Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Der Letzte.

Das war vor wenigen Jahren noch ein stattlicher Kreis gewesen, lauter lustige Junggesellen – ja, lustig, bis auf jenen einen, der das Lachen verlernt zu haben schien, um dessen Mundwinkel kaum ein müdes Zucken ging, wenn die anderen hell aufschrien über irgend einen tollen Scherz. Kaum wußten sie noch, wie er denn eigentlich in ihren Kreis gekommen war, in welchen er so wenig paßte – das heißt man konnte auch nicht gerade sagen, daß er störte. Wenn es heiter zuging, war allerdings wenig von ihm zu haben; da lehnte er so still, so in sich selbst zurückgezogen in einer Ecke, daß keiner durch seine stille Gegenwart sich belästigt fühlen konnte. Gut aber führte sich ein ernstes Gespräch mit ihm; er war überall zu Hause, und nicht leicht stellte einer seiner Freunde eine Frage an ihn, auf die er die Antwort schuldig blieb. Und dann noch eines hatte er, was ihn den anderen nach und nach fast unentbehrlich machte: der Verkehr mit ihm entwickelte ihr Selbstbewußtsein, seine stille Schwermut war eine hebende Folie für ihre sorglose Heiterkeit, und ihm gegenüber erschien sich jeder als der besondere Günstling eines freundlichen Schicksals – schien doch der trübe verlangende Blick seiner dunklen Augen einem jeden zu sagen: »Du Glücklicher, wie beneide ich dich!«

Weshalb er so wäre, darnach fragten sie nicht. So hatten sie ihn kennen gelernt, so war er zu ihnen gekommen, und da stieg ihnen kaum einmal der Gedanke auf, ob es etwa jemals eine Zeit gegeben hätte, in welcher er anders gewesen. Auch trafen sie sich zumeist nur des Abends, und da hatten sie es allzu nötig, nach des Tages Arbeit die paar Stunden heiter zu verjagen, als daß sie Lust und Muße gehabt hätten, sich gegenseitig mit Charakterstudien zu belästigen. Ja, sie kannten sich, aber wohl nur bis unter die erste Schichte der Epidermis. Und das genügte für ihre Zwecke und für die Zeit, die sie bei einander aushielten. Alljährlich fiel der eine und andere ab; der übersiedelte, jener gründete sich einen eigenen Herd, einer starb wohl auch – es kamen zwar neue Teilnehmer wieder dazu, aber der Kreis schmolz immer mehr zusammen, so daß am Ende nur zwei noch übrig blieben, und merkwürdigerweise gerade die beiden Gegensätze: der Ausgelassenste von allen – und jener andere.

Diese beiden hatten ein schweres Plaudern miteinander, und so kam es, daß jener Stille gar manchen Abend einsam hinter dem verödeten Tische saß, während sein letzter Genosse sich irgendwo in Gesellschaft umhertrieb. Und dann eines Abends kam er, eine Rose im Knopfloch und strahlenden Gesichtes, streckte seinem ernsten Freund die Hände hin und sagte: »Nun ist es entschieden. Du bist der Letzte. Ich habe mich heute verlobt.«

»Ich gratuliere dir von ganzem Herzen! Aber – ›der Letzte?‹ Nein. Der Letzte bist du gewesen – ich habe niemals gezählt.«

Das wollte der andere nicht gelten lassen; lachend ging er über dieses ernste Wort hinweg, und dann verplauderten sie, so gut sie es bei ihrer verschiedenen Natur und Stimmung eben vermochten, den kurzen Abend, bis sie gemeinsam den Heimweg antraten.

Draußen auf der Straße empfing sie eine laue mondhelle Sommernacht. Eine kurze Strecke hatten sie den gleichen Weg. Wo ihre Gassen auseinander gingen, schüttelten sie sich die Hände, und noch einmal bekam der frischgebackene Bräutigam die Glückwünsche seines Freundes zu hören – und diese Wünsche klangen so warm und herzlich, so offen aus einer tiefbewegten Seele, daß jener, dem sie galten, unwillkürlich die Hände des anderen fester drückte.

»Ich danke dir, lieber Freund, und trotz deiner achtunddreißig Jahre hoff' ich, daß auch ich dir über Tag und Wochen so ehrlich und aufrichtig gratulieren darf. Warte nur, dir wird es noch gehen wie mir – die Liebe wird über dich kommen, ohne daß du es ahnst.«

»Die Liebe? Ich brauche auf die Liebe nicht mehr zu warten. Ich liebe schon längst – aber ich liebe, was ich verlor, und was ich nicht liebte, als ich es besaß. Komm, das ist gerade eine Nacht, wie geschaffen zum Erzählen. Auch damals war es eine solche Nacht, so lau, so mondhell und sternenklar – und wenn ich das fahle, vom Mondlicht übergossene Pflaster sehe, mein' ich auch das dunkle Blut zu sehen . . . ach . . .«

Erschauernd verstummte er. Seite an Seite gingen sie eine Weile schweigend dahin, und leise widerhallten ihre langsamen Schritte an den hohen Mauern der stillen, nächtigen Gasse.

»Was diesen trüben, unlösbaren Flor über mein ganzes Leben geworfen hat, es war ein Abenteuer, welches toll und übermütig begann, um mit Entsetzen zu enden. Zwölf Jahre sind es her, ich hatte damals mein Staatsexamen mit glänzender Note gemacht, und mein Vater steckte mir in der Freude darüber ein paar schwere Banknoten in die Tasche, damit ich mich auf einer fröhlichen Reise von der aufreibendm Arbeit der letzten Monate erholen könnte. Ich ging nach dem Süden, wollte geraden Weges nach Rom, aber in Florenz überkam mich die Lust, vorerst Venedig zu besuchen. Ich saß allein in einem Coupé erster Klasse, als ich kurz vor Abgang des Zuges zwei Reisegefährten erhielt, einen ältlichen Herrn, der mit seinem verlebten Gesicht, seinen gläsernen Augen und seinem schwarzgefärbten Bart einen widerlichen Eindruck auf mich machte, und ein junges Mädchen, welches durch seine eigenartige Schönheit sofort meine Blicke fesselte. Ich mußte die Beiden trotz ihres ungleichen Äußeren für Vater und Tochter halten, und zwar ihn für einen Vater, der sein Kind mit einer aus Affenliebe fließenden Zärtlichkeit umgab, sie für eine Tochter, welche sich diese Zärtlichkeiten bald mit der Gleichgültigkeit eines verwöhnten Kindes gefallen ließ, bald wieder mit eigensinnigem Trotze sich dagegen auflehnte. Sie sprachen italienisch, sprachen ungemein hastig, und bei meiner mangelhaften Kenntnis dieser Sprache vermochte ich nur ab und zu ein nichtssagendes Wort aufzufangen.

Mehrere Stunden vergingen; ich saß, einen Halbschlummer heuchelnd, in meine Ecke eingedrückt und studierte dabei unter blinzelnden Lidern hervor den zierlichen, fast schlangenhaft geschmeidigen Wuchs meiner jungen Reisegefährtin und ihr südlich schönes, von schweren blauschwarzen Flechten umrahmtes Gesicht mit den flinken, glutvollen Augen und dem kirschroten Munde, über dessen volle Lippen unablässig jenes leise Zittern ging, welches immer der Verräter eines ungestümen, leidenschaftlichen Temperamentes ist. Sie schien es zu merken, daß ich nicht schlief, und daß ich sie insgeheim beobachtete, denn so oft sie mich mit ihren schwarzen Augen streifte, zuckte ein halb spöttisches, halb ärgerliches Lächeln um ihren Mund. Als sie einmal vergebens das Fenster zu öffnen suchte, spielte ich ein Erwachen und war ihr behilflich. Sie errötete leicht und sagte etwas ungemein höflich klingendes, worauf ich französisch erwiderte, daß ich ihre Sprache leider nicht verstünde. In einem nicht sehr korrekten, aber fließenden Französisch antwortete sie, und da waren wir auch schon mitten im lebhaftesten Geplauder.

Dieses vorerst ganz harmlos tändelnde Gespräch schien ihr ein wahres Ergötzen zu bereiten. Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen glänzten noch heller, alles an ihr wurde Leben und Bewegung, und so oft der Alte, der kein Französisch zu verstehen schien, mit seiner näselnden Stimme das Gespräch zu unterbrechen suchte, brachte ihn Ghita – so hieß sie, wie ich später erfuhr – durch ein paar unwillig klingende Worte ihrer Muttersprache zum Schweigen.

Daß sie ihren Vater so geringschätzend behandelte, war das einzige, was mir an ihr mißfiel. Daran aber vergaß ich, wenn ich in ihre offen leuchtenden Augen schaute; es schien kein Falsch an ihr zu sein – Alles zwar ungestüme, aber echte Natürlichkeit. Sie lachte wie ein Kind zu jedem lustigen Wort, und nach jeder galanten Wendung blickte sie mich halb erzürnt, halb dankbar an. Während ich äußerlich, des Vaters wegen, die scheinheiligste Ruhe zu bewahren suchte, wurde ich Ghita gegenüber immer wärmer – und ich mag ihr wohl mehr gesagt haben, als ich nach meinem wirklichen Empfinden verantworten konnte. Es muß sie auch eines meiner Worte verletzt haben, denn ganz plötzlich verlor sie ihre Laune, zeigte ein finsteres Gesicht und vergrub sich schweigend in den Polster. Aber gerade dieser Umschwung der Stimmung reizte mich, und als wir Venedig erreichten, nahm ich mit ihnen im gleichen Hotel Quartier. Wir wurden, wenige Thüren von einander entfernt, im zweiten Stock einquartiert; während wir gleichzeitig die Treppe hinaufgeleitet wurden, nahm ich eine günstige Gelegenheit wahr, erhaschte Ghita's Hand und drückte einen Kuß auf ihre zitternden Finger. Sie erblaßte und schloß wie in einer Anwandlung von Ohnmacht die Augen . . .«

Schwer atmend verstummte der Erzähler, um nach kurzem Schweigen mit erregter Stimme weiter zu sprechen.

»Abenteuerliche Träume füllten mir die Stunden der folgenden Nacht; mir ahnte, daß die Sache mit jenem kecken Handkuß noch nicht zu Ende wäre. Ach ja – hätt' ich gewußt, wie es sich entwickeln würde, dieses Abenteuer, mich hätte der Morgen nicht mehr in Venedig gesehen. Frühzeitig stand ich auf und machte eine Rundfahrt durch die Kanäle. Als ich gegen die neunte Morgenstunde ins Hotel zurückkehrte, begegnete mir Ghitas Vater; er sah meinen Gruß nicht und schien, seinem Gesicht nach zu schließen, in der abscheulichsten Laune zu sein. Droben in meinem Zimmer sann ich noch darüber nach, wie ich mich Ghita nähern könnte, da wird die Thür aufgerissen, und sie selbst stand vor mir, reisefertig, mit blassem, verstörtem Gesicht und unheimlich funkelnden Augen. Ich kann dir den Blick nicht beschreiben, mit welchem sie auf mich zutrat und ihre Hand auf meinen Arm legte. »Sie haben mir gestern versichert, daß ich Ihnen gefiele?« sagte sie mit bebender Stimme. »Nun gut, und mir ist niemand auf der Welt so lieb wie Sie – und wenn Sie Mut haben – – ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wollen – aber wir müssen noch in dieser Stunde fort, in dieser Minute noch.« Was soll ich dir sagen? Mir war, als stürze die Decke über mich ein – ein Paar stammelnde Worte sprachen wir noch hin und her, dann überredete mich der Reiz ihrer Schönheit und der tolle Übermut meiner Jugend – – und eine Stunde später waren wir auf einem Dampfer in Sicherheit, der nach Triest in See stach. Der Dampfer war überfüllt, wir blieben kaum eine Sekunde ungestört, und so fanden wir während der Überfahrt keine Gelegenheit, uns auszusprechen. In Triest angelangt, bezogen wir unter falschem Namen, als Bruder und Schwester, in einem gegen den Hafen gelegenen Hotel zwei ineinandergehende Zimmer – und von dem Augenblick an, wo wir uns selbst überlassen waren, schien es, als hätten wir uns, ohne es selbst zu wissen, verabredet, weder die Vergangenheit, noch die Zukunft mit einem Worte zu berühren. Ghita schien sich an ihrer Freiheit völlig zu berauschen, sie war so allerliebst vergnügt, so schattenlos heiter – und ich – – du lieber Gott, ich war eben jung. Ohne Frage, blinden Auges und ohne einen Gedanken, wohin das führen würde, genoß ich das betäubende Glück, das der Zufall mir in die Arme gelegt hatte. Aber die Ernüchterung blieb nicht aus. Sie begann, als Ghitas mit jedem Tage wachsende Leidenschaft mich zu drücken anfing – und war vollendet, als ich meine letzte Banknote wechselte.

Die Sache mußte ein Ende nehmen, das sah ich ein; aber ich hatte nicht den Mut, offen und ehrlich mit Ghita zu reden, denn ich hätte ihr zugestehen müssen, wie gewissenlos ich ihren vertrauensseligen Leichtsinn mißbraucht hatte. Ich sagte ihr also, daß ich nach Hause zu reisen gedächte, um in der Heimat alles für unsere Verbindung zu ebnen; sie aber müsse, bis das geschehen wäre, zu ihrem Vater zurückkehren; weinend warf sie sich an meinen Hals und flehte mich an, ich möchte sie nicht verlassen, möchte sie nicht von mir stoßen – und ehe sie zurückginge zu den Ihren, spränge sie lieber ins Meer – und dann gestand sie mir, daß jener Alte, dem sie entflohen, nicht ihr Vater, sondern ihr Gatte gewesen wäre. Ihr bejahrter Vater hatte vor kurzem eine zweite Frau genommen, und die Stiefmutter hatte, um das Haus zu räumen, das junge Mädchen gezwungen, jenem Alten die Hand zu reichen. Und eben jener Tag, an welchem der unselige Zufall uns zusammenführte, war ihr Hochzeitstag.

Was ich da hörte, versetzte mich in tiefe Bestürzung, aber auch in maßlosen Ärger, da ich jetzt keinen glatten Ausweg mehr aus meiner Lage sah. Und während ich so schalt, muß die Liebe den Augen des Mädchens Sehergabe verliehen haben, mit entgeisterten Blicken starrte Ghita mich an – ich fühlte, daß sie mit diesem Blick in meinem Herzen las – und da erschien in ihren Zügen der Ausdruck wilder Verzweiflung, laut schrie sie auf und stürzte bewußtlos vor mir zu Boden. Als sie wieder zur Besinnung kam, suchte ich sie mit hundert Worten zu beschwichtigen und auf ruhigere Gedanken zu bringen. Sie aber starrte nur immer mit verlorenen Blicken vor sich hin, und erst gegen Abend gelang es mir, sie ein wenig aufzuheitern. Ich führte sie ins Theater, und da lachte sie oft und laut, und während des Soupers, bei welchem wir ihren Lieblingschampagner tranken, war sie fast so ausgelassen, wie in vergangenen Tagen. Schließlich küßte sie mich und schob mich lachend in mein Zimmer. Ich traute diesem Lachen und konnte schlafen. Bevor ich einschlief, kamen mir doch bessere Gedanken – weshalb sollte ich sie nicht zu meinem rechtlichen Weibe machen können? Sie war so schön und herzensgut, und sie liebte mich aus tiefster Seele. Mit diesem Entschlusse wollt' ich ihr am anderen Morgen ihr Glück und ihre Ruhe wiedergeben – so schlief ich ein – mitten in der Nacht aber erwachte ich, und es war mir, als hätte mich irgend ein Geräusch geweckt. Eine sonderbare Angst befiel mich, ich machte Licht, eilte in Ghita's Zimmer – und fand es leer. Auf dem Tische lag ein Brief, in welchem sie mir von ihrer grenzenlosen Liebe schrieb, und daß sie mir verziehen hätte – – ich stürzte zur Thür, die ich von innen verschlossen fand, und nun erst fiel mir auf, daß eines der Fenster weit offen stand. Ich taumelte darauf zu – – es war eine mondhelle Nacht, so hell wie heute – und deutlich sah ich auf dem grell erleuchteten Pflaster der nachtstillen Straße ihren regungslosen Körper liegen – und sah die dunklen Bäche, die von ihm ausgingen nach allen Seiten . . .«

In einem schweren Seufzer erlosch die Stimme des Erzählers. Sein Freund erwiderte kein Wort. Schweigend gingen sie mit einander noch bis zur nächsten Ecke, dann reichten sie sich die Hände und schieden.

Der eine verschwand im Thor eines naheliegenden Hauses; der andere wanderte gegen die Stadt zurück; eine Weile hielt er sich auf dem mondhellen Trottoir der Straße, um sich dann plötzlich mit hastigen Schritten gegen die finstere Häuserseite zu wenden – es war, als möchte er nicht allein sein mit seinem eigenen Schatten, der so dunkel auf dem hellen Pflaster lag.

 


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