Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Das neue Leben.

Ein Herbsttag, leuchtend in allen Farben, lag über den Lorbeerwäldern von Abbazia. Wie Goldsand flimmerte der rötliche Staub der Straße, die Hotelgebäude ragten empor gleich riesigen Erzblöcken, daran die in der Sonne sich spiegelnden Fenster wie blitzender Glimmer sich ausnahmen, und der weiße Kies des Parkes blendete die Augen, als wären die Wege bestreut mit Körnern von gediegenem Silber. Der Duft von späten Blumen würzte die Luft, welche so lind und stille war, daß die Fächer der Palmen und die mächtigen Schwertblätter der Dracänen kaum ein leises Zittern ihrer feinen Spitzen gewahren ließen. Und hingedehnt in reiner, wellenloser Bläue lag das Meer, in der Ferne umsponnen von einem zarten Duft, hinter welchem die Felsgestade von Cherso und Veglia in farbige Luft verschwammen. Einzelne Kähne, aus denen weiße Gewänder und rote Schirme leuchteten, glitten langsamen Zuges über die stille, blaue Flut, und draußen, auf der Höhe des Quarnero, zog ein stolzer Dampfer gegen Westen, vorüber an den zerstreuten Chioggiotenbooten, welche unbeweglich mit schlaffen Segeln lagen, einer Brise wartend.

Dicht an der steinernen Ballustrade, welche der Park der Villa Angiolina vom klippigen Ufer des Meeres scheidet, stand ein weich gepolsterter Fahrstuhl. In ihm saß, die schmalen Schultern von einem weißen Dunenpelz umhüllt, ein Mädchen, das die Blütezeit der Jugend kaum überschritten haben konnte. Wo aber waren sie hingesunken, die Blüten dieser jungen Wangen? In krausen Löckchen fiel das goldbraune Haar über die weiße Stirn dieses Gesichtes, welches trotz der hohlen farblosen Wangen, trotz der tief liegenden, krankhaft glänzenden Augen und der müden, bleichen Lippen noch von der süßen, engelhaften Schönheit erzählte, die jenes schleichende Übel zerstört hatte, dessen Keim den unaufhaltsamen Tod bedeutet. Einst ein Schoßkind des Glückes, umgeben von Glanz und Reichtum, bezaubernd und gefeiert . . . und dann ein kurzes Jahr in jähem Siechtum . . . und jetzt? Eine welke Blüte, die vom Stengel fallen, ein Leben, das erlöschen will. Jählings war es über sie gekommen, mitten in rosiger Freude, ohne Vorzeichen, ohne Warnung, und hatte sich unverjagbar eingenistet in ihrer jungen Brust. Die Ärzte hatten getröstet und geraten, man hatte sie nach Nizza geschickt, von Nizza nach Meran, dann über das Meer unter die Palmen von Kairo, dann wieder zurück in die Heimat, und von der Heimat an die schönen Ufer des Quarnero, nicht mehr, um zu genesen, nur um zu sterben unter blauem Himmel, in linder Luft, im Duft der Blumen. Und nun plötzlich . . . dieses Undenkbare, dieses Wunder, das alle tote Hoffnung neu belebte!

Was jetzt mit einem Mal aus diesen großen glänzenden Augen sprach, es war nicht mehr der starre Blick des Todes, es war der leuchtende Aufblitz eines neuen Lebens. Gestern noch das nahe Sterben, ein unerbittliches Los, in welches sie mit Pein, mit Schmerzen und Entsagung sich schon gefunden hatte – und heute, seit einer Minute, die winkende Rettung, das sichere Genesen! War es denn glaubhaft, war es denn faßbar? In zitternder Erregung kämpften sich die schlanken, wachsbleichen Finger in die blaue Seidendecke, welche den Schoß der Kranken überbreitet hielt. Mit traumhaft strahlenden Blicken hingen ihre Augen an den Lippen des Vaters, der vor seinem Kinde stand, seiner Bewegung nicht mächtig, halb lachend, halb in Thränen, in der Hand noch das Zeitungsblatt mit der Messiasbotschaft, die an einem einzigen Tage von Berlin aus hinging über die ganze Welt, wie eine mächtige Welle von Heil und Segen. Auf den sonst so blassen Wangen der Kranken brannte die Röte der jähen Freude, und während ihre halb geöffneten Lippen zuckten unter dürstenden Atemzügen, stammelte sie mit erstickter Stimme: »Glaubst du an die Nachricht, Vater . . . glaubst du?«

»Ja, mein Kind, ja, ja, ja! Ich glaube! Das ist ja kein Charlatan, der die Sensation in die Welt setzt! Das ist ein ernster Mann der Wissenschaft, der nicht redet, bevor er seiner Sache nicht sicher ist! Lili, mein Kind, das ist Wahrheit, ein Wunder wohl, aber ein wirkliches! Du sollst nicht sterben, nein, nein, mein Schatz, leben sollst du! Wir wollen reisen, Kind, noch heute . . . und dann zwei Tage . . . und wir sind in Berlin, bei ihm, bei deinem Retter!«

»Vater . . .« Die Sprache versagte ihr, ein jubelndes Schluchzen erschütterte ihre Brust, und während die heißen Thränen der Freude niederrieselten aus ihren Augen, drückte sie die zitternden Hände über das brennende Gesicht. Dann plötzlich wieder griff sie nach der Hand des Vaters: »Weiß es die Mutter schon?«

»Nein, Kind. Du weißt ja, sie schläft. Sie hat die ganze Nacht bei dir gewacht und war so müde . . .«

»Geh', Vater, geh', ich bitte dich, wecke sie, sag' es ihr . . . wie wird sie sich freuen . . . mit mir . . . mit mir!«

Er wollte sie nicht allein lassen, aber sie bat und flehte, sie lachte und weinte, und da that er ihr den Willen und eilte davon mit hastenden Schritten.

Und Lili saß, das zarte Köpfchen zurückgelehnt in die weichen Polster. Sie wehrte ihren Thränen nicht mehr. Die bebenden Hände im Schoß gefaltet, so schaute sie mit schimmernden Augen . . . wohin? . . . sie sah nicht den lichten Himmel mit seiner Sonne, nicht das weitgestreckte Ufer mit seinen bunten Farben, nicht der Palmen Grün und nicht das blaue Meer, das mit sachten Wellen an die Klippen schwankte, da eine leichte Bora die Flut zu schüren begann . . .

Das alles sahen ihre träumenden Augen nicht, die nur immer hineinsahen in ein einziges, Wundersames: in ihr wiederkehrendes, schönes, neues Leben! Und ihre Seele flog . . . ihr war, wie weit da draußen dem Chioggiotenboot, welches tot gelegen in der Stille und jetzt, da der neubelebende Hauch durch seine Masten strich, die weißen Segel spannte wie ein Schwan, der fliegen will.

Die Fächer der Palmen, die Zweige der Lorbeerbüsche und die Wipfel aller Bäume schwankten im frischen Winde, immer flinker stiegen die Wellen des Meeres, und ihr Rauschen und Geplätschcr in den Klippen des Gestades schlug an Lilis Ohr wie schmeichelnde Musik, auf deren sanften Rhythmen ihre gaukelnden Träume sich wiegten. Sie achtete des stechenden Schmerzes nicht, der jählings ihre Brust durchzuckte . . . es war ja nur der Schmerz der Freude, den sie zu fühlen meinte . . . und es ging auch rasch vorüber . . . und ihr wurde so wohl und leicht ums Herz, als hätte die winkende Hoffnung, die Gewißheit ihrer nahen Rettung schon genügt, um sie zu heilen. Ihr war so leicht, so wohl . . . ihr war zu Mut, als wandle sie beflügelten Schrittes über frühlingsgrüne Wiesen, weit hinter ihr die kalte, finstere Nacht, der sie entronnen, vor ihr nur Licht und warme Sonne, und rings umher nur Blumen, Blumen, deren Blüten sie brach mit unersättlichen Händen . . . und aus jeder dieser Blüten duftete ein Reiz des Lebens ihr entgegen. Was sie längst in ihrem Herzen begraben hatte, sie alle, die in Entsagung abgestorbenen Erinnerungen, sie wurden wach und neu lebendig, gewannen Wesen und Gestalt . . . das schöne traute Heim, der Freundinnen Geplauder, der Rausch der winterlichen Feste, der bunte Lärm des städtischen Lebens, gesellige Freuden, Musik, Theater . . . Glück und Liebe.

Jede Fiber zitterte in ihrer Seele, in heißer Wonne schlug ihr das Herz, als er plötzlich vor ihren träumenden Augen stand, in seiner stolzen, männlichen Gestalt, den edlen Kopf, so wie es seine Gewohnheit war, ein wenig zur Seite geneigt, mit den klugen, ruhigen Augen und dem sinnenden Lächeln . . .

»Georg!«

Sie sprach den Namen nicht aus, sie dachte und fühlte ihn nur, denn ihre Lippen waren wie versteinert . . . sie wollte die Arme nach ihm strecken, doch über ihrem Körper lag es wie ein unlösbarer Bann, wie seliges Erschlaffen . . .

Er steht an ihrer Seite, sie spürt den lauen Hauch seines Atems, verschüchtert schaut sie zu ihm auf, und durch ihre Augen senken sich seine Blicke tief, tief in ihr Herz . . . wie damals an jenem ersten Abend. Und alles fühlt sie wieder, was sie mit Scheu und süßem Zagen empfunden in jener schlummerlosen Nacht, in all' den folgenden Tagen, da er wieder und wieder kam. Und dann . . . dann war jenes andere gekommen, das Grausame, das Entsetzliche, das sie trennte von einander, im keimenden Frühling ihrer Liebe. Durch peinvolle Monate hatte sie die Trennung ertragen, dann hatte sie als liebste Weihnachtsgabe seinen Besuch an der Riviera sich erbeten. Er kam . . . und wieder fühlt sie das brennende Weh, welches damals durch ihre Seele fuhr, als er vor ihr stand, mit erschrockenen Augen und erblaßtem Gesicht, keines Wortes mächtig. Dann sprach er wohl . . . leere Worte, die doch so seltsam klangen, so beängstigend. Und als er sie verlassen, schwer atmend, mit feuchten Augen, da hatte sie sich an der Mutter Hals geworfen: »Mutter! Er liebt mich ja doch, ich weiß es, ich fühl' es an dem Druck seiner Hand, in seinen Augen steht es geschrieben . . . weshalb nur spricht er nicht?«

Und die Mutter hatte sie schluchzend mit beiden Armen umschlungen: »Er kann nicht, Kind, er darf ja nicht!«

Da war die Erkenntnis über sie gekommen . . . und wenn sie auch heute noch lebte, in jener Stunde war sie gestorben!

Und jetzt . . . jetzt! Sie liegt im Grab mit lebenden Sinnen . . . und in der Todesstille plötzlich ein Schritt . . . der Schritt des Heilands, der zu dem schlafenden Kinde des Jaïrus kommt, um es aufzuwecken aus der ewigen Nacht zu neuem Tage.

Sie liegt zurückgelehnt in ihre Polster, starr und regungslos, mit erlöschendem Atem, doch Lachen und Weinen ist in ihrer Seele, Jubel und Schluchzen. Wie ein wonniger Taumel überfällt es ihre Sinne, in wirrem Fluge rasen die Bilder an ihrem schwankenden Geist vorüber . . . der ächzende Reisewagen, welcher schneckengleich emporkriecht zum Bahnhof von Matuglie, das untersinkende Abbazia, das verschwindende Meer, der Karst mit seinem Schnee, die fliegende Fahrt auf sausenden Schienen . . . und jetzt eine mächtige Stadt . . . alle Straßen angefüllt mit drängenden Menschen, jeder den Tod in seinen Augen, und sie alle folgen dem gleichen Zug, wie auf der Wallfahrt . . . sie selbst nun mitten unter tausenden . . . und dort, wie auf dem Katheder eines Hörsaales, nein, auf der Marmorstufe eines Tempels steht ein Mann mit bärtigem Antlitz, dem Greisenalter nahe . . . zwei Sonnen gleich, so leuchten seine Augen . . . und mit der Hand berührt er alle, die an ihm vorüberwanken . . . nun tritt auch sie hinzu, nur mit dem Finger streift er sie, und weggelöscht von ihrer Stirn ist das Todeszeichen, sie atmet auf, so tief, und fühlt schon, wie es quillt und glüht in ihr: das neue Leben, das neue Glück, die alte Liebe. Lachend und weinend in überseliger Freude windet sie sich los aus all' den jubelnden Menschen, und da fängt sie einer auf in seinen Armen, ein Jauchzender, er reißt sie an die Brust, er schließt sie an sein Herz, so fest, so eng . . . »Ach, nicht so stürmisch, Liebster! Du erdrückst mich . . . meine Brust . . . die Brust . . .«

Und alles geht ihr unter in Schmerz und Wonne.


Leise rascheln die Fächer der Palmen, wenn der Wind sie aneinander schlägt. Es rauscht und plätschert das Meer, auf dessen wachsenden Wellen kein Segel mehr sichtbar ist. Das Chioggiotenboot? Wohin nur hat es der Wind getragen? In die Weite? In die Heimat?

Eilende Schritte nähern sich über den Kies des Parkes.

»Ist es denn möglich, darf ich es denn glauben?« stammelt eine Frauenstimme in sorgender Freude.

»Glaube nur, glaube, und wenn dir der Mut zu glauben fehlt, so lass' uns doch dem armen Kind die Hoffnung wiedergeben!«

So nahe schon klingt diese Stimme, daß Lili sie hören müßte; aber stille liegt sie in ihren Polstern, mit gebrochenen Augen, auf den kalten Lippen ein verklärendes Lächeln.

Leise, unfühlbar ist es über sie gekommen . . . das neue Leben!

 


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