Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An Bord der »Möwe«.

Ein dünner Schnee rieselte unablässig aus dem grauen Himmel hernieder, und ein schneidender Wind fuhr um alle Häuserecken und durch alle Gassen. Aber das hinderte mich nicht, stundenlang mit schauenden Augen in den Straßen umherzubummeln. Sah ich doch die gewaltige Hafenstadt, die einstige Königin der Hansa, zum erstenmale. Alle historischen und literarischen Reminiszenzen, die sich so tausendfältig an die Mauern Hamburgs knüpfen, kamen mir zu Sinne, während ich die Alster-Arkaden durchwandelte und auf dem von Heinrich Heine so verfänglich gerühmten »Jungfernstieg« den Ausblick über das von weißem Eis verschlossene Alsterbassin genoß. An alles andere dachte ich eher, als an die geschäftigen Menschen, welche eilenden Ganges an mir vorüberschossen. Und so war ich doppelt überrascht, als sich jählings eine schwere Hand auf meine Schulter legte. Ich schaute auf und sah vor mir eine stämmige, von Kraft und Gesundheit strotzende Gestalt in etwas nachlässiger Kleidung, ein sonnverbranntes Gesicht mit lichtbraunem Vollbart und zwei klugen, klaren Augen, die mir mit fröhlichem Zwinkern entgegenblickten. Lachend nannte der Mann meinen Namen, und als er meine hilflose Verlegenheit gewahrte, rief er: »Aber Jung', kennst du mich denn nicht mehr? . . . Christl Baumann!«

Wo hatte ich nur meine Augen gehabt! Dieses Lachen, diesen Blick nicht wieder zu erkennen! Freilich, zwanzig Jahre lagen dazwischen, seit wir auf der Schulbank Seite an Seite gesessen. Wir waren unzertrennlich gewesen damals. Der Kitt unserer Freundschaft war allerdings nicht die Liebe zur Wissenschaft. Was uns zusammenhielt, war der gleiche, leidenschaftliche Hang zu Streichen und Abenteuern, die Lust zu freiem Streifen in Wald und Feld, der ungezügelte Eifer für alles, was mit Sport und Natur nur irgendwie Zusammenhang besaß. Jeder von uns beiden hatte seinen Helden, der mit der ganzen Inbrunst eines begeisterten Knabenherzens verehrt und vergöttert wurde. Mein Held war Coopers »Pfadfinder« mit dem niemals fehlenden Rifle, Christls Held eine phantastische Vermischung von Robinson, dem weltberühmten Einsiedler, und Nelson, dem Sieger von Trafalgar. Welch' merkwürdige Blüten diese Freundschaft trieb, das läßt sich denken. Eines Tages, als wir auf einer von Weidengestrüpp überwucherten Isar-Insel biwakierten, faßten wir den Plan, miteinander nach Hamburg durchzubrennen und als Schiffsjungen auf einem Amerikafahrer Dienste zu nehmen. Christl war in der glücklichen Lage, aus seiner Sparbüchse das Reisegeld für uns beide requirieren zu können. Der Plan wurde genau besprochen und sollte am nächsten schulfreien Nachmittage ausgeführt werden. Alles war bereit, alles schien zu glücken . . . im letzten Augenblick aber störte eine kleine Ursache die große Schicksalswendung meines Lebens. Um vier Uhr sollte der Zug nach Hamburg abgehen. Nach einer ausgiebigen Mahlzeit hatte ich mich, um mich für die aufregungsvolle Nachtfahrt zu stärken, für eine Stunde schlafen gelegt. Und als ich erwachte, knapp noch zu rechter Zeit, erfuhr ich zu meinem Entsetzen, daß meine gute Mutter den schulfreien Nachmittag benützt hatte, um mein einziges Paar Stiefel dem Schuster zur Reparatur zu schicken. Adieu, du schönes Meer, adieu, du freies Amerika mit deinem wildreichen Urwald!

Ohne jene geplatzte Stiefelnaht wär ich heute wohl Kapitän auf einem braven Schiffe oder . . . wer weiß . . . vielleicht ein stiller Inwohner des tiefsten Meeres. Und Christl Baumann? Als ich anderen Tages mit geflickten Sohlen und zerrissenem Herzen in die Schule kam, empfing mich die Nachricht, daß Christl Baumann verschwunden wäre. Er hatte die Schiffe hinter sich verbrannt, er konnte nicht mehr zurück, sei es aus Stolz, sei es aus Furcht vor Schlägen . . . und so war er allein in die blaue Weite gezogen, wohl mit einem Fluch auf den treulosen Kameraden.

Und jetzt, nach zwanzig Jahren, standen wir uns wieder gegenüber, Hand in Hand, mit lachendem Munde, er als wohlbestallter erster Offizier auf dem Schnelldampfer »Möwe«, ich als sorgenvoller Autor, der einer Premiere im Hamburger Stadttheater entgegenbangte. Straße um Straße durchwanderten wir Arm in Arm, und in sprudelndem Geplauder wurde die Vergangenheit rekapituliert.

»Jung', wir müssen den Abend zusammen verbringen! Ich habe wohl Dienst, aber komm' mit an Bord . . . Du sollst bei mir ein Leben haben wie Gott in Frankreich.«

Ich schlug ein, und Christl rief eine Droschke, die uns zur Gasanstalt, an das Ufer der Elbe brachte. Eine drängende, schreiende Menge füllte den Landeplatz. Es waren Auswanderer, welche für Amerika eingeschifft wurden . . . zumeist Süddeutsche und Österreicher. Hier der lange Flügelrock des Schwaben, dort der kurze Flaus oder der weiße Lodenmantel des Böhmen und Kroaten. Männer, Weiber und Kinder durcheinander, mit bleichen, abgespannten Zügen und fieberhaften Augen; dazwischen Karren und kleine Gefährte mit armseliger Habe, alten Truhen und neuen blinkenden Blechgeschirren . . . Alles zusammen ein erschütterndes Bild jener Tragödie, die sich »der Kampf ums Dasein« nennt.

Wir bestiegen einen kleinen Fährdampfer, der uns quer über die Elbe führen sollte. Von Wasser keine Spur zu sehen; der ganze Stromlauf war überdeckt von weißem, langsam treibendem Eise. Gackernde Krähen durchwühlten den Unrat, der auf den Schollen lag, und Hunderte von Möwen glitten mit gemächlichem Fluge durch die graue, von Dunst und Rauch erfüllte Luft. Die Maschine des Dampfers ächzte und schnaubte, in der wirbelnden Schraube polterten die Schollen, und unter dem auf- und niedertauchenden Bug des Schiffes knirschte und krachte das brechende Eis. Strom auf und ab zählte ich wohl an dreißig ähnlicher Fährboote und Schleppdampfer: einzelne lagen im aufgestauten Treibeis verfangen und wurden von größeren Dampfern wieder freigeschleppt, während die Dampfpfeifen von allen Seiten mit ihren tiefen, wimmernden Stimmen zu einem unheimlichen Konzerte zusammentönten. Vom Ufer her, auf welchem die gewaltigen Lagerhäuser in unabsehbarer Kolonne sich hinstreckten, quoll über den Strom der summende Lärm von tausend arbeitenden Menschen, und ein unablässiges Gerassel und Gepolter klang von den Schiffkolossen, welche den Dämmen entlang zu hunderten in Reih und Glied verankert lagen, mit qualmenden Schloten, mit ragenden Masten, mit ihren wirr durcheinander gesponnenen Raaen und Tauen.

Wir standen auf dem Vorderdeck des Dampfers. Christl an meiner Seite, und er zeigte mir alles Sehenswerte, erklärte mir alles Große und Kleine in diesem imposanten Bild eines rastlos treibenden Lebens. Dann plötzlich verstummte er, und als ich zu ihm aufblickte, sah ich das fröhliche Lachen seiner Züge in tiefe schmerzvolle Schwermut verwandelt. Wir fuhren gerade an der von hohen Dämmen eingeschlossenen Mündung eines Hafenkanals vorüber. Mir schien es, als riefe diese Stelle eine trübe Erinnerung in ihm wach. Seine Lippen zuckten, und seine Blicke hingen an dem Eis, als wollten sie die starren Schollen durchbohren und tief niedertauchen auf den Grund des Stromes. Er sprach auch weiter kein Wort mehr, so lange wir auf dem Dampfer waren. Als wir auf dem Krahnhöft . . . einem langgestreckten, breiten Damme, der seinen Namen von einem Riesenkrahn erhielt, welcher in seinem hochragenden, luftigen Eisenbau sich ansieht wie ein Junges vom Eifel-Turm . . . als wir auf dem Krahnhöft ans Land stiegen, atmete Christl tief auf und schüttelte den Kopf, wie um einen schweren, drückenden Gedanken von sich abzuwerfen. Er schlang seinen Arm in den meinen und führte mich quer über den Damm. Gerade dem Riesenkrahn gegenüber lag die »Möwe« vor Anker, in schmucker Sauberkeit.

Ein stolzes Lächeln flog über Christls Lippen, als er sagte: »Mein Schiff!«

»Ein gutes Schiff?«

»Hab' noch nie ein besseres unter den Füßen gehabt!«

Über eine schwankende Balkenbrücke traten wir an Bord. Christl rief den Steward, sandte ihn mit einem Auftrag davon, und eine Minute später knallte der Propf einer Champagnerflasche.

»Willkommen an Bord,« sagte Christl, und unsere Gläser klangen zusammen. »Und nun komm, ich will dir mein Schiff zeigen.«

Es war eine interessante Wanderung, die wir unternahmen, über das weite Deck und die Kommandobrücke, durch alle Kajüten und Kojen, durch die Unterräume des Schiffes und durch den Maschinenraum, in welchem ich merkwürdige Dinge zu hören bekam. Ein afrikanischer Sklave führt ein wahres Schlemmerleben im Vergleich zu den Maschinisten eines Schnelldampfers, welche während der Fahrt zwei bis drei Monat hindurch Tag für Tag in einer Temperatur von 110 bis 115 Grad Fahrenheit auszuhalten und zu arbeiten haben. Und für diese Höllenqual bezieht solch' ein armer Teufel ein Monatgehalt von 75 bis 100 Mark.

Als wir aus der Tiefe wieder an Deck kamen, war Sonnenuntergang, und auf Christls Kommando wurden die drei Flaggen gleichzeitig eingeholt. Dann ging's in die wohldurchwärmte Offizierskajüte, auf deren Tisch der heiße Thee schon in den Schalen dampfte. Nach dem Imbiß, der dem feinsten Hotel Ehre gemacht hätte, hielt ich mich an eine Flasche Pilsener, Christl jedoch befahl für sich »einen Grog, aber etwas nördlich« – das heißt zu deutsch: viel Rum mit wenig Wasser.

Dann ging es an ein Plaudern und Schwatzen. Christl verstand sich prächtig aufs Erzählen, und mit staunendem Lauschen folgte ich der farbigen Schilderung seiner Weltfahrten und seines bewegten Seelebens. Wenn ihm das Glas leer, und die Zunge trocken wurde, dann hieß es wieder: »Steward, einen Grog, aber etwas nördlicher!« Und wieder ging es ans Erzählen. Alle Weltteile hatte er besucht, mit seinem Schiff durch tobende Stürme sich durchgekämpft, in Hongkong Opium geraucht, in den Kordilleren das Guanako gejagt und in den Rockey Mountains den Grislybär erlegt. Auf Madagaskar hatten ihn eines Abends, als er von Land zu Bord gehen wollte, drei Malayen überfallen . . . aber sein guter Revolver hatte ihm sauberen Weg gemacht.

»War eine verwünschte Stunde das! . . . Steward! Einen Grog, aber noch etwas nördlicher!«

Der Steward schmunzelte, als er das Glas brachte.

»Melde, am Nordpol angelangt!« . . . zu deutsch: Das ist reiner Rum, ohne einen Tropfen Wasser.

Christl lachte, und wir stießen an. Als ich ihn fragte, ob er die Flucht aus der Heimat niemals bereut hätte, ob ihm sein Beruf und sein jetziges Leben denn wirklich von Herzen lieb wäre, da nickte er mir fröhlich zu und faßte mit festem Druck meine Hand. »Weißt du, min Jung' . . . meine Seele steckt nicht mehr in mir, sie steckt in diesem Schiff« . . . nun schwankte seine Stimme . . . »und liegt tief drunten im Wasser.«

»Und hast du in diesen zwanzig Jahren niemals daran gedacht, dir einen eigenen Herd zu gründen?«

Christl sah mich mit großen, tiefernsten Augen an, seine Lippen wurden schmal . . . dann schüttelte er den Kopf, zog die Uhr und sagte mit heiserer Stimme: »Ich muß dich fortschicken, min Jung' . . . Glock' zehn geht das letzte Fährboot über die Elbe.«

Wir leerten die Gläser und traten auf Deck. Der Himmel hatte sich geklärt, und gleich einem duftigen Silberschleier hing die kalte Mondnacht über dem Hafen. Regungslos und stille ragte rings umher der Wald der Masten. Auf allen Raaen lag ein dünner Schnee, der im Mondschein mit zartem Schimmer glänzte. Gedämpft klang aus der fernen Stadt ein verworrenes Geräusch, von einem Nachbarschiffe hörte ich die trägen Schritte der Deckwache, von irgendwo eine halblaut singende Stimme, und leise knirschte das Eis, unter welchem die Ebbe das Wasser sinken machte.

Da legte Christl seinen Arm um meine Schulter. »Ich will es dir sagen . . . weißt du . . . was du da vorhin gefragt hast . . . ja, min Jung' . . . ich hab' ein Mädel geliebt, ein Hamburg'sch Kind. Jule hat sie geheißen, schmuck wie mein Schiff und ein Herz von Gold . . . ich hab' sie lieb gehabt, wie . . . wie das Meer. Vor drei Jahren war es . . . auch im Winter . . . ich lag im Hafen und wir wollten Hochzeit machen. Am Vorabend hatt' ich Dienst an Bord, und da kam sie mit ihrer Mutter, mich besuchen. Wie jetzt, um die gleiche Stunde gingen sie . . . und ich hab' sie niemals wieder gesehen. Ein Schleppdampfer hat das Fährboot überrannt . . . das Eis ging so wie heute . . . und da war kein Retten mehr.«

Er hielt das Gesicht abgewandt, nach der Elbe zu, ich konnte seine Augen nicht sehen, aber ich hörte die Thränen aus seiner Stimme.

Langsam und schweigend gingen wir über Deck der Brücke zu. Als sich zum Abschied unsere Hände faßten, murmelte er, wie verloren, vor sich hin: »Sag', min Jung' . . . glaubst du . . . an ein Wiedersehen?«

Ich verstand sein Wort – es galt nicht mir.

»Ja, Christl!«

Und noch fester schlossen sich unsere Hände ineinander.

Dann ging ich. – – – –

Jahre sind verflossen seit jener Nacht. Ich habe nichts mehr gehört von Christl Baumann. Aber ich glaube, er fährt wohl noch mit der »Möwe« zwischen Hamburg und Californien.

Glückliche Fahrt, min Jung'!

 


 << zurück weiter >>