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1915

*

An James J. Putnam

Wien IX, Berggasse 19, 8. Juli 1915

Verehrter Freund

Ihr Buch ›On Human Motives‹ ist endlich, lange nach seiner Ankündigung, angekommen. Ich habe seine Lektüre noch nicht beendet, aber doch die für mich bedeutungsvollsten Abschnitte über Religion und über Psychoanalyse schon gelesen und gebe dem Drang nach, Ihnen etwas darüber zu schreiben.

Lob und Anerkennung verlangen Sie von mir gewiß nicht. Es ist mir angenehm zu denken, daß es bei Ihren Landsleuten Eindruck machen und bei vielen die tief gewurzelten Widerstände erschüttern wird.

Auf Seite 20 fand ich die Stelle, die ich als maßgebend für meine eigene Person gelten lassen muß. »To accustom ourselves to the study of immaturity and childhood before ... undesirable limitation of our vision...« et cetera.

Ich anerkenne, das ist mein Fall. Ich bin sicherlich inkompetent, über die andere Seite zu urteilen. Ich muß wohl diese Einseitigkeit gebraucht haben, um das Verborgene sehen zu können, das sich den anderen zu entziehen weiß. Dies ist also die Rechtfertigung meiner Abwehraktion. Die Einseitigkeit war auch einmal etwas Brauchbares.

Dagegen bedeutet es weniger, wenn die Argumente für die Realität unserer Ideale mir keinen starken Eindruck machen konnten. Ich kann den Übergang von der psychischen Realität unserer Vollkommenheiten zur faktischen Existenz derselben nicht finden. Sie werden sich nicht wundern. Sie wissen ja, wie wenig man von Argumenten erwarten darf. Ich will hinzufügen, ich habe gar keine Angst vor dem lieben Gott. Wenn wir einander einmal begegneten, hätte ich ihm mehr Vorwürfe zu machen, als er an mir aussetzen könnte. Ich würde ihn fragen, warum er mich nicht intellektuell besser ausgestattet hat, und er könnte mir nicht vorhalten, daß ich von meiner angeblichen Freiheit nicht den besten Gebrauch gemacht habe. (Nebenbei bemerkt, ich weiß, daß jeder einzelne ein Stück Lebensenergie repräsentiert, sehe aber nicht ein, was Energie mit Freiheit – Unbedingtheit – zu tun hat.)

Sie müssen nämlich von mir wissen, daß ich mit meiner Begabung immer unzufrieden war und vor mir genau zu begründen weiß, in welchen Punkten; daß ich mich aber für einen sehr moralischen Menschen halte, der den guten Ausspruch von Th. Vischer unterschreiben kann: »Das Moralische versteht sich immer von selbst«. Ich glaube, an Rechtsinn und Rücksicht für den Nebenmenschen; an Mißvergnügen, andere leiden zu machen oder zu übervorteilen, kann ich es mit den Besten, die ich kennengelernt habe, aufnehmen. Ich habe eigentlich nie etwas Gemeines und Boshaftes getan und spüre auch keine Versuchung dazu, bin also gar nicht stolz darauf. Ich verstehe die Sittlichkeit, von der wir hier sprechen, nämlich im sozialen Sinne, nicht im sexuellen. Die sexuelle Moralität, wie die Gesellschaft, am extremsten die amerikanische, sie definiert, scheint mir sehr verächtlich. Ich vertrete ein ungleich freieres Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr wenig von solcher Freiheit geübt habe. Gerade nur soweit, daß ich mir selbst bei der Begrenzung des auf diesem Gebiet Erlaubten geglaubt habe.

Die Betonung der sittlichen Anforderungen in der Öffentlichkeit macht mir oft einen peinlichen Eindruck. Was ich von religiös-ethischer Bekehrung gesehen habe, war nicht einladend...

Einen Punkt sehe ich aber, an dem ich mit Ihnen gehen kann. Wenn ich mich frage, warum ich immer gestrebt habe, ehrlich, für den Anderen schonungsbereit und womöglich gütig zu sein, und warum ich es nicht aufgegeben, als ich merkte, daß man dadurch zu Schaden kommt, zum Amboß wird, weil die Anderen brutal und unverläßlich sind, dann weiß ich allerdings keine Antwort. Vernünftig war es natürlich nicht. Einen besonderen ethischen Ansporn habe ich in der Jugend auch nicht empfunden; es fehlt mir auch eine deutliche Befriedigung dabei, wenn ich urteile, daß ich besser bin als die Anderen! Sie sind vielleicht der erste, vor dem ich mich dessen rühme. Man könnte gerade meinen Fall also als Beweis für Ihre Behauptung anführen, daß ein solcher Idealdrang ein wesentliches Stück unserer Anlage bildet. Wenn nur bei den Anderen mehr von dieser wertvollen Anlage zu bemerken wäre! Ich glaube im geheimen, wenn man die Mittel besäße, die Triebsublimierungen ebenso gründlich zu studieren wie ihre Verdrängungen, könnte man auf recht natürliche psychologische Aufklärungen stoßen, und sich Ihre menschenfreundliche Annahme ersparen. Aber wie gesagt, ich weiß nichts darüber. Warum ich – übrigens meine sechs erwachsenen Kinder ebenso – ein durchaus anständiger Mensch sein muß, ist mir ganz unverständlich. Dazu noch folgende Überlegung: wenn die Kenntnis der menschlichen Seele noch so unvollkommen ist, daß es meinen armseligen Fähigkeiten gelingen konnte, so reichliche Funde zu machen, so ist es offenbar zu früh, sich für oder gegen Annahmen wie die Ihrigen zu erklären.

Gestatten Sie mir noch einen kleinen Irrtum richtigzustellen, der ohne Bedeutung für die Weltgeschichte ist. Ich war nämlich niemals Breuers Assistent, habe seinen berühmten ersten Fall nie gesehen, kenne ihn nur aus Breuers Mitteilungen Jahre nachher. Diese historische Unrichtigkeit ist wohl die einzige, die Ihnen unterlaufen ist. Alles was Sie sonst über die Psychoanalyse sagen, kann ich ohne Opfer unterschreiben. Vorläufig verträgt sich die Psychoanalyse wirklich mit verschiedenen Weltanschauungen. Ob sie aber ihr letztes Wort schon gesprochen hat? Mir ist es bisher nie um die umfassende Synthese zu tun gewesen, sondern stets nur um die Sicherheit. Diese verdient, daß man ihr alles andere opfert.

Ich grüße Sie herzlich und wünsche Ihnen fortdauernde Gesundheit und Arbeitslust. Selbst benütze ich die Arbeitspause dieser Zeit zur Fertigstellung eines Buches, das zwölf psychologische Abhandlungen zusammenfassen soll.

Ihr treu ergebener

Freud

*

An Lou Andreas-Salomé

Karlsbad, Rudolfshof, 30. Juli 1915

Verehrteste Frau

Ich schreibe Ihnen aus einem Idyll, das wir uns trotzig und eigensinnig zurechtgemacht haben, meine Frau und ich, und in das der Anspruch der Zeit immer wieder störend dringt. Vor einer Woche etwa schrieb unser Ältester, daß er sich einen Schuß durch die Kappe und einen Streifschuß am Arm geholt hat, die aber beide seine Aktivität nicht stören konnten, und heute kündigt der andere Krieger seine für morgen angesetzte Ausfahrt, gleichfalls nach Norden, an. Meine Kleine, die Sie vielleicht erinnern, befindet sich bei der achtzigjährigen Großmutter in Ischl und schreibt besorgt: »Wie werde ich nächstes Jahr allein für sechs Kinder ›ausgeben‹ können?« Da wir uns nicht recht getrauen, in die Zukunft zu schauen, leben wir für den Tag und gewinnen ihm ab, was er geben will.

Ihre Briefe sind eine jetzt doppelt wertvolle Belohnung für meine Sendungen. Jetzt meine ich, weil ich fast allein bin und von allen Mitarbeitern nur Ferenczi dem militärischen Einfluß widerstehen und an der Gemeinschaft festhalten sehe. Da auch er an seine Garnison in Pápa gebannt ist, fühle ich mich oft so allein wie in den ersten zehn Jahren, da Wüste um mich war, ich aber jünger und noch mit einer unendlichen Energie auszuharren, begabt. Frucht dieser Zeit wird wohl ein aus zwölf Abhandlungen bestehendes Buch sein, das sich mit den Trieben und Triebschicksalen einleitet. Aber ich glaube mich zu erinnern, ich habe es Ihnen schon angekündigt. Es ist eben fertig geworden bis auf die erforderliche Nacharbeit beim Zusammenrücken und Einpassen der einzelnen Stücke.

Jedesmal wenn ich einen Ihrer begutachtenden Briefe lese, verwundere ich mich über Ihre Kunst, über das Gesagte hinauszugehen, es zu vollenden und bis zu einem fernen Treffpunkt konvergieren zu machen. Natürlich gehe ich nicht gleich mit. Ich verspüre oft so wenig synthetisches Bedürfnis. Die Einheit dieser Welt scheint mir etwas Selbstverständliches, was der Hervorhebung nicht wert ist. Was mich interessiert, ist die Scheidung und Gliederung dessen, was sonst in einen Urbrei zusammenfließen würde. Auch die Versicherung, die man am schönsten im ›Hannibal‹ von Grabbe findet: »Aus dieser Welt werden wir nicht fallen«, scheint mir kein Ersatz für das Aufgeben der Ichgrenzen, das schmerzhaft genug sein mag. Kurz, ich bin offenbar Analytiker und meine, die Synthese macht keine Schwierigkeiten, wenn man erst die Analyse hat.

Vom gleichen Standpunkt beanstande ich auch Ihre Rechtfertigung der ›Mordlust‹, wenn es eine sein soll. Es heißt die Unlustschranke, die hier die Gliederung übernimmt, nicht geringschätzen.

Ihr Brief enthält auch ein kostbares Versprechen. (Ich meine keine Symptomhandlung.) ›Anal und Sexual‹ möchte ich sehr gern lesen, und wenn unsere Zeitschriften sich noch halten können, werde ich den Abdruck betreiben. Wie und wohin befördert man aber das Manuskript? Ich bleibe bis etwa 10. August hier, eine Sendung nach Wien, wo mein Haus offen bleibt, ist auf alle Fälle gesichert. Man hat mich aufmerksam gemacht, daß alle schriftlichen Sendungen strenger Zensur unterliegen. Ich hoffe, die Beförderung wird doch möglich sein.

Wann wir uns alle, zerstreute Mitglieder einer unpolitischen Gemeinschaft, wiederfinden werden, und ob sich dann nicht zeigt, wieviel die Politik an uns verdorben hat, das vermag ich nicht zu sagen. Ich kann nicht Optimist sein, unterscheide mich von den Pessimisten, glaube ich, nur dadurch, daß mich das Böse, Dumme, Unsinnige nicht aus der Fassung bringt, weil ich's von vorneherein in die Zusammensetzung der Welt aufgenommen habe. Mein Freund Putnam behauptet in einem kürzlich erschienenen, auf der Psychoanalyse fußenden Buch, das Vollkommene habe nicht nur psychische, sondern auch materielle Realität. Dem Manne ist nicht zu helfen, der muß Pessimist werden!

Möge es Ihnen immer gut gehen in diesen schweren Zeiten und erinnern Sie sich meiner, auch wenn ich Ihnen nichts zu schicken habe!

Ihr herzlich ergebener
Freud

*

An Anna Freud

Karlsbad, 1. August 1915

Meine liebe Anna

Auf Deinen heutigen Brief will ich Dir schnell antworten, daß Du beruhigt sein kannst. Wir sind beide wieder wohl und haben Marienbad aufgegeben, Dich aber nicht. Wir denken jetzt, wie Dr. Kolisch rät, den Aufenthalt hier bis zum Fünfzehnten zu verlängern, dann nach Ischl ins Hotel zu kommen, um den Geburtstag mitzumachen und den Rest der Sommerzeit entweder in Ischl oder in Aussee zu verbringen, wo wir etwas Mögliches finden. Damit wirst Du wohl zufrieden sein.

Dein Schreibtischmalheur ist nicht ohne Beispiel. Auch bei uns hier hat das brave und kräftige Mädchen in den ersten Tagen Dein Bild auf den Boden geworfen, so daß das Glas erneuert werden mußte. Ich war leider nicht gewarnt genug. Einige Tage später hat sie eine Rauchschale hingeschleudert, daß sie zerbrach; sie bedauerte gewiß, daß es nur die porphyrne war und nicht die Nephritschale, die ich zu Hause gelassen. Jetzt fand ich meine Energie wieder, nach einigen Auseinandersetzungen zeigte ich ihr einen großen Papierstreifen, den ich mit Reißnägeln über dem Schreibtisch befestigt, auf dem zu lesen steht:

Nicht Schreibtisch anrühren!
Bei Strafe!

Das hat nun gut gewirkt.

Ich habe hier noch zu einer anderen schriftstellerischen Arbeit Gelegenheit gehabt. Vor dem Freundschaftssaal, wo wir frühstücken, befindet sich ein Mann, der eine Waagebude hält, zu deren Gebrauch er seit Jahren mit folgendem schauerlichen Vierzeiler einladet:

So wahr daß Gottes Augenlicht
Hat jeder Kurgast sein Gewicht
Darum soll er es nicht unterlassen,
Im Freundschaftssaal sich wägen lassen.

Ich habe mir endlich die Freiheit genommen, den Mann zu fragen, woher er die Dichtung hat, worauf er antwortete, es sei sein eigenes Produkt, aber er wisse, es sei nicht frei von Fehlern. Von solcher Bescheidenheit gerührt, habe ich es unternommen, einen Ersatz für diesen Wahnwitz zu besorgen und habe ihm tags darauf, mit Benützung seiner Ideen, folgenden Vers zur Verfügung gestellt:

So wie ein Herz und Augenlicht
Hat jeder Kurgast ein Gewicht.
Damit ihm das nicht werd' zur Qual,
Wäg er sich oft beim Freundschaftssaal.

Er hat es sehr gelobt und versprochen, den neuen Vers in nächster Saison anzuschlagen.

Daß Ernst gestern abgereist sein soll, habe ich Dir gewiß schon geschrieben. Von Martin gestern eine Karte, in der er von einem vierzehntägigen Urlaub spricht.

Vor einigen Tagen fand sich hier zum ersten Mal eine Tarockpartie unter Brüdern.

›Übertragung‹ ist ein technischer Ausdruck, der die Übertragung der beim Patienten latenten zärtlichen oder feindlichen Gefühle auf den Arzt bedeutet.

Trotz der schlechten Zeiten – man gewöhnt sich an alles – haben wir die Verbindung mit Frau Schapira wieder angeknüpft. Mama hat nach vielem Drängen ihre Perlen umfassen lassen und hat jetzt erst Freude daran, für Großmama ist eine pompöse alte Brosche erworben worden, für Dich eine opalene Kleinigkeit in Arbeit, und ich handle um eine Nephritschale, die fabelhaft schön ist, aber sonderbarerweise einen alten deutschen Groschen in ihrer Mitte eingekittet trägt. Wir sind noch nicht einig darüber.

Viele herzliche Grüße

von Deinem
Papa


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