nach. Und als er hinter den Büschen verschwunden war, versuchte sie mit zitternden Händen, ob nicht das Buch von selbst an einer gewissen Stelle sich wieder öffnen möchte. Sie hätte gar zu gerne gewußt, welch ein Lied er gelesen . . .


Wochen um Wochen waren vergangen, die Blumen standen verblüht, und schon begann das Laub der Bäume sich gelb zu färben.

Da kam Franzi eines Mittags aus dem Walde heim, in welchem sie während der letzten Zeit oft halbe Tage verbrachte, so daß sich der alte Bertolan häufig um das Verbleiben seines Kindes ernstlich sorgte.

Am Zaunthor begegnete ihr die Magd, die es recht eilig zu haben schien.

»Wohin, Lena? Wohin?«

»Hinein ins Dorf, einen Wagen holen, der nach der Stadt fahren soll.«

Hastig rannte die Dirne davon und sah nicht mehr, wie Franzi erblaßte und wie ein so heftiges Zittern sie überkam, das sie am nächsten Baum eine Stütze suchen mußte. So stand sie eine Weile – dann ging sie mit wankenden Schritten zurück in den Wald, warf sich auf die Erde, drückte das Gesicht ins falbe Moos und schluchzte – und schluchzte . . .

Sie hörte den Wagen einherrollen und rührte sich nicht – Franzi! Franzi! hörte sie den Vater ein dutzendmal rufen und rührte sich nicht – – und wieder rollte der Wagen. Da sprang sie auf und flog wie in verstörter Angst dem Hause zu. Der Vater wollte schelten – erschrocken aber starrte er in das vergrämte Gesicht seines Kindes. Wortlos eilte Franzi an ihm vorüber, hinauf in das Stübchen, als wollte sie mit eigenen Augen sehn, ob er denn wirklich, wirklich gegangen – er, den sie liebte – so liebte, daß sie sterben mußte, wenn er nicht wiederkam.

Leer – alles leer – und hier auf seinem Tische lag noch ihr Buch – geöffnet – und neben dem Buche lag der Stift, mit dem er seinen Namen unter das aufgeschlagene Lied geschrieben hatte. Sie las – und da war es ihr, als müßte das jammernde Herz die Brust zersprengen, denn dieses Lied verriet ihr, was sie ihm gewesen –

»Festklarer Stern im irren Weltgetriebe,
Lust meines Lebens – ach, und siehst es nicht,
Und ahnst es nicht einmal, daß ich dich liebe!«

Ein schluchzender Aufschrei löste sich von ihren zuckenden Lippen, mit fliegenden Händen blätterte sie in dem Buche, und da fand sie nun die Stelle, welche sie suchte:

»Die Vögelein hüpften von Ast zu Ast
Und sangen nur eins ohne Ruh' und Rast,
Nur eines, das mir baß gefiel:
Der schönste Mann ist Kurt von Wyl!

O Klingen, o Singen so wundersam!
Nicht weiß ich, wie aus dem Wald ich kam;
Mein Trutz und Lachen ist all dahin,
Mir will das Lied nicht aus dem Sinn.

O Kurt von Wyl und merkst du es nicht
An meinem glühenden Angesicht,
Und siehst du es nicht an den Augen mir an,
Daß ich weiß, was da singen die Vögel im Tann?«

Unter Lachen und Weinen griff sie nach dem Stifte – zwei kecke Striche machte sie – und »Kurt von Wyl« war umgetauft in Kurt von Ziel. Hastig bog sie eine Ecke des Blattes ein, eilte aus dem Stübchen, schob den Vater bei Seite, der mit besorgten Mienen just unter der Thür erschien, und flog in den Hof hinunter.

»Lena! Lena!«

»Ja Franzi, mein Gott, wo brennt es denn?«

»Hier, Lena, um Gotteswillen, ich bitte dich, nimm das Buch und laufe, was du laufen kannst – quer durch den Wald nach der großen Straße – der Wagen muß den weiten Umweg machen über das Dorf – du holst ihn noch ein – lauf, Lena, ich bitte dich – und wenn du ihn findest – ihn – so gieb ihm das Buch und sage, das wäre die Antwort – lauf, Lena, lauf, – ich bitte dich –«

Thränen erstickten ihre Worte, während die Dirne stotternd nach dem Buche griff und über Hals und Kopf davonrannte.

Und sie hatte flinke Füße, die gute Lena; denn ehe noch eine Stunde verstrichen war, rollte wieder ein Wagen in den Hof – und der mit ihm gekommen, eilte glühenden Gesichtes und mit leuchtenden Augen in das Haus, um das »Kind« zu suchen, das drinnen in der Stube an des Vaters Seite saß, zitternd in seliger Scham, schluchzend vor Weh' und Freude.

 


 << zurück weiter >>