Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

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Der Herrgottspfänder.

Er war gezeichnet an der Stirne. Freilich, man konnte für gewöhnlich dieses Mal nicht sehen, denn er verstand es gar geschickt, seine dichten, schwarzen Haare wie ein undurchsichtiges Netz über die verräterische, unvergängliche Narbe zu streichen. Aber wenn ihm ein unerwarteter Windstoß das Haar aus der Stirne fegte, und wenn er just auf den Schleichwegen, die er zu gehen liebte, den Weg eines braven, ehrlichen Mannes kreuzte, dann konnte er den forschenden Blick solch eines Mannes nicht ertragen, er mußte die Augen, niederschlagen, und das häßliche Mal auf seiner Stirne brannte in rotem Feuer. Er war gezeichnet . . .

Einsam hauste er, abgesondert und gemieden von den anderen, in einem entlegenen Hause. Nur selten wagte er einen Gang ins Dorf. Denn die Leute wichen ihm aus auf Schritt und Tritt, auch jene, die einst auf ihn geschworen und zu ihm gehalten hatten wie Stein und Eisen. Die Kinder, die vor den Häusern umhertollten, unterbrachen ihre fröhlichen Spiele, wenn er auf der Straße vorüberschritt, und mit Fingern zeigten sie hinter ihm her und schrien: »Herrgottspfänder! Herrgottspfänder!« Auch die Alten nannten ihn nicht anders, denn sein Name war untergegangen in Vergessenheit und Mißachtung, und nur ein einziges Wort noch war für ihn geblieben . . . »Herrgottspfänder!«

Er war gezeichnet an der Stirne . . .

* * *

Und er, der Gemiedene, der von allen Verlassene, war einst der angesehenste Mann im Dorfe. Ob Herr oder Bauer, er wußte jeden für sich zu gewinnen, denn er hatte eine so treuherzige Manier, den Leuten ins Gesicht zu schauen, und er hatte eine so biedere, ehrenfeste Art, zu reden. Er verstand es, sich in die Brust zu werfen. »Ein braver Kerl, wie ich« . . . »ein Ehrenmann, wie ich« . . . so schloß und endigte jede Wendung seiner Gespräche, und das wiederholte er so lange, bis es die Leute glaubten, bis sie es ihm nachzureden begannen. Er hatte ein Herz für die Menschen, er war die verkörperte Nächstenliebe, er war der ehrliche Freund aller Welt . . . und das beschwor er auf der Straße, hinter der Bierbank und im Gemeindehaus; weshalb also hätten die guten Leute daran zweifeln sollen? Er war als feiner, geschmeidiger Gast willkommen im Schlosse, er war ein Herz und eine Seele mit dem aufgeklärten freidenkenden Dorfarzt, er räsonnierte mit dem demokratischen Förster um die Wette, im Pfarrhof that er wie zu Hause, er machte sich gern in den Höfen der reichen Bauern zu schaffen, und er that sich groß damit, daß er auf offener Straße Arm in Arm ging mit jedem Kleinhäusler und Tagewerker.

Ja, die armen Teufel, die Bedrängten und Bedrückten, sie alle, die Stiefkinder des dörflichen Lebens, sie hatte der brave Mann besonders in sein Herz geschlossen. Freilich war bei ihnen nicht viel zu holen, man hätte ihnen denn das letzte Hemd vom Leibe ziehen müssen. Aber Nächstenliebe ist ja ohne Eigennutz, das Mitleid bezahlt sich selbst, und menschliches Erbarmen fragt nicht lange nach Sporteln.

Wen unter diesen Armen nur ein Ungemach bedrängte oder eine schwere Sorge drückte, für den hatte der Mann ein Schlagwort des Trostes bereit. Es sagte zwar wenig, dieses Wort, und es half zu nichts; aber den armen Teufeln that es wohl. In jeder Not kamen sie zu ihm, und wenn ihnen auch nicht geholfen wurde, so gingen sie doch getröstet von dannen. »Ja, der Dokter« – so nannten sie ihn – »der versteht halt mit unsereinem zu reden, der meint's ehrlich mit uns, der weiß, wo unsereinen der Schuh drückt!« Das sagte einer dem anderen nach, und als der alte Steffelbauer, der durch zwanzig Jahre allsonntäglich sein Mittagsschläfchen im Gemeinderat gehalten hatte, eines seligen Todes verschied, da thaten sich die Kleinhäusler zusammen und wählten den »Dokter« in den hohen Rat.

Sie hatten ihre Freude daran, wie ihr »Mann« in der Gesellschaft der braven Dorfväter aufmischte! Da war es vorbei mit dem Schlafen, denn der Doktor hatte nicht nur die redlichsten Absichten, sondern auch eine gar laute Stimme, mit welcher er so lange und überzeugungsvolle Reden hielt, daß den Dorfvätern nicht nur der Schlaf, sondern zuweilen auch Hören und Sehen verging. In herzzerbrechenden Worten konnte er das Elend der Armen im Dorfe schildern, er konnte wirkliche Thränen weinen über ihr bitteres Los, in flammendem Zorne schalt er auf die drückenden Steuern, auf den erbärmlichen Lohn und die schwere Arbeit . . . und dann schlug er immer mit der Faust auf den Tisch und donnerte: »Das muß anders werden, und ich will sorgen dafür, daß es anders wird, denn ich bin ein Ehrenmann, der ein Herz im Leib hat.« Es wurde deshalb freilich nicht anders, die Gemeindeumlage nicht niedriger, der Lohn nicht höher, die Arbeit nicht leichter. Aber was lag daran? Die guten Leute nahmen den zwecklosen Spektakel für die mangelnde That, sie glaubten an ihren Mann, und wenn zuweilen böse Jungen etwas davon zu wispern hatten, daß es mit der uneigennützigen Nächstenliebe doch hin und wieder ein Häkchen hätte, dann schüttelten sie die Thomas-Köpfe und wiederholten seine eigenen Worte: »Unmöglich – so ein braver Kerl, wie er, ein Ehrenmann, wie der Dokter!« In diesem Vertrauen machten sie ihm nicht einmal einen Vorwurf daraus, daß er »Einer vom Gerichte« war – und das will viel heißen, denn der Bauer hat für gewöhnlich so seine eigene Meinung von Gesetz und Recht, er fügt sich allem gerne, nur nicht dem Zwang. Und wenn es geschah, daß der »Dokter« manchmal in Gesellschaft des Exekutors Einkehr hielt in einer armen Hütte, dann schalt und jammert wohl der eine, den es traf, aber alle die anderen sagten: »Mein Gott, er muß halt – 's is ihm selber net recht, thut ihm selber 's Herz weh!«

Einmal aber, da blieb auch all' diesen anderen das gewohnte Wort im Halse stecken.

Es war in einem harten Winter, um die Weihnachtszeit, um jene selige Zeit, in welcher Freude und Liebe wandern von Haus zu Haus und auch noch Einkehr halten an jener Stelle, von welcher sie verbannt waren ein ganzes, langes Jahr.

Um diese Zeit war dem Bachmichl, dem ärmsten Teufel des Dorfes, die einzige Kuh gefallen. Erst im Frühjahr hatte der Michl das Tier vom Händler gekauft und hatte während des Sommers den Kaufpreis Gulden um Gulden abgetragen bis auf einen kleinen Rest. Nun war die Kuh dahin, an einer Seuche gefallen, der Michl durfte das Fleisch nicht verwerten, er mußte die Kuh verscharren . . . und sie war noch nicht bezahlt . . . und das lederne Beutelchen des Bachmichl war so leer, wie der Magen seiner Kinder. Dem Händler, der im Dorf als harter Mann bekannt war, wurde bange um sein Geld, er that, was er gewohnt war in solchen Fällen, er ging zum »Dokter« und trug ihm die Sache vor. Natürlich rührte sich im Busen des guten »Dokters« das warme Herz und die Nächstenliebe. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: »Der arme, arme Michl! Mein Gott! Mein Gott!« Dann ließ er sich von dem Händler Vorschuß geben und versprach, die Sache in seine barmherzige Hand zu nehmen.

Das that er denn auch. Der Michl wurde verklagt und zur Zahlung verurteilt . . . neun Gulden Rest für die Kuh, dreizehn Gulden achtunddreißig Kreuzer für die »Kosten«. Mit nassen Augen kam der Michl zum »Dokter« gerannt, zu seinem guten Freund, zum Mann der christlichen Nächstenliebe. Der sprach vom Zwang des Gesetzes, jammerte über die Not der Zeit, schalt auf den hartherzigen Händler, und vor Mitgefühl kamen ihm sogar die Thränen, als er dem Bachmichl schonend mitteilte, daß er ihn anderen Tages pfänden müsse.

»Herr Dokter,« schluchzte der Michl, »morgen is der heilige Abend!«

»So? Der heilige Abend? Richtig, richtig! Ja, Michl, ja, da mußt du als guter Vater schon dazu schauen, daß das Christkindl noch vor der Pfändung kommt . . . Deine armen Kinderln müssen doch auch eine Freud' haben!«

Der Michl schaute den »Dokter« mit starren Augen an. Und der legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ja, siehst du, Michl, so bin ich! So handelt ein Ehrenmann!«

Dem Michl fiel das Kinn auf die Brust, und er ging. Ein paar Stunden später saß der »Dokter« im Wirtshaus, der hochwürdige Herr Pfarrer an seiner Seite, und am langen Tisch die stillen Bauern. Er sprach von seinen felsenfesten Überzeugungen, hielt eine schöne Rede über die Verderbnis der Zeit, schlug mit der Faust auf den Tisch und donnerte: »Das muß anders werden.« Begeistert hob der hochwürdige Herr das frisch gefüllte Glas und rief:

»Lieber, lieber Freund, Sie haben mir aus der Seele gesprochen!« Die Bauern aber stießen sich mit den Ellbogen an und zwinkerten sich mit den Augen zu: »Der kann's!«

* * *

Am anderen Tag, als es schon zu dämmern begann, saß der Bachmichl in seiner Stube, stumm die Fäuste über den Tisch gestreckt. Sein Weib war außer Haus, im Kreister schliefen die zwei jüngsten Kinder, und der Sepp und die Mierl, die mit der Nase schon über die Tischplatte reichten, hockten flüsternd in einem Winkel; ihre Wangen brannten, und manchmal hörte man sie leise kichern, wie in versteckter Freude . . . die kleinen Schelme wußten ja, was ihnen die nächste Stunde bringen mußte.

In der Stube brannte kein Licht, und es wurde dunkler und dunkler. Nur der Schnee, der auf der Straße lag, warf noch ein mattes Zwielicht durch die Fenster herein. Dann plötzlich quoll ein heller Schimmer in die Stube . . . er leuchtete aus den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses. Mit zitternden Händchen packte Sepp die Schwester am Arm und stammelte: »Mierl, da schau, beim Lentner zünden s' an!« Dann wieder Stille . . . von draußen aber hörte man die sanften, schwebenden Klänge der Glocken, die »zum Segen« läuteten.

Und nach einer Weile streckte Mierl das Köpfchen aus dem Winkel und fragte mit schüchternem Stimmchen: »Vaterl . . . wann kommt's denn?«

Der Bachmichl gab keine Antwort; nur ein dumpfer, schluchzender Laut kam über seine Lippen.

Und wieder nach einer Weile jubelte Mierl: »Vaterl . . . jetzt hör' ich's kommen!«

Auch der Bachmichl hatte die Schritte gehört, die im Hausflur laut geworden. Die Thür ging auf, und in die Stube trat der gute Freund des Volkes, der wohlbekannte »Dokter«, begleitet von einem Manne, der ein Aktenbündel unter dem Arm, in der Hand eine Laterne trug. Draußen auf der Straße hörte man ein paar Leute reden; nur wenige waren gekommen – es war ja um diese Stunde die lachende Freude zu Besuch in jedem Hause.

Ein stummer, flehender Blick des Bachmichl, ein Achselzucken des Exekutors, und die Amtshandlung begann. Es war nicht viel zu finden in Haus und Stube, aber auch der armseligste Kram, auch das Elend der Menschen findet noch seine Käufer.

Und wieder einmal fiel der Hammer: »Ein halbes Bett mit Kotze, Schätzungswert 5 fl., um . . . fünf Kreuzer zum drittenmal!« Da stürzt ein Weib in die Stube, lachend und weinend, das Weib des Bachmichl. Einen letzten Versuch hatte sie gewagt . . . und er war geglückt. Der Händler hatte ihr den Rest der Schuld erlassen. Nun ist es vorbei mit Pfändung und Exekution! Nein! Wer zahlt denn die »Kösten«? Das Gesetz muß seinen Lauf nehmen, und der »arme Dokter« muß auch leben. »Aber Bachmichl! Du bist doch sonst so ein gescheidter Mensch! Das mußt du doch begreifen! Aus reiner Nächstenliebe bin ich ein Gegner des sogenannten Fallenlassens von Feilbietungen, weil dadurch nur die Kosten erhöht werden! Ich handle also nur in deinem eigenen Interesse, als dein bester Freund und wahrer Ehrenmann, wenn ich die Exekution fortsetze! . . . Weiter um eine Nummer!«

Der Hammer fällt, und immer wieder. Die Stube leert sich, die Wände werden kahl. Hinter dem Ofen steht das schluchzende Weib, die beiden Jüngsten auf den Armen, denn das Bett ist fort . . . in einem anderen Winkel der stumme Mann, er hält den Sepp und die Mierl umschlungen und drückt ihre Gesichtchen in die Falten seines Kittels, damit sie nicht sehen sollten, was geschieht. Mit jedem Hammerschlage sinkt er mehr in sich zusammen, mit jedem Stücklein, das sie hinaustragen zur Stube, bricht ihm ein Stück Leben von seinem Herzen.

Und jetzt das Letzte! Alles kahl und leer. Die Augen des »Dokters« gleiten über die Wände, er hebt die Laterne, und ihr trüber Schein fällt auf den »Herrgott« – auf das Kruzifix, das in einer Mauerecke hängt, umgeben von dürren Palmzweigen.

»Halt . . . dort oben ist noch ein ›Herrgott‹! Herunter mit ihm!«

Er streckt die Hand, und die gemalten Augen des geschnitzten Bildes sehen ihn an . . . versteht er denn ihre Sprache nicht? Es sind ja nur zwei Worte, die sie ihm sagen: »Erbarmen, Liebe!« . . . Er, der sich doch sonst so gut auf Worte versteht . . . weshalb versteht er denn jetzt nicht?

Er streckt die Hand, und der Exekutor ruft aus: »Ein Herrgott, Schätzungswert . . .« er stockt und besinnt sich. Wie hoch soll er schätzen?

Der »Dokter« hat schon das Kreuz gefaßt, das er mit der Hand kaum noch zu erreichen vermochte, er zerrt, das schwere Schnitzwerk gleitet aus dem Haken, fällt nach vorne, streift im Fallen das Gesicht des Mannes und splittert auf den Dielen in Trümmer auseinander.

Der Bachmichl will auf den Dokter losstürzen, doch er kann nicht, schreiend hält ihn sein Weib umklammert . . . aber seine geballten Fäuste strecken sich, und in keuchendem Zorne ringt sich ein Wort von seinen zuckenden Lippen:

»Herrgottspfänder!«

Mit blassen, erschrockenen Gesichtern drücken sich die Leute aus der Stube . . . und die kleine Mierl zupft den Vater am Kittel, deutet mit dem Finger nach der Stirn des »Dokters« und stottert: »Vaterl . . . schau ihn an . . . der Herrgott hat ihn g'schlagen!«

Die Stirne blutet . . . zwei scharfe Risse laufen über einander, wie die Linien eines Kreuzes. Dicke, rote Tropfen rinnen nieder . . . mit zitternden Händen zerrt der Getroffene sein Tuch hervor und wischt über die Wunde . . . er kann das Blut nicht stillen . . .

Wortlos verläßt er die Stube und das Haus. Scheu weichen im Hof die Leute vor ihm zurück . . .

Er war gezeichnet.

 


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