Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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»Goldi-Goldi«.

Der farbige Sonnenschein des späten Nachmittags erfüllte das behagliche Zimmer. Am gedeckten Tische, der inmitten des Raumes unter der Hängelampe stand und mit blinkendem Kaffeegeschirr bestellt war, saß die junge Hausfrau in Gesellschaft einer Freundin. Die beiden Frauen hatten sich viel zu erzählen, von ihrem Jammer mit den Dienstboten, von den neuen Wintertoiletten, von den Verlobungen, Hochzeiten und Todesfällen in den Kreisen ihrer Bekannten, sie plauderten so unermüdlich und laut darauf los, daß man nur ab und zu von der Straße herauf das gedämpfte Geräusch der vorüberrollenden Fuhrwerke vernahm. Sogar der Kanarienvogel, der sich zuweilen hören ließ, hatte Mühe, mit seinem zwitschernden Gesang den Klang der beiden Stimmen zu übertönen. Und wenn es ihm glückte, dann mahnte ihn die Hausfrau mit unwilligem Zischen zum Schweigen.

»Ein unausstehliches Tier! Man hört ja kaum sein eigenes Wort . . .«

Nach solcher Mahnung verstummte wohl der Vogel und blickte mit erstaunten Äuglein unruhig umher, doch über die ihm zugefügte Kränkung schien ihn das zarte Stimmchen rasch zu trösten, das ihm durch die Drähte des Bauers zärtlich und leise zulispelte: »Goldi-Goldi! Mein süßes, süßes Goldi!«

In dem kleinen Erker, den die Sonne mit leuchtenden Strahlen durchwob, stand der aus feinen Drähten geflochtene Käfig auf dem Nähtisch. Vor ihm, in einem schwerfälligen Rohrfauteuil, kauerte mit aufgezogenen Füßchen ein etwa sechsjähriges Mädchen. Es war ein hageres Figürchen mit schwächlichen Gliedern und von beinahe kränklichem Aussehen. Braune Löckchen umschatteten das feine Gesicht, ein beständiges Zucken und Zittern ging um die schmalen Lippen des Mündchens und um die dünnen Flügel der feinen Nase, und aus den großen, feuchtglänzenden Augen sprach ein frühreifer Geist, eine empfindsame Kinderseele. Die mageren Ärmchen hatte das Kind um den Käfig gelegt, das Köpfchen lag seitwärts geneigt auf der Schulter, und so schaute es mit heißen, zärtlichen Blicken zu dem Vöglein empor, das hurtig über die Stäbchen hüpfte und die kleinen Flügel spreizte, deren gelbe Federchen in der Sonne wie Gold erglänzten. Und immer wieder flüsterte das Kind mit gespitztem Mäulchen: »Goldi-Goldi! Mein süßes, gutes Goldi!«

»Mimmi!« klang vom Tische her die Stimme der Mutter. »Laß doch einmal den Vogel in Ruhe!«

Erschreckt fuhr das Kind mit dem Köpfchen in die Höhe und stammelte mit schüchternem Stimmlein: »Aber . . . Mama . . . ich thu' ihm ja nichts.«

»Ja, das weiß ich, daß du dem Vogel nichts thust!« erwiderte die Mutter halb im Ernst und halb im Scherz. »Ich glaube, du thätest eher mir etwas!«

Die beiden Frauen lachten und plauderten weiter. Auf den Zügen des Kindes aber, das in den Stuhl zurückgesunken war, lag der Ausdruck eines tiefen Schrecks. Mit angstvollen Augen blickte es zur Mutter hinüber, und wenn es auch zuweilen mit einem scheuen, heimlichen Blick das hüpfende, leise zwitschernde Vöglein streifte, so glitten die feuchten, furchtsamen Kinderaugen doch immer wieder hinüber zum Tische und starrten die Mutter an, wie ein großes, unfaßbares Rätsel. Und dabei zupften und nestelten die zitternden Händchen unablässig an dem Saum des gehäkelten Tuches, das über den Nähtisch gebreitet war.

Nun hörte man vom Flur herein die Glocke; die Mutter sprang auf, ihre Freundin erhob sich, und auch Mimmi machte eine Bewegung, als wollte sie den Stuhl verlassen. Aber der jubelnde Laut, mit welchem die Mutter ihren »Prinzen« begrüßte, der auf dem Arm seiner Amme unter der Thür erschien, mochte Mimmis Absicht geändert haben; mit finsterem Gesichtchen preßte sie sich in den Stuhl zurück, zog die Schulterchen in die Höhe und begann an den Nägeln zu kauen, während sie keinen Blick von der Mutter verwandte, die ihren Buben mit überschwänglicher Zärtlichkeit herzte und küßte. Und bei jedem Kusse, bei jedem zärtlichen Namen und Koselaut, der vom Tisch herüberklang in den Erker, wurde die Röte auf Mimmis Wangen immer tiefer und heißer, der sehnende, dürstende Ausdruck der weit geöffneten Augen immer begehrlicher. Und endlich glitt sie vom Stuhl herab, kam zögernd an die Seite der Mutter geschlichen, umklammerte ihren Arm mit beiden Händchen und stammelte: »Mama!«

»Laß mich!« Und mit dem Ellbogen schob die Mutter das Kind beiseite. »Geh' du nur zu deinem Goldi!«

Die Thränen schossen in Mimmis Augen, die Lippen fielen ihr auseinander, und langsam hob sie das Händchen an den Hals, als empfände sie einen plötzlichen Schmerz in der Kehle. So stand sie noch eine Weile, während ihr Brüderchen von den beiden Frauen geherzt, bewundert und gehätschelt wurde; dann wandte sie sich ab, schlich dem Erker zu, kauerte sich auf den Stuhl, legte wieder die Ärmchen um den Käfig und ließ das Köpfchen auf die Schulter sinken, mit dem Gesichte gegen das Fenster, um die Thränen zu verbergen, die aus ihren Augen niederrieselten über die heißen Wangen. Und als verstünde der Vogel den Kummer seiner kleinen Freundin, so kam er über die Stäbchen herabgehüpft, klammerte sich an die Drähte des Käfigs, wendete forschend das Köpfchen hin und her und pickte mit seinem Schnäbelchen nach den zuckenden Lippen des Kindes. Da versiegten Mimmis Thränen, ihre Augen leuchteten auf, noch näher drückte sie ihr Gesichtchen an die Drähte des Bauers, und lautlos bewegten sich ihre Lippen . . . sie sagte es nicht . . . sie dachte nur, was sie sagen wollte: »Goldi! Mein gutes, liebes Goldi-Goldi!« Und das »Goldi« hüpfte und flatterte, zwitscherte ein Gesätzlein ums andere, und nun schwang es sich zu oberst im Käfig in den schwebenden Ring und schaukelte sich mit abwärtshängendem Körper, als hätt' es das Turnen von einem Papagei gelernt.

Mimmi klatschte vor Freude in die Hände und jubelte: »Mama, sieh doch her, was das ›Goldi‹ treibt . . .«

»Jetzt hab' ich es aber satt, das Gethu' mit dem Vogel,« schalt die Mutter, welche von Mimmis Jubel in einer drastischen Schilderung der Amme und ihrer tyrannischen Ansprüche unterbrochen wurde. »Entweder du gehst aus dem Zimmer, oder ich trage den Käfig hinaus.«

»Aber ich bitte,« fiel die Freundin begütigend ein, »lassen Sie dem Kinde doch sein unschuldiges Vergnügen.«

»So unschuldig ist das Vergnügen nicht! Mir gefällt das schon lange nicht mehr . . . diese übertriebene Zärtlichkeit für ein Tier! Das Kind hat ja den dummen Vogel lieber als mich.«

Das war kein Scherz mehr; aus diesem Worte klang wirklicher Ärger, fast etwas wie Eifersucht. Dieser Laut drang in die Seele des Kindes, und wieder war in seinen Augen jener starre, furchtsame, fast entsetzte Blick. Regungslos saß es eine lange Weile und starrte nur immer vor sich hin ins Leere. Und plötzlich löste sich, was im Herzen des Kindes nagte, was in seinem Köpfchen stürmte und wirbelte, in ein heftig erströmendes Schluchzen.

»Aber Mimmi!« fuhr die Mama auf. »Was hast du denn? Weshalb weinst du jetzt? Du weißt, diese grundlose Weinerei ist mir unausstehlich! Geh' aus dem Zimmer . . . geh'!«

»Ich bitte . . . Mama . . . ich will . . . nicht weinen!« stammelte das Kind und suchte sein Schluchzen gewaltsam zu unterdrücken.

Wieder legte sich die Freundin ins Mittel, und Mimmi durfte bleiben. Aber ehe die Mutter weiterplauderte, streifte sie noch das Kind mit einem unwilligen Blick. Unter diesem Blick schauerte das Kind zusammen, und da saß es nun still und lautlos, nur manchmal hob es die Hand, um die Thränen von den Wangen zu wischen, und dann erschütterte wohl ein unterdrücktes Schluchzen das zarte Körperchen in allen Gliedern. Mit nassen Augen hing Mimmi an dem Käfig und verfolgte jede Bewegung ihres zwitschernden Lieblings. Ihre Blicke und Züge nahmen einen sinnenden, grübelnden Ausdruck an, und dann – wie unter einem plötzlichen Einfall – zitterte ein verträumtes Lächeln um ihre Lippen . . .

Die beiden Frauen hatten sich ausgeplaudert, und als die Freundin sich zum Abschied erhob und nach dem Erker kam, um dem Kinde die Hand zu reichen, schaute Mimmi mit verlorenen Blicken zu ihr auf und wußte kein Wort hervorzubringen. Doch während die Frauen zur Thür gingen, wandte Mimmi langsam das Gesichtchen, und mit einem heißen Blick voll kindlicher Zärtlichkeit folgten ihre Augen der Mutter. Und dann . . . scheu und hastig, als begänne sie etwas Verbotenes und fürchtete, überrascht zu werden . . . kletterte sie auf den Stuhl und öffnete mit gewaltsamer Anstrengung das Fenster. Mit zitternden Händen schob sie den Käfig zum Gesimse, zerrte das Thürchen auf, und unter rinnenden Thränen stammelte sie: »Flieg' fort, Goldi . . . flieg' fort . . . flieg' fort!«

Weinend kauerte sie sich in den Stuhl zurück, starrte mit nassen, ängstlichen Augen auf den Käfig und erzitterte bei jeder Bewegung, die sie das Vöglein machen sah. Das »Goldi« hatte schon wahrgenommen, daß der Käfig offen stand; es flatterte über die Stäbchen nieder, hüpfte zögernd unter das offene Thürchen, dann hervor auf den Rand des Gestelles, und hier stand es mit trippelnden Füßchen und wendete mit neugierigem Geschau das Köpflein nach allen Seiten. Ein paarmal hob es die Flügel . . . Mimmi zitterte und schluchzte . . . und plötzlich flatterte es hinüber auf das Gesims des offenen Fensters. Hier aber dachte es an alles andere, nur nicht ans Davonfliegen; lustig hüpfte es auf und nieder und pickte nach den winzigen Staubkörnchen, die auf dem weißgestrichenen Brette lagen.

Da klang von draußen das Geräusch einer sich schließenden Thür, und Schritte näherten sich durch den Flur. Erschrocken fuhr Mimmi auf. »Fort . . . du!« stammelte sie, beinahe zornig, und mit scheuchendem Zischen und schlagenden Ärmchen jagte sie das »Goldi« aus dem offenen Fenster. Pispernd flatterte der Vogel hinaus ins Freie, umschwirrte mit ängstlichem Gezwitscher das Fenster und verschwand dann seitwärts hinter der Mauer. Da brach es jählings aus dem Kinde hervor, mit Weh und Thränen, es streckte die Ärmchen und schluchzte: »Goldi-Goldi . . . mein süßes Goldi!«

Die Thür ging auf und die Mutter betrat das Zimmer. Ein kühler Luftstrom fuhr ihr entgegen. Sie gewahrte sofort das offene Fenster und eilte erschrocken nach dem Erker. »Aber Mimmi! Du ungezogenes Kind! Wie kannst du dich nur unterstehen, jetzt am Abend das Fenster zu öffnen! Du wirst dich erkälten!« So zornig auch diese Worte klangen – es sprach doch aus ihnen die wirkliche Sorge des mütterlichen Herzens.

Hastig schloß die Mutter das Fenster, und als sie sich zurückwandte, um die kleine Sünderin noch tüchtig auszuschelten, sah sie plötzlich den leeren Käfig und sah das verstörte, von Thränen überronnene Gesicht ihres Kindes.

»Mimmi!« fuhr sie erschrocken auf, »was hast du gethan!«

Unter Schluchzen und Schluchzen, nur mühsam, kam es über Mimmis Lippen: »Mein Goldi . . . mein Goldi . . . hab' ich fliegen lassen . . . damit du . . . nicht glaubst . . . daß ich das Goldi . . . lieber hab' . . . als dich!«

Die Augen der Mutter wurden feucht, und als ihr der reine Strahl entgegenleuchtete, der aus den Augensternen ihres Kindes brach, da kam es jählings über ihr Herz wie eine Offenbarung: das Bewußtsein ihrer eigenen Schuld und die Erkenntnis des kostbaren Schatzes, der verzaubert lag in der Tiefe dieses jungen Gemütes.

»Kind! Kind! Mein gutes, mein liebes Kind!« so stammelte sie, umschlang in ungestümer Zärtlichkeit mit beiden Armen das zitternde Geschöpfchen und überströmte sein zuckendes, thränennasses Mündchen mit Küssen und Küssen. Und Mimmi schlug die Ärmchen um der Mutter Hals, und unter Lachen und Schluchzen schmiegte sie das Gesichtchen an ihre Wange. Da ließ sich vom Fenster her ein Klirren, Picken und Schwirren vernehmen, und als die Mutter das Gesicht erhob, sah sie das Vöglein, dem die Freiheit nicht gefallen wollte, über die geschlossene Scheibe ängstlich hin- und widerflattern.

»Mimmi! Sieh doch her! Dein Goldi ist wieder da, es hat dich zu lieb, es will nicht fort von dir!« so lachte sie, und ohne das Kind aus ihrem Arm zu lassen, riß sie das Fenster auf.

Und geraden Weges flatterte der Vogel dem offenen Thürchen des Käfigs zu, schlüpfte hinein, schwang sich auf das oberste Stäbchen, setzte sich bequem zurecht und schüttelte die Federn.

»Mimmi! So sieh doch her! Sieh doch her! Dein Goldi ist wieder da!«

Doch Mimmi wollte nicht sehen und hören. Nur noch enger krampfte sie die Ärmchen um der Mutter Hals, drückte das Gesichtchen am ihre Brust und weinte . . . und weinte . . .

 


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