Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Frierende Blumen.

Über dem weitgedehnten Friedhof dämmerte der herbstliche Abend. Der Himmel war von langsam ziehendem Gewölk bedeckt, das der letzte Nachglanz der gesunkenen Sonne mit mattem Purpur umsäumte. Über die kahlen Felder, welche den Friedhof rings umgaben, strich ein frostiger Wind und trieb den Staub in schweren Wolken gegen die roten Mauern der Gräberstadt. Eine überflüssige Mühe: Staub tragen . . . in die Schatzkammer des Staubes.

Aus dem offenen Thor ergoß sich ein dunkler Strom von Menschen; sie alle redeten mit halben Stimmen; ihre Bewegungen waren gemessen; es lag wie ein Schleier über ihrem Wesen. Sogar die Wagenrufer, welche vor der langen Front der Equipagen und Mietwagen hin und her rannten, dämpften ihre Stimmen. Nur wenn ein Pferd zuweilen wieherte, oder wenn ein Gefährt davonstob mit klapperndem Hufschlag und rasselnden Rädern . . . das klang genau wie sonst, genau so wie an einem Tag, an welchem zwei selige Menschen Hochzeit halten.

Innerhalb des Thores sammelte sich – wie ein Fluß aus Bächen und Quellen – der ins Freie drängende Menschenstrom aus den strahlenförmig auseinanderlaufenden Gräberstraßen, aus hundert Wegen und Pfaden. Doch immer spärlicher wurde dieser Zufluß gegen das Thor; jetzt nur noch getrennte Gruppen; dann nur noch einzelne Menschen, welche, fröstelnd eingehüllt in ihre Mäntel, bald hastig dahinschritten, bald zögernd sich entfernten und immer wieder stehen blieben, um noch einmal und noch ein letztesmal zurück nach der Stelle zu blicken, die sie verlassen mußten. Hier vor einem frischen Grabe verhielt sich noch ein Mann mit kummervollen Zügen, dort vor einem verwitterten Hügel noch eine gebeugte Frau, tief in sich versunken . . . bis der Friedhofwächter sie erinnerte, daß die Glocke schon geläutet hätte. Dann schauten sie wohl mit verstörten Blicken auf, diese letzten, und wie erwachend aus schweren Träumen, streiften sie mit zitternder Hand über die Stirne, über die Augen . . . dann gingen auch sie. Am Thore wartete der Pförtner schon ungeduldig der Säumenden, und als sie nun hinausgetreten waren auf die Straße, gab er dem schweren Thorgitter einen derben Stoß. Es bewegte sich knarrend und fiel mit dumpfem Hall ins Schloß. Wie eine Stimme lag es in diesem zitternden Hall, und diese Stimme schien zu sagen: »Vor mir das wachende Leben und hinter mir der schlummernde Tod; zwischen beide bin ich gestellt als scheidende Wand; und ihr alle, in denen das Herz noch schlägt, danket es mir, daß ich euch gewaltsam trenne von der ewigen Stille zwischen diesen Mauern; gehet heim, ringet euch mutig los vom Schmerze, denket in jeder Stunde, wie kurz die Spanne der flüchtigen Zeit gemessen ist für euer Leben, auf daß ihr keinen Tag verlieret bis zu jenem letzten, an dem die zeichnende Hand auch euch berührt; dann will ich mich öffnen eurem letzten Gang!« . . .

Durch die starren Eisenstäbe des geschlossenen Thores strich der kalte Wind. Ein Mann und ein Weib standen noch draußen; der Mann richtete sich tief atmend auf und ging mit festen Schritten seines Weges; das Weib aber warf sich schluchzend gegen das Thor, umklammerte mit zitternden Händen die eisig kalten Stäbe des Gitters und starrte durch die Lücken mit brennenden Augen in das sinkende Dunkel über den Gräbern. Und als sie ging, da war es nicht ihr Wille, der sie führte, sondern der Zwang des Lebens, der sich in Erschöpfung äußerte. Das Leben liebt seine Kinder, und damit die Freude ihr Herz nicht sprenge, erfand es das befreiende Lachen, und damit der Schmerz ihre Seele nicht zerdrücke, erfand es die erlösenden Thränen und das Weinen, welches müde macht; und für die Müden kommt der Schlaf mit seinen tröstenden Träumen, und nach dem Schlaf ein stiller Morgen und ein neuer Tag..

Tiefer und tiefer war der Abend gesunken; fast lautlose Stille lag über dem Hain der Toten; nur einzelne Wächter gingen noch zwischen den Gräbern umher und löschten hier und dort ein niedergebranntes Licht; dann ließen sie auf einsame Bänke sich nieder, zogen die Mäntel fester um den Leib und nickten im beginnenden Halbschlaf, durch Gewohnheit abgestumpft gegen die Schauer dieser Umgebung.

Kein Schimmer mehr am Himmel; alle Sterne verhüllt von dichter Wolkendecke, so schwarz wie ein Grabtuch, das sich hinbreitet über ein erloschenes Leben, nur in der Ferne noch der rötliche Nachtglanz der Stadt, von welcher der Windhauch leisgedämpfte Geräusche einhertrug, wie Atemzüge des vom Tagwerk ermüdeten Lebens.

Schärfer und kälter strich der Wind. Zwischen den Gräbern und auf allen Wegen trieb er raschelnd die welken Blätter vor sich her, sang mit klagenden Tönen um die scharfen Kanten der Grabsteine und zog mit flüsterndem Rauschen durch die Zweige der Cypressen und Trauerweiden; er spielte mit den Kränzen, die auf den Gräbern lagen, bewegte knisternd ihre Bänder und blies seinen frostigen Hauch in die frischen, blühenden Blumenbüsche, welche die trauernde Erinnerung vor wenigen Stunden erst herbeigetragen hatte, um die kahlen Deckel der Grüfte und das welke Gras der Hügel schmückend zu bedecken. Blüten und Blätter schauerten vor dieser tötenden Kälte, und wie von Seufzern und lispelnden Stimmchen quoll es aus all' den frierenden Kelchen.

»Ach! welch eine bitterkalte Nacht,« flüsterte eine rote, halberschlossene Rosenknospe. »Es dringt mir bis ins Mark, es geht mir ans Leben, all' meine Säfte stocken und meine zarten Blättchen krümmen sich vor Schmerz.«

Und ihr zur Seite klagte eine Nelke: »Mir geht es auch nicht besser, Schwesterlein Rose. Sieh' nur, wie der böse Wind mich zaust! Mein Stengel ermattet schon und läßt mich sinken, immer tiefer! Wer uns hierhergebracht in diese kalte, häßliche Nacht, hat es übel mit uns vermeint!«

»Erfrieren müssen wir und sterben,« meinte eine weiße Hyazinthe, »statt zu blühen in warmer Sonne, statt der Menschen Sinne zu erfreuen mit süßem Duft und zarten Farben.«

Ein häßliches Kichern mischte sich in diese Worte; es kam aus den von Blüten strotzenden Zweigen eines Kamelienstrauches. »Was wimmert ihr? Nehmt euch an mir ein Beispiel! Fühl' ich die Kälte weniger als ihr? Zaust mich der Wind gelinder als euch? Seht nur, wie die Flocken hinwegstieben von meinen Blüten. Aber ich trage das Unvermeidliche mit Geduld. Ich lache, weil ich die Thränen hasse. Freilich . . . ihr alle seid wohl zum erstenmale hier? Gewöhnt es nur! Ich habe das schon fünfmal mitgemacht. Es ist gewiß eine böse Nacht, und ich werde sie noch wochenlang in allen Gliedern spüren. Aber morgen kommt ja mein Herr und holt mich wieder zurück ins Treibhaus. Ach, wie ich mich sehne nach der Wärme. Sie wird mich wieder heilen . . . und wenn dann auch die Schere über mich kommt, so weiß ich doch, es geht zu rauschenden Festen, und die Schönste der Schönen wird meine Blüten tragen im duftenden Haar und an stolzer Brust!«

»Ja, du,« stöhnte die Nelke, »du hast leicht zu reden, dir sitzt die Kraft im Holze. Wir aber, wir zarten Kinder des Sommers, wie sollen wir diese böse Nacht überstehen? Wenn der Morgen kommt, dann liegen wir geknickt und welk . . . und nimmer wird ein Frühling uns erwecken zu neuem Leben.«

»Nun, dann tröstet euch mit dem Gedanken,« spottete die Kamelie, »daß ihr gefallen seid als Opfer liebender Erinnerung!«

»Wie meinst du das?« fragte die Hyazinthe. »Ich verstehe dich nicht.«

»Weißt du, was Menschen sind?«

»Ich glaube wohl . . . große Blumen, die an keinem Stocke hängen, sondern so frei sich bewegen, wie unsere welken Blätter, wenn sie der Wind entführt.«

»Richtig! Und wenn der tötende Reif über eine solche Menschenblume fällt, dann bleibt sie nicht welkend liegen, wie unsere gefallenen Blüten. Von ihren Geschwistern wird sie tief in die Erde gesenkt, so tief, daß die Kälte des Winters nicht hinunterdringt zu ihr. Dort liegt sie dann im stillen, ungestörten Schlummer, bis der Menschenfrühling kommt und sie erweckt zu neuem, schönerem Blühen.«

»Was kümmert das uns?« jammerte die Nelke und schüttelte sich fröstelnd.

»Ja, siehst du,« spottete die erfahrene Kamelie, »das hast du nun von deinem Duft und deiner Schönheit! Hier unter diesem Hügel, auf dem wir frieren, liegt solch' eine schlafende Menschenblume. Ihre Geschwister kommen von Zeit zu Zeit . . . und weil wir in unserem Duft und unseren Farben das Schönste sind, was ihnen die Erbe bietet, so tragen sie uns hierher, damit wir in ihrem Namen niederflüstern sollen bis an das Ohr der stillen Schläferin: »Wir grüßen dich und denken dein, warte nur . . . bald kommen auch wir!«

»Und deshalb soll ich hier welken müssen und sterben!« grollte die Nelke mit fast schon erlöschendem Stimmchen. »Ich liebe das Leben und will es nicht verlieren um anderer willen! Das ist unrecht, das ist grausam, uns dem Tode zu weihen, weil andere starben. Hab' ich nicht recht, Schwester Rose?«

Die rote Rose weinte . . . aber sie schwieg.

»Recht so, Röslein,« sagte die Kamelie, die nun auch vor Kälte schon zu zittern begann, »trage dein Schicksal mit Ergebung. Komm, drücke dich recht nahe zu mir, meine Staude schützt dich vor dem Winde . . . wer weiß, vielleicht überdauerst du die böse Nacht. Sieh nur umher . . . andere haben es noch viel schlimmer; wir können uns doch trösten und schützen. Aber deine weiße Schwester dort drüben auf dem frischen Hügel . . . sie steht allein und hilflos, sie wird den Morgen nicht erleben.«

Die rote Rose wandte das zitternde Köpfchen, und durch das Dunkel schimmerte ihr eine weiße Blüte entgegen, die auf frisch gehäufter Erde stand, gezaust vom kalten Winde, schon halb beraubt ihres grünen Blätterkleides. Da fühlte die rote Rose tiefes Mitleid und rief hinüber: »Armes Schwesterlein, wie mußt du frieren!«

Und die weiße Rose erwiderte leise: »Ich friere nicht, denn ich fühle noch den warmen Hauch eines Mundes, der mich küßte.«

»Ach, du Arme, schutzlos stehst du im Winde, der die Erde dörrt zu deinen Füßen.«

»Ich dürste nicht, denn feucht von heißen Thränen ist die Erde, in die ich meine Wurzeln schlage, tiefer und immer tiefer, bis hinunter zu den sanften Händen, die mich treu gepflegt durch viele Jahre.«

»Ach, du Arme, wie der böse Wind dich schlägt mit seiner kalten Hand!«

»Ich spür' es nicht . . . und du, laß mich, störe mich nicht, ich habe zu thun!«

»Was zu thun?«

»Ich muß eine Mutter grüßen von ihrem Kind!« Und im wehenden Winde beugte die weiße Rose ihr Blütenhaupt bis auf die Erde und lispelte in die Schollen: »Mütterlein! Mütterlein! Dein Kindlein läßt dich grüßen. Es hat mich hierhergetragen an seinem pochenden Herzen, es hat mich auf dein Grab gepflanzt mit zitternden Händchen. Hörst du? Hörst du? Dein Kindlein läßt dich grüßen . . .«

Da wurden die Blumen stille rings umher . . . und aus der Erde quoll es empor, ein leiser Hauch nur, aber tief und lange, so, wie die Freude atmet nach drückendem Schmerz.

 


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