Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Der Wildbach.

Unablässig strömte der Regen aus den grauen Wolken, welche drückend niederhingen über das Bergthal und alle Höhen verschlossen hielten. Kein Laut des Lebens ließ sich in weiter Runde vernehmen, man hörte nur das grollende Rauschen des hoch angestiegenen Thalbaches und das dumpfe Toben der Regenstürze und Wildbäche, welche von den Berggehängen thalwärts stürmten, Felsbrocken und Baumstrünke vor sich herwälzend in weißschäumender Flut. Unablässig strömte der Regen, ununterbrochen schon in die dritte Woche, und wieder ging mit Strömen und Gießen ein Tag zu Ende, ohne daß sich ein Wechsel zum Besseren erhoffen ließ. Auf allen Wiesen ging das Heu zu Grunde. Die Feldfrucht faulte auf den Halmen, und in den Wäldern stürzte Baum um Baum, da in dem ausgeschwemmten Erdreich die Wurzeln ihren Halt verloren.

Unablässig strömte der Regen und immer lauter tönte von überall das tobende Rauschen, während die langsam ziehenden Wolken sich dunkler und dunkler färbten im sinkenden Abend. Das alte Weiblein, welches abseits von der Straße unter den triefenden Ästen einer mächtigen Fichte kauerte, die zitternden Hände in die blaue Schürze gewickelt, hatte schon Mühe, mit den Blicken die Dämmerung und den Regenschleier zu durchdringen. In brennender Sehnsucht irrten die alten Augen über die öde Landstraße dahin, deren Grund sich in einen fließenden Bach verwandelt hatte.

Endlich kam der Erwartete, ein alter Mann, in triefenden Zwilch gekleidet; unter dem mürben Filzhut quollen ein paar weiße Strähne hervor und klebten an den furchigen Wangen des steingrauen Gesichtes. Der Regen schien den Alten nicht zu kümmern; mit gesenktem Kopfe zur Erde starrend, kam er in gleichmäßigem Schritt die Straße einhergewatet; an einem Stricklein trug er die Holzaxt, deren Schneide mit einem hölzernen Klötzchen versichert war, und über den Schultern schleppte er ein großes Bündel, dessen Inhalt eine dicke Lodenkotze vor dem strömenden Regen zu schützen suchte.

Als die alte Frau den Näherkommenden gewahrt hatte, war sie aufgesprungen. Nun eilte und watete sie ihm entgegen. »Steffel! Grüß' dich Gott, Steffel! Schier hab' ich nimmer g'meint, daß ich dich heut noch derwarten kann!«

»Aber Sephi, geh', was treibst denn!« schmollte der Alte; doch als er die angstvollen, thränennassen Augen seines Weibes sah, verstummte er, und ein Zucken und Zittern ging über seine steinernen Züge. Und dann, scheu und leise, als hätte er Furcht, zu fragen, kam es über seine welken Lippen: »Was macht er denn?«

»O mein Gott, Steffel, o mein . . .« und Sephi brach in helles Schluchzen aus, »heut treibt er's arg! So hab' ich ihn noch nie net g'seh'n! So net, Steffel . . . so net!«

»No schau, geh', thu' dich net sorgen,« tröstete der Alte mit schwankender Stimme, »er is halt einer von die Wilden, gleich in der Höh', voller Hitz' und Zorn! Aber thu' dich net sorgen . . . es legt sich schon wieder! Ich weiß ja, wie er is! Wie oft schon is er g'wesen, daß ich g'meint hab', jetzt und jetzt is' aus . . . und allweil wieder hat er mit ihm reden lassen und hat nachgeben als der G'scheitere! Ah na, wir Zwei, wir kennen uns, ich fürcht' ihn net . . . drum thu' dich net sorgen, Sephi, geh', und komm' jetzt, komm'!« Er zog dem schluchzenden Weib die Hände vom Gesicht und versuchte ein sorgloses Lächeln, das ihm freilich nicht ganz gelingen wollte. Dann schritt er voran auf einem schmalen, steilen Waldpfad, über dessen Stufen das gesammelte Regenwasser in weißen Wellen niederplätscherte. Es wurde dunkler und dunkler, während die beiden den Wald durchschritten . . . und je mehr sie zur Höhe kamen, desto näher klang das stürmende Rauschen, das Beben und Tosen eines Wildbaches, vermischt mit dem Rollen und Krachen der Steinklötze, die er vor sich hertrieb in seinem uferlosen Bette.

»Hörst ihn, Steffel,« schluchzte das Weib, »hörst ihn, wie er thut!«

»Ja, ja,« murmelte der Alte, »heut thut er schon sakrisch wild!«

Nun traten sie unter den Bäumen hervor in ein schmales Thal, das zwischen steile Waldgehänge gelagert war. Jeder Pfad vor ihnen war verschwunden – die ganze Breite des Thales füllte das tosende, von sprühendem Gischt überdeckte Wasser des Wildbaches. Weiß leuchteten die springenden Wellen aus der Dämmerung, und zwischen ihnen, gleich fliegenden Schatten, schossen die Klötze und gebrochenen Stämme der Tiefe zu.

Mühsam suchten sich die Beiden einen Weg zwischen Wasser und Wald. Da schimmerte ihnen aus der Höhe ein mattes Licht entgegen.

»Aber, Sephi . . . in der Stuben brennt ja a Licht! Geh . . . für was denn?«

»Ah na, kein Licht net . . . es is g'rad 's Lamperl im Herrgottswinkel . . . ich hab's halt an'zünd't . . . weißt . . . wann der nimmer hilft, so hab' ich mir denkt, nachher . . . nachher . . .« Sie brachte es nicht über die Lippen, was sie noch weiter sagen wollte.

Wieder stiegen sie bergan, und nun erreichten sie das kleine Blockhaus, das auf einem vorspringenden Hügel hinausgebaut war bis hart an das Gerinne des Wildbaches. Den Weg zur Thür hielt das Wasser schon versperrt; von der Waldseite her mußten sie die hölzerne Galerie besteigen, welche das Haus umzog. Der Boden schwankte und zitterte unter ihren Füßen, und springende Wellen schlugen über das Geländer. Wenn sie sprachen, konnte eines das andere nicht verstehen, so lärmte und tobte der Bach.

Es war eine armselige Stube, die sie betraten, aber zwischen diesen kahlen, rauchgeschwärzten Wänden hatten sie treu zusammengehalten durch vierzig lange Jahre, hier hatten sie all' das viele Leid und all' die wenige Freude ihres stillen Lebens geteilt, hier hatten sie die Kinder geherzt, die Gott ihnen geschenkt und wieder genommen . . . eine armselige Stube, aber eine Stube des Hauses, das ihr einziges Eigen war, der ganze Reichtum ihrer Armut, jeder Splitter dieser morschen Balken verwachsen mit ihrem Dasein, mit all' ihrem Fühlen und Sinnen.

Schweigend hatte Steffel die Schwelle überschritten und das schwere Bündel niedergelegt. Das Lichtlein, das im Herrgottswinkel unter dem großen, plump geschnitzten Kruzifix brannte, warf nur einen matten Schimmer. Sephi entzündete eine Kerze, und als sie beim Schein derselben das verstörte, kalkweiße Gesicht ihres Mannes sah, überkam sie ein Schreck, daß ihr die Knie zu brechen drohten.

»Steffel . . . gelt . . .« stammelte sie, »thust dich selber schon sorgen?«

Er schüttelte wortlos den Kopf. Mit zitternder Hand schob sie den Leuchter auf das Fensterbrett, ging zum Ofen, nahm aus der Röhre die Schüssel mit der kalt gewordenen Suppe und trug sie zum Tisch. Wieder schüttelte Steffel den Kopf. »Später, Sephi, später . . . z'erst muß ich schauen, was er macht . . . der da draußen!«

Er brachte aus dem Bündel mehrere Kienscheite hervor, die in lange Späne zerschlissen und mit Harz getränkt waren.

»Gelt, Steffel, hast dir schon 'denkt, daß du a Leuchten brauchst heut in der Nacht,« stotterte Sephi, während ihr die Zähren über die furchigen Backen kollerten.

Er nickte nur und steckte an der Kerzenflamme eine der Fackeln in Brand. Als er die Stube verließ, wollte sie ihm folgen. Er aber sagte: »Geh', Alte, bleib' herin, helfen kannst mir ja nix . . . und . . . und g'schehen könnt' dir auch 'was.«

So blieb sie. Vor dem Tisch warf sie sich auf die Knie, krampfte die Hände ineinander, und unter Schluchzen fing sie zu beten an. Während sie unablässig die Namen des dreifaltigen Gottes und aller Heiligen stammelte, zitterte und schwankte der Boden, auf dem sie kniete, es rauschte und tobte der Bach, und zuweilen durchfuhr ein dumpf krachender Ruck das ganze Haus und den Hügel, von dem es getragen wurde.

Wohl eine Stunde verging, ehe Steffel zurückkehrte. Und als er kam, mit dem verkohlten Fackelstumpf in der geschwärzten, blutigen Hand, mit zerrissenem Kittel und triefenden Haaren, da brauchte er seinem Weibe nicht zu sagen, daß es in dieser Stunde um sein Leben hergegangen war . . . sie las es von seinem fahlen, starren Gesicht. Er brauchte ihr nicht zu berichten, wie schlimm es da draußen stand: daß der Pfahlrost, der den Hügel gegen die Gewalt des Baches schützen sollte, von den im Wasser treibenden Felsblöcken schon zerschnitten und zerschmettert wäre, und daß an dem schutzlosen Erdreich schon das Wasser nage, jede Welle ein scharfer Biß . . . das alles las sie, und noch Schlimmeres, aus seinen verzweifelten Augen.

»Steffel!« Nur diesen einen kreischenden Laut, mehr brachte sie nicht über die Lippen.

Er nickte und ließ sich keuchend auf die Holzbank sinken. Und als er den Atem wieder fand, sagte er: »Wann noch 'was z'helfen is, muß g'holfen werden in der nächsten Stund'.«

Da irrten ihre Blicke über die Wände hin, und sie streckte die beiden Hände, als könnte sie all den kleinen, armseligen Kram mit diesem einzigen Griff noch fassen und halten. Dann wieder schluchzte sie: »Jesus Maria, Steffel, laß' mich fort, ich lauf' ins Ort 'nunter um Leut'! . . .«

Er schüttelte den Kopf. »Da helfen keine Leut' nimmer, wann ich selber net helfen kann.« Mit diesen Worten erhob er sich und griff nach seiner Holzaxt. »Komm, Sephi, du mußt mir d'Leuchten halten!«

Eine neue Fackel wurde in Brand gesteckt, und dann verließen sie durch die Hinterthüre das Haus; nur wenige Schritte hatten sie bis zur Höhe des Hügels, welche mit alten Fichten bestanden war; die Bäume traten bis dicht an die Böschung heran, welche steil zum Bette des Wildbaches niederfiel. Auf diese Bäume, welche im zuckenden Licht der lodernden Fackel sich tanzend zu bewegen schienen, deutete Steffel: »Von denen da könnt' einer noch helfen . . . wann er möcht'.« Nun stand er auch schon neben dem mächtigsten der Stämme, und während sich Sephi mit hocherhobener Fackel an seiner Seite hielt, führte der Alte mit allem Aufgebot seiner Kräfte Schlag um Schlag. Aber es währte länger als eine Stunde, bis der Stamm sich zu neigen begann; und als er krachend stürzte, riß Steffel die Fackel aus Sephis Händen, sprang an die Böschung vor und verfolgte mit brennenden Augen den sinkenden Koloß. Mit Klatschen und Krachen schlug der Baum querüber in das Bett des Wildbaches, aber nur eine Minute lag er regungslos, dann begann er sich zu drehen, begann zu rollen, mit gesteigerter Macht faßten ihn die gestauten Wellen, schoben ihn zur Seite, man hörte, wie er mit dumpfem Stoß wider die ausgewaschene Narbe des Hügels rannte, und dann verschwand er in Wasser und Nacht.

Steffel und Sephi sprachen kein Wort; mit verzweifeltem Blick nur schaute eines in das Auge des anderen . . . und von neuem begannen sie die Arbeit. Wieder stürzte ein Baum, und wieder rissen ihn die Wellen mit sich fort. Der Morgen begann zu dämmern, als der dritte Baumstamm krachend niederschlug, um den gleichen Weg zu suchen, den die anderen gefunden. Da ließ der alte Mann die Axt aus den zitternden Händen sinken. »Jetzt kann ich nimmer, Sephi . . . mit meiner Kraft is' gar!«

»Jesus Maria!« schrie Sephi auf, »um tausendgotteswillen thu' ich dich bitten, Steffel, lass' net aus . . . lass' net aus! G'rad noch ein einzig'smal probir's!«

Keuchend richtete sich Steffel auf, wischte mit dem Ärmel den Schweiß von der bleichen Stirn und griff zur Axt. Noch aber hatte er sie nicht zum Schlag erhoben, da klang aus der Tiefe ein Ächzen und Knirschen, ein dumpfes Krachen und donnerndes Gepolter . . . sie wandten die erblaßten Gesichter . . . und da sahen sie den Hügel verschwunden, sahen ihr Haus inmitten des Wassers, überstürzt und übersprudelt von den schäumenden Wellen, unter deren Druck und Gewalt alle Balken sich lösten, alle Blöcke aus ihren Fugen sprangen. Der Schrei, der sich von den Lippen der beiden Menschen löste, ging unter in dem wilden Lärmen und Toben des Baches, der in wirrem Wust die Trümmer des zerstörten Hauses mit sich fortriß in die Tiefe. Sephi hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte, Steffel stand wortlos, noch die Axt in der Hand, und hing mit starren, toten Augen an der Stelle, die sein Haus getragen. Wie lange sie standen, sie wußten es nicht. Dann nahm der Alte sein Weib bei der Hand. »Komm, Alte!« sagte er, und nun rannen auch ihm die Zähren über die Backen.

Mit wankenden Schritten stiegen sie zum Waldsaum nieder, und dem Gerinne des Waldbaches folgend, suchten sie zwischen den Trümmern, die er ausgespült, nach den Resten ihrer Habe. Das erste, was sie fanden, war das Kruzifix aus dem Herrgottswinkel; unversehrt lag es zwischen Schutt und Geröll . . . auch die geweihten Palmzweige fehlten nicht, mit denen das Kreuz durchflochten war. Schluchzend hob Sephi das Schnitzwerk von der Erde; Steffel aber lachte zornig auf: »Schau, schau, . . . der hat sich 'tummelt, daß er aussi kommt! An ihm selber hat er denkt, daß ihm nur ja nix g'schieht . . . auf uns aber hat er vergessen!«

»Um Gotteswillen,« stammelte Sephi, »thu dich net versündigen. Mann! Schau, das is ja wie a Wunder . . . wie wann er hätt' sagen mögen, daß er bei uns bleiben will und weiterhelfen . . .«

»So? Meinst?« Und mit nickendem Kopfe stieg der Alte weiter. Verstohlen küßte Sephi das hölzerne Bild in ihren Armen und folgte mit murmelnden Lippen ihrem Manne . . .

Als die beiden Heimatlosen im Thal die Landstraße erreichten, beladen mit dem armseligen Kram, den sie aus dem Wasser gelesen, begegneten sie einer gedeckten Kutsche, deren Weg durch den tobenden Wildbach versperrt war. Die Insassen des Wagens fluchten über die »elende Gebirgsstraße« und jammerten über die verpfuschte Reise und den verregneten Urlaub.

 


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