Ludwig Ganghofer
Fliegender Sommer
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der tote Wald.

Den Morgen und Vormittag hatte ich dazu verwendet, alle Sehenswürdigkeiten, die das kleine Städtchen innerhalb seiner Mauern zu bieten wußte, getreulich nach dem Reisehandbuch zu bestaunen. Der Nachmittag aber sollte der Anregung geopfert werden, die mein rotlivrierter Cicerone mir durch die Bemerkung zuführte: »Weitaus das Interessanteste, was die Stadt ihrem Besucher zu zeigen hat, ist der eine halbe Stunde vor dem Thor gelegene sogenannte »tote Wald«, ein durch Sturm und Brand verwüstetes Gehölz.«

Die langweilige Stunde der Table d'hote war vorüber, der Schwarze mit Gemächlichkeit genommen und die schlimmste Glut des heißen Sommertages in einem kleinen Mittagsschläfchen übertaucht. Die brennende Zigarre im Munde, den grauen Schattenspender nachlässig geschultert, so wanderte ich zum Thor hinaus. Zwischen blumigen Wiesen und reifenden Kornfeldern schlängelte sich die Straße mit ihrer Allee von krüppelhaften Obstbäumen dahin. Graue Wolkenschatten huschten gespenstergleich über den Staub der Straße und machten mich immer wieder zum Himmel aufblicken. Ein Gewitter schien im Anzug, doch ich meinte, daß es wohl schwerlich vor dem späten Abend niedergehen würde.

Ein von Unkraut überwucherter Seitenweg, der einst eine wohlgepflegte Fahrstraße gewesen sein mochte, lenkte zwischen die Äcker und umkreiste einen von wirrem Buschwerk bestandenen Hügel. Als ich denselben umschritten hatte, lag eine breite Thalmulde vor mir geöffnet, welche sich in langsamer Steigung gegen die Ferne erhob und auch zu beiden Seiten mit sanfter Hebung gegen den Kamm zweier langgestreckter Hügelreihen emporstieg, so daß sich meinen Augen eine stundenweite Rundschau bot. Und dieses ganze weite Land war »toter Wald«. Einem Weinberg, spät nach der Lese – noch stehen die Rebstangen, aber das Weinlaub ist zertreten, von Menschenhänden und vom Herbstwind niedergerissen, von Unkraut durchwachsen – solch einem Weinberg, nur ins Riesenhafte vergrößert, glich dieser Wald auf den ersten Blick. Ein Wirbelsturm von grauenhafter Gewalt mußte vor Jahren über dieses Waldgehänge hinweggefahren sein. Die mächtigen Fichtenbäume waren nicht an der Wurzel gebrochen und umgestürzt, sondern in halber Manneshöhe abgedreht, als wären sie für die Kraft des kreisenden Sturmes nadeldünne Spähne gewesen. Und diese kahlen Stümpfe standen zu Hunderttausenden bis in weite Ferne – gleichsam als graue, verwitterte Kreuze auf den zahllosen Gräbern der vom Sturme hingemordeten Kinder des Waldes. Nur an wenigen Bäumen war die Vernichtung barmherzig vorübergegangen – aber sie standen nun mit gelben Nadeln, dürr bis in den Wipfel. Die Milliarden von Rüsselkäfern, welche unter den Rinden der zerschmetterten Bäume gewachsen sein mußten, diese winzigen Totengräber des Waldes, sie hatten im Übereifer auch die Rinde und das Mark der wenigen Überlebenden zerfressen.

Der Anblick dieser furchtbaren Zerstörung wirkte unsagbar schmerzvoll und herzbeklemmend, er wirkte fast wie ein Griff an die Kehle. Man spürte ein Grauen vor all den unheimlichen Mächten, die hier gewaltet, und hätte am liebsten die wüste Stätte fliehen mögen – und dennoch wieder zog das Mitleid den Wanderer näher, der gerne geweint hätte über die Fülle blühender Natur, die hier zu Grunde gegangen.

Weshalb hatte sich aber da die helfende, praktische Hand des Menschen nicht bethätigt? Wie konnte inmitten eines Kulturlandes, in welchem jeder Holzspahn seinen Geldwert hat, dieses Bild der Verwüstung lange Jahre überdauern? Weshalb nur hatte man die gebrochenen Stämme faulen und vermodern lassen, statt sie zu verarbeiten und zu verwerten – weshalb nur hatte man diese weiten Flächen, in deren Erde das bare Gold vergraben lag, von all dem Wuste nicht gesäubert und aufs neue wieder aufgeforstet?

Kopfschüttelnd legte ich mir diese Fragen vor, während ich mich mit zögernden Schritten dem Saum des toten Waldes näherte.

Ein leises Knacken machte mich aufblicken, und als ich der Richtung des eigentümlichen Geräusches folgte, gewahrte ich einen Mann mit dunklem, struppigem Bart. Unter einem wilden Rosenbusche saß er am Waldsaum im hohen Haidegras. Mit dem Lappen, der neben ihm lag, hatte er wohl das Gewehr geputzt, das er quer über dem Schoße hielt und an welchem er nun die Spannkraft der Hähne prüfte. Er mochte wohl ein Jagdaufseher oder Waldhüter sein, obwohl ich weder an seinem mürben Filzhut, noch an seiner verwitterten Joppe irgend ein Abzeichen bemerken konnte. Auch schien sich dieser Bursche, dem ich auf den ersten Blick etwa fünfzig Jahre gab, nicht sonderlich zu pflegen; sein Aussehen war im Ganzen ein recht verwildertes. Sein Gewehr aber, das konnte ich im Nähertreten erkennen, war eine fein gearbeitete, kostbare Waffe.

Ich wollte ihm jene Fragen vorlegen, die meine Gedanken beschäftigten. Doch bevor ich ihn erreichte, hörte er meinen Schritt, blickte hastig auf, runzelte die buschigen Brauen und erhob sich. Für meinen Gruß hatte er nicht einmal ein leises Kopfnicken zum Dank. Er schob den schmutzigen Lappen in die Tasche, warf das blitzende Gewehr hinter den Rücken und wandte sich zum Gehen, wobei mich seine unstät flackernden Augen mit einem feindseligen Blicke streiften.

Der edle Schnitt des Gesichtes hatte mich befremdet – doch waren die Züge schon zerstört, und wie mir schien, weit mehr durch Leidenschaften, als durch Strapazen. Auch in seiner Haltung und seinem Gang war etwas Vornehmes, Herrisches.

Ich schaute ihm nach, bis er hinter dem wuchernden Dorngestrüpp verschwunden war; dann kehrte ich auf das Sträßchen zurück und betrat den Wald. Hier, aus der Nähe betrachtet, milderte sich einigermaßen das Bild der Verwüstung. Der weite Ausblick fehlte, und somit auch die Vorstellung des ganzen, gewaltigen Zerstörungswerkes. Die ragenden, morschen Stümpfe sahen sich in der Nähe wohl nicht weniger traurig an, aber man sah nun auch den grünen, zierlich geblätterten Epheu, der die trockenen Wurzeln umspann, man sah die blühenden Brombeergebüsche, welche ihren zitternden Schatten über die auf der Erde modernden Stämme warfen, die üppigen Farnkräuter, das von Schlinggewächsen aller Art durchzogene, saftig grüne Moos und die niederen, zu kleinen Dickungen aneinander gerückten Bäumchen: das aus dem Tode neu ersprießende Leben. Die zahllosen violetten Dolden der Wohlmutblume erfüllten die schwülen Lüfte mit einem schweren, bedrückenden Duft. Nirgends ließ sich das Lied eines gefiederten Sängers vernehmen. Nur das emsige Ticken und Tacken der kleinen Baumläufer hörte man, die an den grauen Baumstümpfen Jagd machten auf die Larven des Rüsselkäfers – und manchmal klang, bald näher, bald wieder ferner, der langgezogene Ruf eines Hohlspechtes, anzuhören wie die seufzende Klage einer in den toten Wald gebannten Seele.

Diese schwermütige Stimmung der Landschaft schlich sich mit eigenartiger Beklemmung in mein Herz. Dazu kam noch, daß ich bald neben, bald hinter mir das Geräusch gedämpfter, schleichender Tritte oder ein leises Rascheln im Gebüsch zu hören vermeinte. Einmal wurde dieses Rascheln so deutlich, daß ich mich umwandte und mit lauter Stimme in den Wald hineinrief: »Ist jemand hier?«

Ein verschwommenes Echo gab mir Antwort von allen Seiten – aber in dieses Echo mischte sich ein halbunterdrücktes, häßliches Gekicher und das Geräusch enteilender Schritte.

Da hatte sich wohl ein Beerensammler mit mir einen Spaß gemacht – denn dem ernsten, fast unheimlichen Manne von da draußen vermochte ich solch einen kindischen Scherz nicht zuzutrauen.

Ärgerlich schritt ich weiter. Eine halbe Stunde mochte ich so gewandert sein, als der tote Wald um mich her ein noch seltsameres Ansehen gewann. Der bunte, malerische Untergrund verschwand vollständig; nur spärlicher Gras- und Kräuterwuchs zeigte sich auf dem Boden, der von einer verwitterten Aschen- und Rußschichte überkrustet war, aus welcher die gebrochenen Baumstümpfe als halbverkohlte Säulen emporragten.

Weiter und weiter schritt ich, bis der Weg auf einen öden Platz einlenkte, der einst von einem eisernen Gitter umzogen war; die stürzenden Bäume hatten es zerschlagen, der Rost die Stangen zerfressen. Inmitten des Platzes erhoben sich die Brandruinen eines villenartigen Gebäudes. Nur einen Teil des Erdgeschosses hatten die Flammen verschont, und hier schien auch noch ein Eckzimmer bewohnt, dessen Fenster offen standen und einen Teil der weißen, mit zahlreichen Rehgehörnen bedeckten Wände gewahren ließen. Ich wollte nähertreten, aber aus irgend einem Mauerloche kam ein großer, fuchsroter Hund auf mich zugefahren, mit gefletschten Zähnen und so wütendem Gekläff, daß ich die Vorsicht als das bessere Teil der Tapferkeit erkannte.

Aber ein schleuniger Rückzug schien mir auch noch aus anderem Grunde geraten. In die Betrachtung der seltsamen Landschaft vertieft, hatte ich nicht gewahrt, wie das drohende Gewitter mit finsteren Wolken schon über den Himmel emporgezogen war. Da schritt ich nun tüchtig aus, wenngleich ich nicht hoffen durfte, das Stadtthor noch trocken zu erreichen. Die Hälfte des Waldweges hatte ich zurückgelegt, als es plötzlich mir zur Rechten in den niederen Tannenbüschen rauschte. Ein Rehbock setzte in langen Fluchten über den Weg – unwillkürlich hob ich den geschlossenen Schattenspender gleich einer Flinte an die Wange – im gleichen Augenblick aber krachte hinter mir ein Schuß, das Tier überschlug sich, und mit zuckenden Läufen blieb es am Wegrand liegen. Als ich mit verdutzten Augen mich umblickte, sah ich jenen sonderbaren Gesellen inmitten der Straße stehen. Er ging an mir vorüber, ein grinsendes Lächeln auf den Lippen, packte das verendete Tier am Gehörn und schleifte es hinter sich her ins Dickicht. Und da hörte ich nun wieder jenes halb unterdrückte, häßliche Gekicher – und zugleich den ersten, dumpf rollenden Donnerschlag.

Nun trieb's mich in Eile heimwärts – über mir das Gewitter, hinter mir die unheimliche Nähe dieses Menschen.

Die Luft wurde finster, ein pfeifender Wind zog über das Gehäng hernieder, und immer dichter ballte sich das treibende, gährende Gewölk. Das war erst die richtige Luftstimmung für den »toten Wald« – sahen doch die in der Ferne aufsteigenden Wolken sich an, als wären sie Qualm und Rauch, aufwirbelnd von einer Brandstätte, in die ein Blitzstrahl von Neuem die zündende Fackel geworfen.

Bald fielen die ersten Tropfen, und als ich meine Herberge erreichte, rann das Wasser von meinen Kleidern. Doch ein Viertelstündchen später saß ich schon trocken in dem gemütlichen Herrenstübchen hinter dem Tisch, und an meiner Seite saß der freundliche, plauderlustige Wirt.

Und was er mir auf meine Fragen erzählte? Ich hätte ein kleines Buch zu schreiben, wollt ich die Geschichte mit all der Umständlichkeit berichten, mit der ich sie zu hören bekam.

Zwanzig Jahre mag es her sein. Damals gehörte das schmucke Landgut, durch dessen Äcker und Wiesen ich bei meinem Spaziergang zum »toten Wald« gekommen war, dem Freiherrn Roderich von Klingen. Der edle Freiherr hatte eine an Manie grenzende Leidenschaft für die Jagd. Über dieser Leidenschaft vernachlässigte er die Wirtschaft auf seinem Gut – und seine junge, hübsche Frau. Diese tröstete sich schließlich mit einem anderen, und eines Tages war sie verschwunden – natürlich auch der andere. Als der Freiherr an jenem Abend von der Jagd nach Hause kehrte und diese Nachricht zu hören bekam, sagte er kein Wort. Aber die Büchse schoß er auf das Ölbild seines Weibes ab – just an der Stelle des Herzens schlug die Kugel in die Leinwand ein. Wenige Wochen später verkaufte er sein Gut. Nur seinen Wald behielt er, kaufte alle angrenzenden Gehölze dazu und baute sich inmitten des Reviers sein Jagdhaus. Nun strich er Tag und Nacht mit der Flinte im Wald umher, inzwischen bestahlen ihn seine Diener und Jäger, seine Mittel erschöpften sich, und schließlich bildete der Erlös seiner Jagdbeute den ganzen Unterhalt seines Lebens. Dennoch war er nicht zu bewegen, auch nur einen einzigen Baum in seinem Walde fällen zu lassen – er wollte sein geliebtes Jagdgehege nicht schädigen. Aber sein Verhängnis war stärker als sein Wille und seine Leidenschaft. Der letzte seiner Jäger, den er mit Schlägen aus dem Hause gejagt, setzte ihm den roten Hahn auf das Dach, der Brand ergriff den Wald, und was die Flammen verschonten, zerstörte ein Wirbelsturm.

Seit jener Zeit, so erzählte mein Wirt, hause der Freiherr einsam in der Ruine seines Jagdschlößchens, halbgestörten Geistes, und er hätte für nichts anderes Sinn, als für die Jagd auf das spärliche Wild, das jene Sturmnacht überdauert, und in dem zerstörten Gehölz sich noch zu halten vermöchte. Kein Beerenpflücker, kein Holzsammler dürfe den »toten Wald« betreten. Die Verwandten des Freiherrn hätten schon allerlei Versuche gemacht, den »Betteljäger« in das Irrenhaus zu spedieren; aber so närrisch wäre er noch immer nicht, daß ihnen dieses wohlgemeinte Werk verwandtschaftlicher Liebe hätte gelingen können. In der Umgegend aber, besonders bei den Bauern, wären die abenteuerlichsten Gerüchte über den »Betteljäger« im Umlauf. Man erzähle sich, daß es im toten Walde nicht geheuer wäre. Viele Leute hätten den festen Glauben, daß der Freiherr damals in den Flammen umgekommen, und der »Betteljäger« nichts anderes wäre, als als »umgehende« Gespenst des Verbrannten.

 


 << zurück weiter >>