Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Das rote Licht

Der Zug war überfüllt. Dennoch hatte Georg ein Coupé für sich und seine Familie erobert. Der Zug war allerdings noch nicht in Gang, und einzelne Reisende eilten noch scheltend von Waggon zu Waggon, um ein halbwegs bequemes Plätzchen für sich ausfindig zu machen. Georg aber wußte sie auf raffinierte Weise von seinem Coupé fortzuscheuchen. Er nahm seinen zweijährigen Jungen auf die Knie, tollte und scherzte mit ihm und kniff ihn in die runden Backen, so daß der kleine Knirps ein fideles Geschrei erhob, das sich nur durch ganz feine Nuancen von einem schmerzvollen Gezeter unterschied. Dazu ahmte Georg mit verblüffender Natürlichkeit die quieksenden Laute eines Wickelkindes nach, und um die abschreckende Wirkung dieser für die Ohren aller Reisenden so unheimlichen Töne zu verschärfen, mußte das Kindermädchen in unmittelbarer Nähe der Thüre ein leeres Kissen auf den Armen schaukeln. Selbstverständlich war auch der vierjährigen Nelly eine Rolle in dieser Intriguen-Komödie zuerteilt worden; man hatte sie an das Fenster postiert, und hier kam sie auf den geradezu genialen Einfall, unter herzbrechendem Gesänge mit beiden Fäustchen auf die Scheibe loszutrommeln. Georgs junge, reizende Frau spielte in diesem meisterhaft inscenierten Lustspiel das Publikum. Sie stand im Fond des Coupés und lachte aus vollem Herzen, so oft ein Gesicht mit forschender Miene vor der Coupéthüre auftauchte, um jählings mit dem Ausdruck starren Entsetzens wieder zu verschwinden.

Endlich! Das letzte Zeichen wurde gegeben, der Pfiff der Lokomotive schrillte durch die Halle, und schnaubend dampfte der Zug aus dem lichterhellten Bahnhof hinaus in die sternhelle Nacht. »Viktoria!« schrie Georg jubelnd auf und schwang mit beiden Armen sein Bürschlein, das vor Entzücken mit den Füßchen strampelte. Er hatte aber auch alle Ursache, sich seines gelungenen Streiches zu freuen. Eine zehnstündige Fahrt in der Nacht, in einem angepfropften Coupé, mit Kind und Kegel, das wäre in der That ein Los gewesen, »schwerer zu ertragen, als eine Reihe von schönen Tagen«.

O, diese Dichter! Die Weisheiten und tiefsinnigen Gleichnisse, die sie in unterschiedlichen Versfüßen aus dem Ärmel schütteln, hinken zuweilen ganz bedenklich. Der sechswöchentliche Urlaub, den Georg mit den Seinen in einem entzückenden Gebirgsthal verbracht hatte . . . was war das eine »Reihe von schönen Tagen« gewesen! Und wie leicht zu ertragen! Nur schade, daß sie nun vorüber waren, wie weiland die »schönen Tage von Aranjuez«!

»Aber daheim ist's auch wieder schön,« meinte Georg, zog sein junges Weibchen an sich und küßte den roten Mund, der ihm entgegenlachte. Das Bürschlein aber schien eine Zärtlichkeit, die nicht ihm galt, absolut nicht dulden zu wollen; es fuhr dem Vater zausend in den braunen Bart und schlug ihm das feiste Händchen – patsch! – mitten auf die Nase. Georg lachte, daß ihm die Thränen kamen. Die kleine Nelly wurde eifersüchtig und kletterte auf den Schoß der Mutter, wo sie, anknüpfend an das Rollen und Rasseln der Räder, eine endlose Reihe von Fragen jener Art eröffnete, welche nach dem Sprichwort zehn Weise nicht zu beantworten vermögen. Ganz besonders interessierte sie sich für die Art ihrer Fortbewegung im Coupé. Daß die Waggons von der Lokomotive gezogen werden, das begriff sie sofort; aber . . .

»Wer zieht die Lokomotive?«

»Der Dampf, mein Kind.«

»Ist der Dampf ein Pferd.«

»Nein, Schatz. Der Dampf . . . der Dampf . . . weißt Du, das ist eine Kraft.«

»Ist die Kraft ein Pferd?«

»Nein, aber das Pferd hat eine Kraft, verstehst Du?«

»Ja, Mama, aber wo hat das Pferd die Kraft?«

»In den Füßen.«

»Hab' ich auch eine Kraft in den Füßen?«

»Ja, ja, ja!«

»Darf ich dann auch die Lokomotive ziehen?«

Die Mutter verzweifelte, und Georg lachte. Er strich mit der Rechten über das lockige Haar seines neugierigen Mädchens und hielt mit der Linken das Bürschlein fest, das sich am Fenster aufgestellt hatte, das Näschen an das Glas drückte, die kühle Scheibe beleckte und dabei mit staunenden Augen auf die vorüberhuschenden Lichter guckte.

Inzwischen wurde vom Kindermädchen die eine Hälfte des Coupés für die Kleinen häuslich eingerichtet, mit Kissen und Decken. Als es dann hieß: Schlafen gehen! – gab es freilich von Seite Nellys einen weinerlichen Protest, den aber das zärtliche Zureden der Mutter rasch beschwichtigte. Die Kinder wurden halb entkleidet, von Vater und Mutter tüchtig abgeküßt, unter die gestickten Decken geschoben – und dann mußten sie beten. Zuerst faltete Nelly die Hände und sagte mit rührender Einfalt ihr frommes Sprüchlein her. Darauf kam der Prinz an die Reihe:

»Esudindlein domm' zu mir,
Mach' ein frommes Dind aus mir . . .«

so plapperte das Bürschlein unter mehrmaligem Gähnen, wobei es nicht verfehlte, wie allabendlich, am Schluß des Versleins zum Entzücken von Vater und Mutter die naive Pointe anzubringen:

»Mein Herz ist dein, kann niemand 'nein,
Als du mein liebes Esulein!«

Es wurde nach Gebühr gelacht, dann legte die junge Mutter die Kinder bequem in die Kissen, und Georg zog an der Decke des Coupés den blauen Vorhang über die Lampe.

»So! Jetzt nicht mehr gemuckst und fest geschlafen!«

Die Kleinen benahmen sich so manierlich, wie gute Lämmchen, sie rührten sich nicht mehr, und bald hatten alle beide die Augen geschlossen. Freilich, je bequemer es die Kleinen hatten, desto knapper war der Raum für die drei Großen bemessen. Die eine halbe Bank wurde dem Kindermädchen überlassen, Georg drückte sich in die Ecke am Fenster, die junge Frau setzte sich an seine Seite und lehnte den Kopf an seine Brust. Ein halbes Stündchen plauderte sie noch leise mit ihm, dann fielen auch ihr die müden Lider zu.

Georg wachte. Er hielt den Arm um die Schulter seines Weibes geschlungen und wagte sich nicht zu rühren, um die Schlafende nicht zu wecken.

In stillen Gedanken blickte er vor sich hin. Doch immer wieder glitten seine Blicke hinüber zu den schlummernden Kindern, deren frische Gesichtchen in dem blauen Dämmerschein sich ansahen wie verschleierte Rosen.

Ein seliges Lächeln umspielte Georgs Lippen, und er drückte einen leisen Kuß auf das wellige Haar der jungen Mutter, wie zum stummen Danke für das süße Glück, das sie ihm geschenkt hatte mit ihrer Liebe und ihren Kindern.

* * *

Zwei Stunden hatte die Fahrt gewährt, da erwachte die junge Frau. Der kurze Schlaf auf dem engen, unbequemen Sitze hatte sie noch mehr ermüdet. Georg strengte all' seinen Scharfsinn an, um Hilfe zu schaffen. Aber den Kindern war an Raum nichts abzuzwacken, und das Mädchen, das den ganzen Tag geräumt und gepackt hatte, mußte auch sein leidliches Plätzchen haben. Hier gab es nur einen Ausweg. In der nächsten Station verließ Georg das Coupé und suchte in einem anderen Waggon unterzukommen. Das war nun freilich nicht so leicht. Atemlos rannte er von Thür zu Thür, und endlich, im letzten Wagen des Zuges, fand er für sich noch ein Winkelchen. Er selbst hatte es nun freilich schlechter getroffen – er war der achte im Coupé – aber er dachte an seine kleine Frau und war zufrieden.

Wie gut sie nun schlafen konnte! Er sah sie ganz deutlich vor sich . . . sie schlummerte, behaglich ausgestreckt, und atmete in tiefen Zügen durch die leicht geöffneten Lippen. Zarte Röte färbte ihre Wangen, und um die Mundwinkel spielte ein feines Lächeln, als sähe sie im Traume fröhliche Bilder . . .

Ein dreifacher, gellender Pfiff der Lokomotive schreckte Georg aus seinen Gedanken auf. Ein jähes Angstgefühl durchschoß ihm das Herz . . . er fuhr auf die Thür zu, riß das Fenster nieder und starrte am Zug entlang. Es war im freien Felde, keine Station in der Nähe. Weit vorne auf der Strecke sah Georg ein rotes Licht, das von einem unsichtbaren Jemand hastig im Kreis geschwungen wurde. An den Rädern hörte er die Bremsen knirschen, immer langsamer ging der Zug, und kreischende Stimmen ließen sich vernehmen.

»Weshalb halten wir? Was ist geschehen?« schrie Georg in die Nacht hinaus. Niemand antwortete ihm. Weit vorne hörte er eine rauhe Stimme fluchen, dann pfiff die Lokomotive, ein rasselnder Stoß durchfuhr die Wagenreihe und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Kopfschüttelnd schloß Georg das Fenster und kehrte zu seinem Platze zurück. Die anderen Passagiere waren ebenfalls munter geworden und redeten eine Weile hin und her, was wohl den Aufenthalt inmitten des offenen Feldes verursacht hatte. Unverständlich summten ihre Stimmen um Georgs Ohren, er saß in seine Ecke gedrückt und schaute ins Leere; die Hände zitterten ihm von der Nachwirkung des plötzlichen Schrecks. Er hätte doch wohl besser gethan, wenn er bei seiner Frau und seinen Kindem geblieben wäre – so meinte er nun. Es wäre ja möglich, daß ihnen eine ernste Gefahr gedroht hätte . . . und dann wären sie allein gewesen, schutzlos, verlassen.

Aber Gott Lob! Was ihm das Herz im ersten Augenblick zusammengekrampft hatte wie mit eisiger Hand . . . es war nur blinder Lärm gewesen. Vielleicht ein völlig harmloser Vorgang, den er in der Sorge um seine Lieben mit übertriebener Ängstlichkeit gedeutet hatte. Er lächelte und schloß die Augen. Langsam rann es durch seine Glieder, wie bleierne Müdigkeit. Aber er kämpfte gegen den Schlaf, er dachte an sein Weib, an seine Kinder . . . er sah das dunkle Coupé, sah aus dem blauen Dämmerschein die süßen, rosigen Gesichtchen leuchten, er hörte die leisen, ruhigen Atemzüge der jungen Mutter . . . und unter ihm, da rasselten und schlugen die Räder im schnatternden Takt . . . die Fenster zitterten und klirrten . . .

Da plötzlich . . . wieder der gleiche Pfiff, dreimal nacheinander, kurz und gellend. Wieder stürzte Georg zum Fenster, wieder sah er das rote Licht . . . jetzt aber wollte der Zug nicht halten . . . das rote Licht aber wuchs und wuchs, es wurde zu einer mächtigen Flamme, welche gleich einem feurigen Ungetüm wie besessen auf- und niedersprang. Georg wollte schreien, aber die Zunge war ihm wie gelähmt, er wollte die Thür öffnen und vermochte kein Glied zu rühren. Und jetzt . . . ein donnerähnliches Krachen, ein Schwanken und Sinken, als klüfte sich die Erde, ein Schmettern, Dröhnen und Zischen . . . und herzzerreißendes Geschrei! In Grausen und Entsetzen schwanden ihm die Sinne. Als er wieder zur Besinnung kam, sah er sich auf offenem Felde liegen. Alle Glieder waren ihm wie zerbrochen, aber stöhnend raffte er sich auf. Doch als er das grauenvolle Bild erfaßte, das sich seinen Augen bot, war ihm, als müsse sein Herz zerspringen vor Weh und Wahnsinn.

Zerschmettert lag der ganze Zug, Trümmer und Leichen überall, und alles blutigrot erleuchtet von der mächtigen Flamme, die aus dem geborstenen Kessel der Lokomotive emporloderte gegen den schwarzen Himmel. Ächzen und Wimmern, gräßlicher Jammer und schrille Hilferufe füllten die Luft.

Aus Georgs Kehle rang sich ein gurgelnder Laut, er stürzte vorwärts, vorüber an Trümmern und Trümmern . . . und jetzt . . . »Georg, Georg!« so klang es mit herzzerbrechendem Stöhnen an sein Ohr. Wie zu Stein verwandelt stand er, seine Lippen klafften, seine zuckenden Finger griffen ins Leere. Ein Wust von Holz und Eisen lag vor seinen Füßen . . . aber seine starrenden Blicke drangen durch all' diese Trümmer . . . er sah seine süßen Kinder, sein schönes, junges Weib, mit bleichen Zügen und brechenden Augen . . . von seinen Lippen tönte ein gellender Schrei, und . . .

Und da erwachte er. Der Morgen dämmerte und eben hielt der Zug in der Halle eines Bahnhofes. Georg fuhr mit beiden Händen an die Stirne, auf der ihm der kalte Schweiß in dicken Tropfen stand. Jetzt wurde die Thür geöffnet, und da sprang er auf, stürzte ins Freie, rannte am Zug entlang, suchte mit irrenden Blicken das Coupé . . . nun fand er die Thüre, und als er sie aufriß, streckte die junge Frau ihm lächelnd die Hand entgegen. Wie erschrak sie aber, als sie sein blasses Gesicht und seine brennenden Augen sah. Doch ließ er ihr keine Zeit zu einer Frage – mit zitternden Armen umschlang er sie und überströmte ihr Gesicht mit glühenden Küssen. Da hörte er die Stimme seiner Nelly – die Kinder waren erwacht – aufschluchzend riß er die Kleinen an seine Brust, küßte ihnen Mund und Augen, immer und immer wieder, dann sank er zurück in die Polster, und seine fassungslose Erregung löste sich in Lachen und Thränen.

 


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