Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Es klirrt . . .

Weit draußen, wo die Mauern der Vorstadt zu Ende gehen, liegt inmitten eines mächtigen Gartens ein kleines, freundliches Haus. Das Haus eines Gärtners. Auf dem ganzen weiten Raum des Gartens ist die rohe Erde in längliche Vierecke eingeteilt, welche der Bepflanzung warten, und auf deren schmalen Wegen noch kleine, trübe Pfützen an die vergangenen Regentage erinnern. Links und rechts vom Hause liegen mehrere Reihen langgestreckter Glashäuser. Ein alter, grauköpfiger Mann geht in geschäftiger Eile zwischen ihnen hin und her, und so oft er eine der Thüren öffnet, quillt aus dem verschlossenen Raum ein intensiver Geruch von Rosen und Veilchen hervor ins Freie. Kommt der Alte nah am Hause vorüber, so tritt er wohl auch an eines der niederen Fenster, drückt die Stirne gegen das Glas und lächelt durch die Scheibe.

Es ist ein gar behagliches Stübchen, welches da drinnen hinter den Fenstern liegt, und das der zarte, süße Duft von Sämereien und getrockneten Pflanzen erfüllt. Der große, grüne Kachelofen ist schon erkaltet, aber in dem Stübchen liegt noch die sanfte Wärme, die er ausgestrahlt. Hinter dem Ofen steht ein altes Ledersofa und darüber an der Wand hängt ein Zapfenbrett mit allerlei Kleidungsstücken. Neben dem Ofen führt eine Thür in die anstoßende Kammer, aus welcher die frisch gescheuerten Dielen und das mit einer gehäkelten Decke überbreitete Bett schneeweiß hervorblinkten. Hier, neben der Thür, steht ein hoher Schrank in der Stubenecke, in der anderen Ecke schräg gegenüber ein altmodischer Schubladkasten, darauf ein wächsernes Jesukind unter blitzendem Glassturz und rings darum eine ganze Sammlung von Schachteln und Schächtelchen.

Entlang den beiden Fensterwänden zieht sich eine hölzerne, in die Mauer eingelassene Bank. Die Ecke zwischen den Fenstern nimmt ein massiver Eichentisch ein, vor welchem in einem alten Lehnstuhl ein junges, blasses Mädchen sitzt. Sie trägt ein leichtes, dunkles Hauskleid, und ihr Schoß ist von einer warmen Decke umhüllt. Sie mag sich vor wenigen Tagen erst vom Krankenbett erhoben haben. Die Wangen des schönen, sanften Gesichtes sind noch so schmal und in den großen, dunklen, träumerischen Augen liegt noch der müde Nachglanz des vergangenen Fiebers. Kaum scheint der zarte Hals die Last der schweren Flechten tragen zu können. Die schlanken Hände sind von durchsichtigem Weiß, und leise zitterten die Finger bei der mühelosen Beschäftigung, mit der sich das Mädchen die einsame Zeit verkürzt.

Sie hält im Schoß eine hölzerne Schale, welche mit dünnen, langen Schoten angefüllt ist, aus denen das Mädchen durch einen leichten Druck der Finger die kleinen Samenkerne hervorschält. Doch scheinen ihre Gedanken nicht sonderlich achtsam an dieser Beschäftigung zu haften. Immer wieder läßt sie die Hände ruhen, immer wieder hebt sie die Augen und blickt in zielloser Sehnsucht durch die Fenster empor zum Himmel, über welchen mit flinker Eile die weißen, hochliegenden Wolken ziehen, zuweilen sich klüftend, so daß ein lachendes Stücklein Blau herniederblickt aus ihrem Rahmen oder ein breiter Sonnenstrahl sich gleich einem feurigen Bande vom Himmel zur Erde schlingt.

Vor den Fenstern schlägt eine Amsel in den Zweigen der knospenden Linde, und immerwährend tönt ein sachtes Rauschen, das übers Haus und rings um die Mauern geht wie eine schaukelnde Woge. Dem süßen Amselschlag und diesem Rauschen lauscht das Mädchen; die zitternden Hände streicht sie über die blassen Wangen und atmet tief auf . . . ach, daß es der Frühling wäre, den sie nahen und rauschen hört! Es wäre an der Zeit, daß er käme, weiß Gott, an der Zeit . . . denn das war ein trauriger, leidvoller Winter!

Da klirrt das Fenster.

Das Mädchen blickt auf. Wer klopfte nur? Der Vater kann es nicht gewesen sein – – – sie sieht ihn ja weit draußen im Garten über einem Beet beschäftigt. Und außer ihm ist kein Mensch in der Nähe! Wer klopfte nur? Es klang aber auch so sanft und leise . . . gar nicht wie von einer menschlichen Hand . . . just als wäre ein Schmetterling wider die Scheibe geflogen. Aber die Schmetterlinge muß ja der Frühling erst bringen, der noch immer säumt . . . noch immer . . . immer.

Was klopfte nur? Die Lippen des Mädchens beginnen zu beben, und mit scheuem Blick richten sich ihre Augen nach aufwärts. War es ein Gruß von drüben . . . ein Gruß von Mutter und Bruder? Ihre Augen werden feucht, und in wehmutsvolle Gedanken verloren, mustert sie die leeren Plätze rings um den Tisch. Vor einem halben Jahr, da saßen sie noch alle beisammen! Und jetzt! Der Bruder und die Mutter . . . das war in der gleichen Woche gekommen! Und das hatte der arme Vater allein tragen müssen. Sie konnte ihn nicht trösten, sie lag ja selbst im bösen, ansteckenden Fieber. Und wenn die gute Mutter schon gehen mußte . . . hätte der liebe Herrgott dem Vater doch wenigstens den Bruder erhalten und an seiner Statt die Schwester genommen. Der Bruder wäre dem Vater ein tüchtiger Helfer bei der schweren Arbeit und ein Kamerad im Geschäft gewesen. Aber sie! Was konnte sie dem Vater nützen und helfen! Wozu denn lebt sie noch? Wozu nur? . . .

Da klirrt das Fenster.

Beinah' erschrocken blickt das Mädchen auf, starrt die blinkenden Scheiben an und schüttelt den Kopf. Wieder versinkt sie in ihre Gedanken, bis sie mit einemmal lauschend den Kopf erhebt. Drüben bei den Treibhäusern hört sie die Stimme des Vaters . . . und eine andere, eine junge, weichklingende Männerstimme dazu. Aufmerksamer lauscht sie . . . ein schwaches Rot überhuscht ihre Wangen, und ein leises, verlorenes Lächeln spielt um ihre Lippen. Halb freudig lauscht sie, und halb wehmutsvoll . . . wie einem Klang aus vergangener Zeit.

Schritte kommen näher, und zwei wandelnde Schatten fallen über die Fenster.

»Wahrhaftig, ich habe so herrliche Rosen in meinem Leben noch nicht gesehen,« sagt jene fremde Stimme, »aber ich bitte . . . hätten Sie nicht ein kleines Körbchen, oder sonst etwas Hübsches, um die Blumen gleich für den Tisch zu ordnen?«

Natürlich – so hört sie den Vater sagen – aber das Zeug läge noch unter dem Dach droben, in irgend einem Winkel; er wolle schnell hinaufsteigen . . . der junge Herr möchte nur einstweilen in die Stube treten.

Erschrocken stößt sie die hölzerne Schale auf den Tisch und greift nach den Stuhllehnen, als möchte sie sich erheben . . . Aber da öffnet sich schon die Thür, und über der Schwelle erscheint ein junger Mann, mit einem Strauß von selten schönen Rosen in der Hand, eine schlanke, gesunde Gestalt mit einem hübschen Kopf, mit einem flaumig sprossenden Bart um die Wangen und mit einem Paar guter, treuherziger Augen unter der weißen Stirn.

Sie sehen sich nicht zum erstenmal, diese beiden. Freilich, das ist lange her . . . seit dem Herbste. Da liegt dieser böse, traurige Winter dazwischen, in welchem das eine vom andern nichts wußte und hörte. Viel mit einander gesprochen haben sie wohl auch damals nicht . . . nur so ab und zu ein schüchternes Wörtchen. Aber mehr als ihre Lippen, so mag es scheinen, wußten sich ihre Augen zu sagen. Und jetzt . . . dieses plötzliche Wiedersehen!

Sie hält die Blicke niedergeschlagen, und gleich zwei dunklen Sicheln liegen die langen Wimpern auf ihren blassen Wangen. Auch er ist überrascht, verlegen. Zögernd drückt er hinter sich die Thür zu und stammelt: »Sie, Fräulein Gertrud! . . . Sie!«

Sie rührt sich nicht und bringt keine Silbe über die Lippen.

»Sie, Fräulein Gertrud!« wiederholt er stammelnd. »Und . . . und . . .« Er deutet in wortloser Frage nach der Thür.

»Ja . . . mein Vater!« nickt sie leise.

»Welch ein glücklicher Zufall!« sprudelt es nun aus ihm heraus. »Ich habe den freundlichen Tag benützt, einen Spaziergang vor die Stadt gemacht . . . und als ich im Vorübergehen die großen Treibhäuser sah, dachte ich an den Geburtstag meiner Mutter und glaubte ein paar schöne Rosen . . .«

Betroffen verstummt er. Während er gesprochen, ist er näher getreten, und nun sieht er die Blässe ihrer schmalen Wangen, steht ihre weißen, durchsichtigen Hände.

»Fräulein Gertrud! . . . Sie waren krank!«

»Ja, Herr Berger, krank . . . schwer und lange!«

»Deshalb! Deshalb also . . .« murmelte er. Dann tritt er zu ihrem Stuhl und reicht ihr die Hand. Beider Augen begegnen sich und ihre Blicke halten sich gefangen.

Da klirrt das Fenster . . . und ein rauschender Windstoß umfährt das kleine Haus.

Gleichzeitig blicken die beiden auf und hängen mit den Augen an der Scheibe, die noch leise zittert.

»Es war der Wind,« flüstert sie und lächelt zu ihm auf.

»Nein, Fräulein Gertrud, es war der Frühling. Er hat an Ihr Fenster geklopft . . . man spürt ihn schon recht in der Luft . . . über acht Tag' ist alles grün . . . alles . . . alles!«

»Alles grün!« wiederholt sie ganz leise, und dabei überglüht eine sanfte Röte ihre Wangen.

Draußen auf der Treppe hört man niederpolternde Schritte.

Unmutig hebt der junge Mann den Kopf; hastig drückt er die Hand des Mädchens und stammelt: »Fräulein Gertrud! Werden Sie böse sein, wenn ich . . . wenn ich wiederkomme . . . um Rosen zu kaufen?«

Sie schlägt die Augen nieder und schüttelt ganz sachte den Kopf.

Die schönste Rose sucht er aus seinem Strauß hervor und legt sie auf ihren Schoß.

Jetzt öffnet der Vater die Thür . . . da klirrt das Fenster . . . klirrend springt es auf, und ein lauer Luftzug flutet in das Zimmer – – –

 


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