Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Eine Frühlingsnacht.

Die Thür, welche von seinem Zimmer in die Bureaux seiner Konzipienten und Schreiber führte, stand offen. Durch diese Thür klang ein halblautes Geplauder herein, und durch die Fenster, vor denen der Abend dämmerte, tönte von der Straße herauf ein dumpfes Rollen und Gerassel.

Er stand vor seinem Stehpult, unter den Händen ein leeres Blatt, mit den Zähnen an der Feder kauend. Seine Augen hatten einen starren Blick, und über seinen Zügen lag eine müde Blässe, welche durch den schwarzen, nur wenig angegrauten Vollbart noch gehoben wurde. Seine schmalen Lippen bebten, und ein nervöses Zucken war in den kleinen Fältchen, die sich strahlenförmig um die Augenwinkel reihten.

Eine Uhr schlug die sechste Stunde. Er hörte, wie draußen die Stühle gerückt wurden; schwer atmend richtete er sich auf und begann zu schreiben, nicht Sätze von Sinn und Inhalt, nur Worte, wie sie ihm gerade aus der Feder liefen. Er wollte beschäftigt scheinen, wenn die Herren seines Bureaus unter die Thür traten, einer nach dem anderen, um ihrem Chef den üblichen guten Abend zu wünschen. Für jeden solchen Gruß dankte er, ohne die Feder ruhen zu lassen, mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, nicht wie sonst . . . halb gezwungen, halb wieder spöttisch, beinahe frivol.

Und als er den letzten das Vorzimmer verlassen hörte, warf er die Feder unter den Tisch, zerriß das beschriebene Blatt, schleuderte die Fetzen in den Papierkorb und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirne. Mit zitternden Händen öffnete er die eiserne Kasse, legte drei versiegelte Briefe in ein leeres Fach . . . und als er nun die eiserne Thür wieder versperrte, da zuckte von neuem jenes gezwungene, spöttische, frivole Lächeln um feine Lippen. Den Schlüssel der Kasse ließ er stecken . . . weshalb auch nicht? . . . er hatte ja gesorgt dafür, daß sie nichts mehr enthielt, was einen Dieb hätte reizen können. Langsam trat er zum Kleiderstock, drückte den Hut über die Stirn und zog den Paletot über die Schultern. Dabei fühlte er an die Tasche, ob sie auch noch enthielte, was er in ihr seit Tagen schon verborgen umhergetragen hatte. Ja . . . er fühlte den hölzernen Griff und den eisernen Lauf. Da fiel sein Blick auf den Tisch, auf welchem in zierlichen Bronzerahmen die Bilder seiner Frau und seiner Kinder standen. Er streckte mit einem dumpfen Laut die Arme aus, ein Wanken überkam ihn . . . aber gewaltsam raffte er sich auf und eilte, Thür um Thür hinter sich offen lassend, hinaus in den Korridor. Eine breite, teppichbelegte Treppe führte von hier empor zur Wohnung seiner Familie. Ein letztes, kurzes Zögern, ein letzter Blick nach oben, dann kehrte er sich ab und verließ das Haus.

An der Straßenecke trat er auf einen Fiaker zu und sprang in den Wagen.

Er nannte den Namen eines nahen Dorfes.

Der Kutscher riß die Decken vom Rücken der Pferde, faßte die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Rasselnd flog der Wagen über das Pflaster. Es wurden wohl die Laternen schon entzündet, aber im Zwielicht des Abends waren die Straßen doch immer noch so hell, daß der im Wagen Sitzende vom Trottoir aus leicht zu erkennen war. Bald hörte er einen kordialen Zuruf, bald sah er einen ehrerbietigen Gruß . . . es kannten und ehrten ihn ja so viele, den reichen Mann, den berühmten Anwalt und glänzenden Redner, die »Zierde des Barreaus«. Und auf jeden Gruß und Zuruf dankte er mit einer stolzen Neigung des Kopfes und mit jenem leisen spöttischen Lächeln . . . es war fast, als hätte dieses Lächeln sagen wollen: Ihr Dummköpfe, morgen werdet ihr ja den Gruß bereuen, den ihr mir heute noch gespendet . . . morgen! . . . Diese Gesichter, die sie machen werden zu der Überraschung, die ich ihnen bereiten will!

Und mit diesem Lächeln versank er in sich selbst, als der Wagen die Vorstadt erreichte, durch die enger werdenden Straßen dahinsauste und endlich das offene Land gewann. Ein kühler Wind umfuhr die Wangen des Lächelnden, und ihm zu Häupten dunkelte der klare Frühlingshimmel, an welchem zwischen kleinen Sternen der Sirius wie eine Fackel leuchtete. Am Horizont aber begannen die Sterne schon wieder zu erlöschen, denn über die schwarze Wellenlinie der bewaldeten Hügel zog eine finstere Wolkenwand empor.

Als der Wagen die ersten Häuser des Dorfes erreichte, wandte sich der Kutscher zu seinem Fahrgast zurück: »Wohin, Euer Gnaden?«

»Nur vorwärts!«

»Vorwärts?« . . . Er mußte lächeln über das sinnlose Wort. Vorwärts? Wie lange noch währte sein Weg? Eine Stunde noch, dann war es zu Ende . . . zu Ende in pfadloser Nacht.

Bei den letzten Häusern ließ er den Wagen halten, reichte dem Kutscher eine Banknote und hieß ihn umkehren. Regungslos stand er inmitten der Straße und blickte dem heimeilenden Gefährt nach, bis es verschwunden war. Dann verließ er die Straße und stieg über einen sandigen Pfad dem Wald entgegen, den er bald erreichte. Stumm und kahl umringten ihn die Bäume, und unter seinen Füßen raschelte das morsche Laub. Es wurde dunkler und dunkler, das eilende Gewölk hatte schon den ganzen Himmel überzogen . . . dann jählings zuckte ein mattes Leuchten über den blätterlosen Wald, wie von einem Blitz, der hoch in den Wolken sich entladen, ein kurzer, dumpfer Donner folgte, und in schweren Strömen rauschte der Regen nieder.

Ein Gewitter im Frühling? . . . Er lächelte wieder. Wie jetzt dieses unerwartete Gewitter . . . so mußte morgen die Nachricht von seinem Ende niederfallen über die verblüffte Stadt.

Er trat vom Pfad hinweg, lehnte sich an den dicken Stamm einer Buche und grub die Fäuste in die Taschen seines Überrockes. Und während seine Augen hinausstarrten in die Nacht und in den strömenden Regen, zogen vor seinem inneren Blicke die Bilder seines Lebens vorüber: die Kinderzeit, die Studentenjahre, und dann die ersten Monate des jungen Advokaten, jene Monate voll Harren, Sorgen und Bangen. Und da stand es plötzlich vor ihm, das unvergessene Gesicht seines ersten Klienten . . . der struppige Kopf eines dreißigjährigen Burschen, eines Waldhüters, Andreas Berger mit Namen. Der Zufall war dem jungen Anwalt günstig gewesen und hatte ihm einen »interessanten Fall« beschert. Mord aus Eifersucht . . . so lautete die Anklage. Schwerwiegende Thatsachen sprachen gegen den Angeklagten, aber der Bursche leugnete hartnäckig, und in der Reihe jener Thatsachen war eine Lücke, in welche sich ebensowohl die Schuld wie die Nichtschuld fügen ließ. In diese Lücke bohrte sich der scharfe, schneidende Geist des jungen ehrgeizigen Advokaten. Tage und Nächte vergrübelte er über diesen Fall, der Eifer, mit dem er die Arbeit erfaßte, ließ ihn selbst an seine »gute Sache« glauben . . . und als er endlich vor den Geschwornen stand und sprach, da beherrschte sein Wort und Wesen den ganzen Saal, der sprühende Geist seiner Rede, das überzeugende Feuer seiner Sprache schlug zündend ein, und frei verließ der vermeintliche Mörder den Saal. Und Dr. Josef Siegmann, der junge Anwalt, dessen Namen vor einer Woche noch niemand genannt und gekannt, war über Nacht berühmt.

Die Klienten strömten ihm zu. Erfolg um Erfolg knüpfte sich an seinen Namen, in den schwierigsten Fällen siegte sein findiger Geist und sein zündendes Wort mit spielender Leichtigkeit, und zu seinem Ruhm als Anwalt gesellte sich ein großer Erwerb und eine reiche Frau. Nun konnte er die Früchte seiner Arbeit genießen, und er that es mit vollen Zügen. Luxus und Wohlleben wurden ihm zum Bedürfnis, die nervöse Hast in der Arbeit bedingte in ihm eine nervöse Unersättlichkeit im Genuß, sein Bedarf steigerte sich ins Ungemessene, und so kam eine Zeit, in welcher er die Grenze überschritt, die durch Erwerb und Besitz für ihn gezogen war. Er, der schärfste Rechner im Gerichtssaal, war ein schlechter Zähler in seinem Haushalt . . . bald auch ein schlechter Zahler. Mit zwanzig Händen streute er aus, was er mit zweien nur erwarb. Seine Schulden wuchsen ihm über den Kopf, und um sich Luft zu schaffen, griff er nach einem Mittel, das er selbst, mit all seinem sprühenden Geist und allem Feuer seiner Rede, vor dem Richter nicht mehr beschönigt hätte. Und jetzt, nach einem Jahrzehnt, das mit fliegendem Anstieg ihn emporzuführen schien zur Höhe des Lebens . . . jetzt stand er vor seinem Ende, vor dem Lauf der Pistole.

Ein kalter Schauer jagte über seinen Rücken. Er fühlte, daß er am ganzen Körper durchnäßt war, und mit verlorenen Blicken starrte er zu den blätterlosen Ästen empor. Und wieder zuckte jenes Lächeln um seine Lippen. Dieser kahle Baum, unter welchem er mit einem letzten, treibenden Instinkt Schutz gesucht hatte vor dem strömenden Regen . . . glich er nicht dem entblätterten Baume seines Lebens, unter welchem nicht langer seines Bleibens war?

»Ein Ende machen . . . rasch!«

Seine Hand zuckte nach der Tasche . . . und fiel wieder nieder. So stand er und starrte unter wirren Gedanken ins Leere. Der Regen versiegte, die ziehenden Wolken gaben den Himmel frei, und falber Mondschein ergoß sich über den triefenden Wald und alle Pfade.

Da weckte ein Geräusch, wie von klatschenden Tritten, den Regungslosen aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf, blickte den Weg entlang und sah die dunkle Gestalt eines Mannes näherkommen, der wie mit prüfendem Blick die Bäume am Wegrand zu mustern schien. Nun sah ihn Siegmann vor einem Baume stehen bleiben . . . der Mann mochte gefunden haben, was er suchte. Es war ein alter Stamm, an dessen Fuß ein knorriger Wurzelstock sich lehnte . . . und diesen Stock bestieg der Mann, schlang mit gestreckten Händen einen Strick um den untersten Ast, schob den Kopf in die Schlinge und warf sich mit dem Körper vorwärts in die Luft.

Von Siegmanns Lippen schüttelte eine gellende Lache. Dann plötzlich wieder verstummte er . . . ob er wollte oder nicht, er mußte helfen . . . mit fliegenden Schritten eilte er hinzu, sprang auf den Stock und suchte den Strick zu lösen. Aber die Last des Mannes war zu schwer . . . eine ratlose Sekunde verging . . . dann zuckte ein rettender Gedanke durch Siegmanns Kopf, er riß den Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und drückte den Lauf an den Strick. Ein Schuß durchhaute den nachtstillen Wald, und der Körper des Erhenkten klatschte auf den nassen Boden. Siegmann löste dem Bewußtlosen die Schnur von der Kehle und schleuderte ihm das kalte Regenwasser, daß sich auf der Erde in kleinen Pfützen gesammelt hatte, mit vollen Händen in das Gesicht. Eine Minute . . . und der Mann erwachte aus seiner Ohnmacht. Wie mit trunkenen Blicken schaute er um sich her, und dann blieb er mit halb erschrockenen und halb verblüfften Augen an dem Gesichte seines Retters hängen, der im vollen Mondlicht stand.

Mit stockenden Lauten kam es von seinen Lippen: »Jetzt weiß ich net, bin ich wach, oder . . .« Langsam streckte er den Arm gegen Siegmann. »Sie, Herr Doktor!«

»Mensch! Sie kennen mich?« stammelte Siegmann.

»Ob ich Ihnen kenn'! . . . So schauen S' doch her!« Der Mann drehte das Gesicht dem Monde zu und streifte mit dem Arm die struppigen Haare aus der Stirne.

Und da fiel das Erkennen über Siegmann, wie ein Blitz: der Mensch, den er gerettet hatte . . . zum zweitenmal gerettet . . . Andreas Berger war es, sein erster Klient. Siegmann brachte kein Wort über die Lippen, aber in der Art, wie er die beiden Hände nach dem Manne streckte, lag eine stumme Frage, die der andere verstand.

»Es hat mir kein Glück net 'bracht, daß Sie mich freig'macht haben . . . denn in mir drin hat's g'wurmt . . . die Freud' am Leben war beim Teufel . . . Tag und Nacht hat 's mir kein' Ruh' net 'lassen . . . allweil hab' ich ihn liegen sehen vor mir im Blut . . .«

»Sie waren schuldig?« schrie Siegmann auf.

Berger nickte nur und starrte vor sich nieder. Dann wieder murmelte er: »Und . . . länger hab' ich 's nimmer ausg'halten . . . seit Jahr und Tag schon is mir's allweil vor'gangen im Kopf: Entweder Du machst ein End' . . . oder . . . oder Du giebst Dich an. Und das da . . .« Dabei raffte er den zerrissenen Strick von der Erde und hielt ihn Siegmann entgegen auf der flachen Hand . . . »Das da, so hab' ich g'meint auf d'Letzt, das da wär' allweil noch leichter wie 's andere.«

Siegmann wankte, und seine Arme suchten einen Halt am Stamm der Buche. In seinem Innern tobte ein wilder Sturm.

Mit einer Lüge hatte er seine Laufbahn begonnen, die er nun enden wollte mit einer Feigheit.

»Und jetzt . . .« langsam erhob sich Berger von der Erde und stand mit gesenktem Kopfe, »jetzt muß ich's halt probieren . . . mit dem anderen, denn Ruh' will ich haben . . . so oder so!«

Da fühlte er eine Hand, welche mit zuckenden Fingern seinen Arm umkrampfte.

»Kommen Sie, Berger . . . wir gehen zusammen!«

Und wortlos schritten sie Seite an Seite dahin, der Stadt entgegen.

Es dämmerte ein neuer Morgen, als sie das graue Haus erreichten, dessen Thor sich hinter ihnen schloß.

 


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