Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Der blinde Passagier.

Wir hatten uns über das unerschöpfliche Thema wieder einmal müde geredet und saßen mit heißen Köpfen um den Tisch. Nur ein einziger war bei all dem Spektakel, den wir erhoben hatten, als stummer Zuhörer dabeigesessen. Er hatte nur zuweilen gelächelt und sich ab und zu mit der Spitze seiner kleinen Holländerpfeife hinter dem Ohr gekraut. Das war unser alter Kapitän Claas Petersen. Nun aber, da wir alle schwiegen, legte er sich mit breiten Ellbogen in den Tisch, paffte eine dicke Wolke vor sich hin und sagte: »Na ja, so seid ihr Stadtratten! Was ihr mit Zahlen nicht beweisen könnt, das existiert nicht für euch. Ihr seid wie der Blinde, der von der Farbe redet, und was ihr nicht greifen könnt, das wollt ihr nicht glauben. Nu ja, was erlebt man auch in der Stadt! Einen Tag um den anderen! Aber setzt euch 'mal auf 'n braves Schiff und laßt euch so an die dreißig und vierzig Jahre herumblasen auf allen Meeren, dann sollt ihr Dinge erleben zwischen Himmel und Erde . . . na, ihr wißt wohl, wie der olle Prinz von Dänemark sich auszudrücken pflegte.«

»Hoho!« lachte Steffen Sundag, der jüngste unter uns allen. »Ihr habt wohl mit dem Klabautermännlein Bruderschaft getrunken und den Fliegenden Holländer jeden Sonnabend zum Thee geladen?«

»Nee, dummer Jung'!« brummte Claas Petersen. »Aber Dinge hab' ich erlebt, bei denen dir das Herz nur deshalb nicht in die Hose gefallen wär', weil du die Hose vorher verloren hättest.«

Helles Gelächter erhob sich rings um den Tisch. Dann blickten wir alle in Spannung auf die bärtigen Lippen des alten Seemannes; eine stille Pause trat ein; aber wir drängten ihn nicht zum Erzählen; wir alle wußten aus Erfahrung, daß Claas Petersen das Drängeln nicht liebte. Schweigend saß er da, paffte langsam ein Wölklein um das andere vor sich hin, und dabei hatten seine stahlgrauen Augen einen so verlorenen Blick, als wären seine Gedanken in vergangener Zeit und weiter Ferne. Nun lehnte er sich in seinen Winkel zurück, streifte uns der Reihe nach mit einem wägenden Blick und leerte langsam sein Glas.

»Heda, Käthe, mach' mir doch 'mal mein Glas wieder flott!« Und als das Mädchen mit dem Glas nach der Küche segelte, sagte Claas Petersen: »Na also, Jungens, ich will euch die Geschichte erzählen, es ist die merkwürdigste von allen, die ich erlebt habe, und wenn sie nicht wahr ist Wort für Wort, dann dürft ihr den ollen Claas Petersen einen ranzigen Fisch heißen.«

Noch einen tiefen Zug aus seinem Pfeiflein, einen tüchtigen Schluck aus dem frisch gefüllten Glas, dam begann er:

»Im heurigen Sommer werden es an die zweiundzwanzig Jahre. Ich führte in dem dritten Winter das Kommando auf der ›Mary Anne‹. Eine Schoonerbark von vierzehnhundert Tonnen mit zwölf Passagierskajüten . . . ein schmuckes, lustiges Schiff, flink wie eine Möve und wasserfest wie ein Seehund . . . Gott hab' sie selig, die gute ›Mary Anne‹, jetzt liegt sie seit sieben Jahren bei Far Öer ein Paar hundert Faden tief unter Wasser. Aber damals, zu meiner Zeit, da war sie noch schmuck auf, wie eine Dirn' auf dem Tanzplatz.

Ich hatte allerlei Zeug nach Boston geladen und acht Passagiere an Deck. Durch den Kanal hatten wir leidlich gute Fahrt; kaum aber schwammen wir ein paar Tage draußen auf offener See, da fiel das Wetter über uns her, daß uns Hören und Sehen auf drei Tage verging. Die ›Mary Anne‹ verlor den Kurs, und als sie am vierten Tage das Steuer wieder zu fühlen begann und das Wetter mit sich reden ließ, saßen wir droben über dem einundsechzigsten Grad, ein paar hundert Seemeilen von Island. Ich war in einer Laune, wie ein Häring, wenn er im Salz liegt, und fluchte den ganzen Tag wie ein Türke. Bis ich meinen Kurs wieder aufholte, waren ja zehn Tage Fahrt verloren. Dazu eine Kälte, daß einem das Herz im Leibe fror. Jede halbe Stunde ließ ich mir einen festen Grog aufs Heck bringen, aber es half nicht. Der steife Nordwest, unter dem wir segelten, blies mir bis in die Knochen, und dazu sangen die Wanten, Stage und Pardunen im Winde durcheinander wie die Chorbuben, wenn sie aus dem Takt kommen.

Da war's nun um die vierte Wache. Wir hatten gelogt, und ich gehe hinunter in meine Kajüte, um die Eintragung ins Logbuch zu machen. War auch froh, daß ich mich ein wenig auswärmen konnte. Und nun denkt euch, Jungens: Wie ich in meiner Kajüte unter die Thür trete, seh' ich hinter dem Tisch, auf dem die Seekarte ausgelegt ist, einen Menschen sitzen, den ich nicht kenne. Ein langer hagerer Kerl, so um die dreißig Jahre herum, mit einem weiß-blonden Bart. »Holla!« sag' ich, und da blickt er auf, und aus einem totenblassen, verkümmerten Gesicht sieht er mich mit seinen großen, wasserblauen Augen starr und durchdringend an und fährt dabei mit gestrecktem Finger über die Seekarte, als wollte er mir einen Kurs bezeichnen. Ich spüre, wie es mir so merkwürdig über den Rücken läuft, als striche eine eiskalte Hand darüber. Aber gleich wieder schüttle ich den Kopf, unwillig über mich selbst. Na, denk' ich, es wird wohl einer von den Passagieren sein! Hatte ja die Tage her blutwenig Zeit, mich um sie zu kümmern und gute Bekanntschaft zu machen. Und da hat sich nun einer in meine warme Kajüte gesetzt und treibt seinen Ulk mit mir. Aber wie ich noch so denke, fällt mir auf, daß der Mensch da über seinen Haaren eine Kapitänsmütze sitzen hat, und daß er ein Zeug am Leibe trägt, wie ein richtiger Seemann. Ich mache einen Schritt in die Kajüte . . . »Sie, Herr!« will ich sagen . . . aber das Wort bleibt mir im Halse stecken. Denn die Bank, auf der ich ihn sitzen sah, zum Greifen wirklich, ist plötzlich leer . . . und ich bin allein.

Ich fasse mich an der Stirn, ich wische die Hände über die Augen . . . aber die Bank ist leer! Eine Gänsehaut fährt mir über den Rücken. Aber ich war doch kein Narr, ich war doch ein vernünftiger Mensch mit gesunden Sinnen. Oder . . . zum Teufel, denk' ich mir hast du dir doch vielleicht ein paar Gläser zu viel hinter die Binde gegossen? Aber nein, ich stand ja so fest und gerade wie mein Hauptmast, und meine Augen hatten ihren richtigen, sicheren Blick. Freilich, in meinen Händen fühlte ich ein leichtes Zittern. Eine Weile stand ich noch wie angewurzelt, dann nahm ich das Logbuch vor und machte meine Eintragung. Und wie ich nun die Kajüte verlassen und wieder auf Deck steigen will . . . ich war schon unter der Thür . . . da dreh' ich den Kopf, um noch einmal zurückzuschauen . . . und glaube, daß mir vor Schreck alles Blut gerinnt. Dort, auf drei Armlängen vor mir, saß der Mensch wieder am Tische, genau so wie zuvor, den gestreckten Finger auf der Karte, den starren, durchdringenden Blick auf mich gerichtet.

Jetzt war es aber auch zu Ende mit meiner Ruhe und Besinnung. Als wäre der leibhaftige Teufel hinter mir her, so schlug ich die Thüre zu, rannte hinauf auf Deck und rief meine beiden Offiziere. Sie sahen mir's gleich am Gesichte an, daß irgend etwas geschehen wäre. »Jungens,« sag' ich, »wir haben einen blinden Passagier an Bord.« Und dabei war ich meiner Sprache kaum mächtig. Als ich dann erzählte, was mir begegnet war, lachten sie . . . gerade so, wie ich euch jetzt lachen sehe. Aber als ich das dumme Gelächter ein wenig krumm nahm und mich, zitternd an allen Gliedern, an die Beting lehnte, wollten sie mir einreden, daß ich krank und im Fieber wäre. Und ich war doch so gesund wie ein Fisch im Wasser. Sie suchten mich zu beruhigen und schlugen mir vor, mit mir hinunter zu gehen in die Kajüte, um die Sache zu untersuchen.

Das geschah nun auch; die Kajüte fanden wir leer . . . Das ganze Schiff, vom Oberdeck bis hinunter zum Kielschwein wurde durchsucht . . . es sind ja Fälle vorgekommen, daß sich solch' ein eingeschlichener Hallunke durch lange Wochen in der Last verborgen hielt, um schließlich durch einen Zufall entdeckt zu werden . . . aber nichts, nichts wurde gefunden. Und als wir dann wieder in meiner Kajüte saßen und über die merkwürdige Geschichte so hin und her reden . . . Hanse Kollins, mein erster Steuermann, liegt mit den Armen über dem Tisch . . . noch heute seh' ich ihn vor mir sitzen . . . und da beugt er sich plötzlich über die Karte, so merkwürdig betroffen, deutet mit dem Finger auf eine Stelle und sagt: »Käpt'n Petersen, habt Ihr das gemacht?«

»Was?« sag' ich. »Was soll ich gemacht haben?«

»Hier,« sagt er, »von unserem Kurs, genau von dem Platz, an dem wir stehen mit der ›Mary Anne‹, ist auf der Karte gegen Nord-Nordost ein Strich gemacht, wie von einem Fingernagel eingedrückt.«

Ich sehe zu . . . und es war richtig! Und geschworen hätt' ich, daß dieser Strich vor einer Stunde noch nicht auf der Karte war. Eine Weile schauten wir uns schweigend an, und dann sagt' ich: »Jungens,« sagt' ich, »das hat 'was zu bedeuten! Und jetzt weiß ich, was ich thue!« Nehme den Mantel um, drücke mir die Mütze in die Stirn . . . und hinauf an Deck. Ich gebe das Kommando, in zweieinhalb Minuten hatte die ›Mary Anne‹ das Manöver ausgeführt, und wir segelten den Kurs an, den der unheimliche Passagier auf der Karte vorgezeichnet hatte.

Zu allen Einwendungen meiner Offiziere schüttelte ich nur den Kopf. »Ich will wissen, was das zu bedeuten hat,« das war mein einzig Wort. Ich hatte in meinem innersten Herzen die Überzeugung, daß uns etwas Außergewöhnliches bevorstände.

Die Nacht verging, und dann bei grauendem Morgen . . . ich war schon wieder an Deck . . . da meldet plötzlich der Lugaus: »Eisberg in Sicht!« Ein paar Minuten und in gerader Linie vor unserem Kurse taucht eine bläulich schimmernde Masse über die breitrollende See herauf. Ich schaute mir das Auge fast blind durch das Fernrohr, aber der Tag dämmerte noch zu trüb, ich vermochte nicht scharf genug zu unterscheiden. Da nimmt mir Hanse Kollins – der Bursch hatte Augen wie ein Fischgeier – das Glas aus der Hand, und kaum hatte er einen Blick durchgeworfen, so schreit er: »Käpt'n Petersen, ich seh' was!«

»Was siehst du, min Jung',« sag' ich, zitternd vor Aufregung.

»Eine Steng' seh' ich, und an der Steng' ist eine rote Notflagg' gehißt!«

Jetzt möcht' ich euch sagen können, Jungens, wie es auf der ›Mary Anne‹ lebendig wurde. Alles rannte auf dem Vordersteven zusammen, Mannschaft und Passagiere, bald schrie man durcheinander, und dann wieder war lautlose Stille. Immer näher kamen wir dem Eisberg und jetzt konnten wir schon mit freien Augen die Notflagg sehen, eine rote, vom Winde zerfetzte Blouse.

Die ›Mary Anne‹ drehte bei vor dem Wind, wir ließen ein Boot in See . . . Hanse Kollins am Steuer, acht Mann an den Riemen, ich selbst mit dem Glas am Steven . . . so ging's auf den Eisberg zu. An einer vorspringenden Scholle legten wir an, und aus vollem Halse schrie ich: »Boot ahoi!« Doch keine Antwort! Hanse Kollins aber . . . der Bursch hatte Glieder wie eine Katze . . . war schon über eine zackige Eiswand emporgeklettert, und mit einmal schreit er zu uns herunter: »Da liegen sie . . . drei Mann!« Im Hui waren wir droben bei ihm, und in einer Mulde des Eisgrundes sahen wir sie liegen, eingehüllt in Mantel und Kotzen, starr und leblos, drei Mann . . . und unter ihnen ein Gesicht, das ich schon einmal im Leben gesehen hatte . . . um die vierte Wache tags zuvor, hinter dem Tisch in meiner Kajüte. Das war das gleiche totenblasse, kummervolle Gesicht, der gleiche weißblonde Bart . . . nur die Augen sah ich nicht, denn die Lider waren geschlossen.

Eine halbe Stunde, und die drei armen, auf den Tod erstarrten Jungen lagen wohlgeborgen in unserem Boot. Den Kopf des Weißblonden hielt ich in meinem Schoß; ich rieb ihm das Gesicht mit Branntwein, goß ihm Branntwein auf die Lippen, und da plötzlich fing er zu schlucken an, und zwischen meinen Knien spürt' ich es, wie ihm die Brust langsam auseinander ging. Ganz sachte schlug er die Augen auf . . . es waren die gleichen wasserblauen Augen . . . mit einem langen Blick sah er mich an und murmelte: »Der Kapitän . . . der ›Mary Anne‹!«

»Ja, Freund,« sag' ich, und ich brachte die Worte vor Aufregung kaum aus der Kehle. »Habt Ihr mich denn im Leben schon einmal gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Niemals . . . doch ja . . . wann es war weiß ich nicht . . . doch als ich zu erstarren begann und die letzte Hoffnung aufgab, da sah ich plötzlich ganz nahe vor mir eine Schoonerbark . . . und deutlich konnt' ich an der Galjon den Namen lesen: ›Mary Anne‹. Und dann wieder war es mir, als säß' ich in einer fremden Kajüte hinter dem Tisch . . . und . . . und . . .«

Weiter kam er nicht, er hatte das Bewußtsein wieder verloren.

Als wir eine halbe Stunde später die Geretteten an Bord der ›Mary Anne‹ brachten, wurde alles Nötige unternommen, um die Erstarrten und Halbverhungerten ins Leben zurückzurufen. Und Gott sei Dank, es gelang uns. Freilich konnte sich keiner auf den Beinen halten, und schwach waren sie, daß sie kaum ein paar Schluck' und einen armseligen Happen hinunterbrachten. In der warmen Roof schliefen sie bis zum nächsten Morgen. Als sie dann erwachten und tüchtig gefuttert hatten, erzählte mir der Weißblonde, daß er Kapitän auf dem Walfischfänger ›Holfest‹ gewesen und vor drei Tagen im Sturm sein Schiff mit vierzehn Mann verloren hätte. Als ich ihm aber sagte, er möchte mir jetzt genauer erzählen, wie denn das gewesen wäre, als er im Erstarren plötzlich die ›Mary Anne‹ gesehen hätte . . . da wußte er sich auf nichts mehr zu besinnen, rein auf gar nichts. Und steif und fest behauptete er, daß er mich zum erstenmal gesehen hätte, als er an Bord der ›Mary Anne‹ aus seiner Ohnmacht erwachte.«

Claas Petersen that einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, sah uns der Reihe nach an und sagte: »Na also, Jungens, was jetzt?«

Wir alle schwiegen. Nur Steffen Sundag wagte eine ungläubige Bemerkung.

Kapitän Petersen strich sich mit dem Rücken der Hand den grauen Bart auseinander und sagte: »Steffen Sundag! Habt Ihr schon erfahren, daß Claas Petersen ein einzigmal in seinem Leben gelogen hat? Na also! Und daß Ihr es wißt . . . der Weißblonde heißt Jürgen Folding und sitzt heute mit Frau und Kindern zu Lönborg am Stavninger Haff in einem schmucken Häuschen. Und Hanse Kollins lebt auch noch und fährt auf der ›Denderab‹ zwischen Hamburg und Valparaiso. Die beiden könnt' Ihr fragen, Steffen Sundag . . . was der eine nicht weiß, das weiß der andere. Und somit gute Nachtfahrt!«

Kapitän Petersen leerte sein Glas und kreuzte mit gerefften Segeln, das heißt mit den Händen in den Hosentaschen, zur Thür hinaus.

 


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