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1885

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An Martha Bernays

Wien, Dienstag, 6. Januar 1885

Mein teurer Schatz

In der Erregung der letzten Tage fand ich keine Ruhe, Dir zu schreiben. Das Spital ist in Aufruhr. Du wirst gleich hören, was es gibt.

Am Sonntag war Koller auf dem Journal, derselbe, der das Cocain zu solchem Ruhm gebracht hat und in neuerer Zeit mir immer näher befreundet. Er gerät wegen eines geringfügigen sachlichen Ereignisses in Differenz mit dem für die Klinik Billroth amtierenden Ausheber und Operateur, und der sagt ihm plötzlich »Saujud«. Nun mußt Du wissen, in welcher Stimmung wir hier leben, in welcher Verbitterung – kurz, wir hätten es alle ebenso erwidert wie Koller – mit einem Schlag ins Gesicht. Der Gezüchtigte lief fort, verklagte K. beim Direktor, der aber ihn tüchtig auszankte und Koller ausdrücklich recht gab. Es war uns allen wie eine Befreiung, daß es so gekommen. Nun sind sie aber beide Reserveoffiziere, müssen sich also fordern und schlagen, und eben jetzt schlagen sie sich auf Säbel unter recht erschwerenden Bedingungen. Lustgarten und Bettelheim (der Regimentsarzt) sind Kollers Sekundanten.

Ich bin zu unruhig, Dir mehr zu schreiben, ich schicke aber den Brief nicht ab, ehe ich Dir Nachricht vom Ausgang des Duells geben kann. Es wäre so viel dazu zu sagen. –

Herzlich hat mich Deine Freude über die kleinen Geschenke gefreut, Minna hat wohl auch nicht geglaubt, daß ich sie auf einen Kalender einschränken werde. Eliot ist für sie, ich habe wieder darum gemahnt. Das Geld, Weibchen, behalte nur für Dich, Minna hat auf einen Teil des früheren Anspruch. Ihr werdet jetzt lange nichts bekommen.

Ich habe sechs Flaschen sehr guten Wein von Paneth bekommen, die nach Hause wandern werden, zum Teil aber auch hier im Zimmer von mir und anderen ausgetrunken werden. Eine Flasche ist heute zu Koller gewandert, ihn vor dem Kampf zu stärken. Eine kühne Ausgabe gedenke ich zu machen. Für die zweiundvierzig Gulden Zinsen von Paneth kaufe ich mir eine ordentliche silberne Uhr, auf deren Rückseite sich ein Zählwerk befindet, das hat den Wert eines wissenschaftlichen Instrumentes, und mein alter Scherben geht nie richtig. Ich bin gar kein zivilisierter Mensch ohne Uhr. Ein solches Instrument kostet vierzig Gulden. – Ich bin so ungeduldig beim Schreiben.

Meine Injektionen bei Neuralgie gehen bis jetzt sehr gut, nur habe ich sehr wenig Fälle. Gestern war ich bei Professor Weinlechnerund Standhartner, die mir die Erlaubnis gegeben haben, alle ähnlichen Fälle auf ihren Abteilungen so behandeln zu dürfen. Jetzt hoffe ich bald mehr über den Wert des Verfahrens zu lernen.

Ich muß hingehen, ob sie schon zurück sind.

Es ist gut abgelaufen, Weibchen. Unser Freund ist ganz unverletzt, und der Gegner hat zwei tüchtige Hiebe abbekommen. Wir sind alle herzlich froh, ein stolzer Tag für uns. Wir werden Koller ein Geschenk zur bleibenden Erinnerung an den Sieg machen.

Leb wohl, mein Schatz, und schreib bald wieder

Deinem Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, Freitag, 16. Januar 1885

Mein süßer Schatz

Einen schönen herzlichen Gruß zum Siebzehnten; weißt Du nebenbei, daß auch an einem Siebzehnten mein Kurs begonnen hat? Und jetzt rasch meine Nachricht, damit Du Dich gleich freuen kannst. Die Würfel sind gefallen. Ich habe mir heute den wilden Bart schneiden lassen und bin zu Nothnagel gegangen, dem ich eine Karte einschickte »erlaubt sich zu fragen, ob und wann Herr Hofrat ihn in einer wichtigen persönlichen Angelegenheit hören wollen«. Dasselbe Gedränge, dasselbe angstvolle Flüstern der Leute um mich her, ob ich denn auch ein Arzt sei und also vor ihnen eingelassen werde, die schon so lange warten. Am besten verstand ich eine Konversation einer Dame in Trauer mit ihrem Bruder. Der weibliche Scharfblick diagnostizierte gleich was Bedenkliches in mir, während der Herr Bruder mit überlegenem Lächeln die Vermutung, ich könnte auch der schädlichen Klasse angehören, zurückwies. Endlich kam die Enttäuschung, denn ich war vor allen drin vor dem Manne, der so oft entscheidend für mich gewesen war, und hinter ihm wieder das Bild der sinnigen, ernsten, toten Frau. Ich fragte kurz, ob ich mein Anliegen jetzt vorbringen solle, oder später. Er meinte, wenn es kurz sei, jetzt, sonst würden wir uns besser zu einer anderen Zeit besprechen. Ich versprach, kurz zu sein. »Sie haben einmal geäußert, daß Sie mir behilflich sein wollen, und ich glaube daran, weil Sie es gesagt haben. Nun ist Gelegenheit dazu. Ich stelle die Anfrage an Sie, ob ich jetzt auf Grund meiner bisherigen Arbeiten die Dozentur verlangen soll oder ob ich weitere abwarten muß.« – »Was haben Sie alles gearbeitet, lieber Doktor, über Coca –« (Coca ist also doch zunächst an meinen Namen geknüpft). Ich unterbrach, indem ich das Paket meiner gesammelten Schriften, die aus der vormarthlichen Zeit und die aus der späteren, hervorzog. Er zählte bloß die Nummern. »Nach der Zahl sind es acht oder neun«, sagte er, »o Gott, reichen Sie getrost ein. Was für Leute werden denn nicht zur Dozentur zugelassen. Es wird nicht den mindesten Anstand haben.« – »Aber ich habe noch mehrere Dinge zu veröffentlichen, davon zwei in allernächster Zeit.« – »Die brauchen Sie nicht, das ist mehr als genug.« – »Und es ist jetzt wenig für Nervenpathologie darunter.« – »Das macht nichts, wer kann denn Nervenpathologie verstehen, ohne Anatomie und Physiologie betrieben zu haben? Sie wollen doch die Dozentur für Nervenpathologie? – Da werden drei zum Referat gewählt, Meynert, Bamberger und ich wahrscheinlich. Es wird sich kein Widerspruch erheben, und wenn sich Bedenken im Kolleg verlauten lassen, so sind wir ja Manns genug, unsere Sache zu vertreten, nicht wahr?« – »Da darf ich also annehmen, daß Sie diese Dozentur unterstützen? Von Meynert weiß ich, daß er's ohne weiteres tut.« – »Gewiß, und ich glaube nicht, daß jemand was dagegen einwenden wird; wenn aber, so werden wir's doch durchsetzen.« Ich sagte noch: »Es handelt sich darum, Kurse, die ich unrechtmäßig lese, zu legitimieren. Ich lese zwar nur für Engländer in englischer Sprache, aber die drängen sich dazu.« – Dann schüttelten wir uns kräftig die Hände, und ich ging als der jüngste Dozent von dannen. Ich reiche noch in nächster Woche ein. Die goldene Schlange wird Dir diesmal nicht entgehen.

Einen herzlichen Kuß für viele von

Deinem Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, Mittwoch, 21. Januar 1885

Mein kleines Liebchen

Allerlei hat sich ereignet, so daß ich etwas verworren schreiben darf. Es war ein Gerücht verbreitet, daß der deutsche Kaiser gestorben ist. Nun soll er aber noch leben und überlebt gewiß uns alle.

Ich habe heute um die Dozentur eingereicht, mit Professor Ludwig und Meynert gesprochen. Letzterer war sehr entschieden günstig und hat außerdem das Nervenzimmer, auf das er rechnet, in sehr verdächtiger Weise erwähnt. Ich glaube sehr, wenn er's bekommt, wird er mich nehmen. Heute abends ist viel über mich gesprochen worden. Fleischl ist bei Meynert eingeladen und bearbeitet ihn für mich, und Ludwig bearbeitet im Gasthaus den gefährlichen Kundrat, den pathologischen Anatomen.

So jetzt zu Deinem Briefchen. Da gibt's viel zu beantworten. Zunächst, ob ich Dich Schlittschuhlaufen lassen werde. Entschieden nein, dazu bin ich zu eifersüchtig. Allein kann ich's nämlich nicht, und dürfte überdies keine Zeit dazu haben, Dich zu begleiten, begleitet müßtest Du aber doch sein. Das gib also nur auf. Dann bestehe ich darauf, daß Du eine ordentliche Decke bis zu achtundzwanzig Mark kaufst, die ich Dir vom nächsten Kursgeld – jetzt bin ich ganz arm – schicken werde. Wenn Du noch was hast, so strecke mir das Geld für den Zweck nur vor.

Drittens sehe ich nicht ein, warum Du frieren mußt. Gibt es kein Holz und keine Öfen in Wandsbek? Aufklärung dringend erwünscht. Es wird doch nicht wieder so weit kommen, daß Du mir nicht schreibst, weil es zu kalt ist in dem einen Zimmer und man in dem anderen zu sehr gestört wird. Das war der schrecklichste Brief, den ich je von Dir gelesen habe und den ich gewiß nicht vergesse, wenn ich auch fünfundachtzig Jahre alt werde, und wenn Du mir jeden Tag bis dahin einen Kuß gibst, was ja doch viel verlangt ist. Liebchen, bist Du so, daß Du nur im Sommer zärtlich sein kannst und Dir die Heizung im Winter einfriert? Geh, sag mir das geschwind, so schaff ich mir noch eiligst ein Wintermädchen an.

So und was noch? Daß Du sehr viel Pech haben müßtest, um diesmal der goldenen Schlange zu entgehen. Du weißt vielleicht nicht, daß Dozentenbräute verpflichtet sind, goldene Schlangen zu tragen, um sich von gewöhnlichen Arztensbräuten zu unterscheiden.

Eins wollte ich noch sagen, Du mußt nicht gleich sagen, wenn sich jemandes Interessen mit den unsrigen kreuzen, daß das ein unanständiger Mensch ist. Pfungen speziell ist ganz im Recht und an seinen Absichten gar nichts Unanständiges. – Jetzt ist freilich allen Gefahren vorgebeugt.

Ich lasse mir einige Bücher einbinden. Von morgen ab muß ich doch zu Hause Nachtmahl essen. Ich komme ganz von aller Arbeit am Abend ab.

Gute Nacht, Weibchen, sei recht brav und hab mich ein bißchen lieb.

Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, 10. März 1885

Mein süßer Schatz

Weh, wenn Du einmal so reich geworden bist, daß ich wie in den schlechten Romanen es Dir in einem höflichen Brief anheimstellen muß, ob Du noch meine Verlobte sein willst, da ich Deinem Glück und so weiter unmöglich im Wege sein dürfte. Ich freue mich schon auf den Brief und Deine Antwort – aber ich glaube, vor einem Jahr haben wir schon einmal in dieser Phantasie geschwelgt. Weißt Du übrigens nicht, daß nur die Armen sich genieren, was geschenkt zu nehmen, die Reichen nie.

Sonst, mein Liebchen, geht es mir so köstlich wohl, ich bin wie Hans im Glück, heute werden so die letzten Geschäfte beendet und dann habe ich greulich viel Zeit, den ganzen Nachmittag bis auf eine Stunde zum Augenspiegeln, und das Licht ist so schön. Ich habe gar keinen Impuls zum Faulenzen, ich bin recht fleißig aufgelegt. – Das Gesuch ist heute überreicht worden, die Sache ist aussichtslos, obwohl Lustgarten den Professor Ludwig für mich engagiert hat, und vielleicht das dabei herausschaut, daß der neue Primarius eine gute Meinung von mir bekommt und mir einmal bei ihm zu lesen gestattet.

Den Kurs habe ich heute geschlossen, es kam noch eine Dame für den nächsten, der ich sagen mußte, daß ich keinen mehr lese.

Weißt Du, heute ist ein völliger Abschnitt in meinem Leben, alle alten Dinge sind ausgetragen, ich bin in ganz neuen Verhältnissen. Es war doch eine schöne Zeit, an die Kurse habe ich nur liebliche Erinnerungen, es war nicht das Geld allein, es war das Lernen und Lehren, ich bin doch im Hause erst dadurch als etwas anerkannt worden. Soll ich heute zu Breuer, Abschied nehmen für die Zeit, da ich mich vergrabe? Ich will es tun. Ich war lange nicht so wohl wie in diesen schlechten Tagen und habe auch kaum je so gut ausgesehen. Nach Hause komme ich nicht, meine Geldlosigkeit tut mir zu weh, um sie dort einzugestehen. Sie merken es ja ohnehin.

Ich behalte noch meine alte Wohnung in diesem Monat, habe aber meine Bedienerin gewechselt und fühle mich sehr wohl dabei. Ich esse jetzt Nachtmahl zu Hause, bescheiden, aber mit Lust und kann Pläne schmieden, lesen und referieren so viel ich will.

Fleischl habe ich gestern geschrieben, mir aber keine Antwort ausbedungen, weil ihm das Schreiben so schwer fällt. Ich gehe Freitag oder Samstag, da bin ich mit meinem Vermögen gerade zu Ende, zu ihm. Ich bin eigentlich neugierig, ob er mir was leihen wird...

Du schreibst mir nichts von Minna? Sie erholt sich gewiß, bis wir uns wiedersehen.

Es grüßt Dich herzlich

Dein Sigmund

Ich gebe Dir das feierliche Versprechen, daß ich Dich auch nehme, wenn Du jene 1500 Mark nicht bekommst. Im Notfall nehme ich Dich mitsamt den 150,000,000 Mark.

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An Martha Bernays

Wien, Dienstag, 31. März 1885

Mein süßes Liebchen

Außer Deinen beiden herzigen Briefchen sind mir eine Menge angenehmer Dinge in den letzten Tagen zugekommen, von denen ich Dir jetzt einzeln Bericht geben will. Zunächst, daß meine zweite Coca-Arbeit wörtlich in einem Zentralblatt abgedruckt ist, sodann, daß ich von Dr. Pritchard, den Ihr kennt, einen lieben Brief bekommen habe, dem es nicht an Antwort fehlen soll und den ich Dir heute beilege. Es freut mich jetzt ganz besonders, daß ich ihn nach Wandsbek geschickt. Dann aber die Hauptsache: ein paar sehr schöne Entdeckungen in der Hirnanatomie, fünf bis sechs an der Zahl, die meine nächste größere Arbeit darüber zieren sollen. Ein Teil der Sachen, die ich da finde, wird zwar von anderer Seite (aus Leipzig) bruchstückweise jede Woche publiziert, ich warte aber geduldig ab, bis ich alles beisammen habe und lege erst dann los. Ich weiß nicht, ob ich auch folgendes Ereignis zu den angenehmen zählen soll. Mein glücklicher Konkurrent in der letzten Bewerbung um die Stelle eines ersten Sekundararztes ist von der Statthalterei nicht bestätigt worden, weil er ein Ungar ist, und Ungarn von nun an als Ausländer behandelt werden sollen. Es wird allgemein für möglich gehalten, daß die Statthalterei an seiner Statt mich ernennt. Nun habe ich aber wenig Lust, mich von neuem in die Spitalswirtschaft einzuverleiben. Meine Absichten sind, wie Du weißt, die Reise nach Paris über Wandsbek, die Muße, um die Hirnarbeit fertigzumachen, und dann die Selbständigkeit, um zu erfahren, was wir hier für Chancen finden können. Nehme ich die Stelle an, so kann ich zunächst die Hirnarbeit nicht fertigmachen, sodann bekomme ich keinen Urlaub für die Reise und muß die Stelle in zwei Monaten wieder aufgeben, wobei ich den Primarius Hein nur geärgert habe, und verzichte ich auf die Reise und gehe den Spitalsweg weiter, so reißt mir wohl bald die Geduld. Nun habe ich ja das Stipendium noch nicht, viele Leute würden sagen, es ist eine Dummheit, daß ich das ablehne, um was ich mich vor vier Wochen beworben habe. Aber des Menschen Dämon ist das Beste an ihm, ist er selber. Wofür man nicht mit ganzer Liebe einsteht, soll man nicht unternehmen. Was meinst Du? Laß Dich hören.

Heute sind es vier Jahre, daß ich zum Doktor promoviert worden bin, und ich habe den Tag durch Müßiggang und einen Mittagsbesuch bei Breuer gefeiert. Morgen wird wieder gearbeitet. Ich bin sehr wohl und mein Marthchen gewiß auch. Wenn ich wieder sehen könnte, wie sie ausschaut? Würde ich sie auf der Straße erkennen? Hie und da sehe ich ein Mädchen auf der Straße, das ihr in dem und jenem ähnlich sieht, dann gehe ich immer ein Stückchen nach und überzeuge mich, daß sie nicht hier ist. Sie wird wohl erst als mein Weibchen Wien wiedersehen. Aber nur bald wünscht

Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Montag, 8. Juni 1885
Heilanstalt in Oberdöbling

Mein süßes Liebchen

Man erlebt doch etwas. Gestern war ein höchst amüsanter Tag, heute ist es erst halb elf Uhr, ich finde es auch recht merkwürdig und lustig. Erzählen könnte ich Dir leichter als beschreiben, doch will ich gerne versuchen, was ich da leisten kann. Hast Du einmal die Heilanstalt gesehen? Erinnerst Du Dich an den schönen Park am Ende der Hirschenstraße, der sich dann gegen Grinzing, wo die Straße den Bogen macht, fortsetzt? In dem Park liegt auf einer kleinen Anhöhe die Heilanstalt, bestehend aus dem zweistöckigen, großen ›Haus‹, dem kleinen Haus und einem Neubau, gegenüber liegt noch das sogenannte Pflegehaus für ganz abgelagerte Fälle. Um acht Uhr kam ich gestern mit einem Spazierstock als Gepäck an und wurde Mitglied dieser höchst zusammengesetzten Gemeinde. Ich muß Dir die Personen etwas näher beschreiben. Da ist zuerst Professor N.N., der Oberherrscher, den ich bisher nur vom Ruf und Gesicht gekannt habe. Ein alter Herr, getaufter Jude, mit vertrackten Gesichtszügen, einer kleinen Perücke und steifem Gang, entweder infolge von Gicht oder einer Nervenkrankheit. Er ist außerordentlicher Professor der Psychiatrie, Primararzt an der Irrenanstalt, war der Lehrer von Meynert, aber der Schüler hat den Lehrer aus jeder wissenschaftlichen Position verdrängt, nur in der Praxis hat er ihm wenig anhaben können. Er ist kaum sehr begabt, aber was man sehr gescheut heißt, ein alter Praktikus und von zweifelhaftestem Charakter, nur egoistisch, völlig unzuverlässig und trotz seiner fünfundsechzig Jahre oder mehr keinem Genuß abgeneigt. Die Heilanstalt hat er in Gemeinschaft mit einem Dr. Obersteiner, der ein Stiefbruder vom Minister Haymerle ist. Da nun N.N. eine einzige Tochter und Obersteiner einen einzigen Sohn hatte, haben die beiden einander geheiratet und der junge Professor Obersteiner, der Schwiegersohn von N.N., ist der eigentliche Leiter der Anstalt. Obersteiner ist ein Freund von Breuer, Fleischl, Exner und dergleichen, Schüler von Brücke und mir daher seit langem bekannt. Ich war oft bei ihm draußen, um mir die Bücher, die ich für meine Publikationen brauchte, auszuleihen. Er ist klein, dünn und unansehnlich, von sehr liebenswürdiger Gemütsart, großer Gewissenhaftigkeit und Anständigkeit. In der Wissenschaft ein fleißiger Arbeiter ohne besondere Leistungen, als Arzt zaghaft und bescheiden. Die Frau ist lang, blaß, von angenehmen Gesichtszügen, unverkennbarer Ähnlichkeit mit ihrem Vater, sie hat die wirtschaftliche Herrschaft der Anstalt, ist früh auf und arbeitet an allem mit. Zwei Kinder habe ich auch zu Gesicht bekommen. Das ältere, ein Knabe, leider infolge einer Hirnerkrankung halb gelähmt. Bei Tische lernte ich auch den Assistenten Dr. K. kennen, der schon zwölf Jahre im Hause ist, ein schöner und schrecklich langweiliger Germane. Er ist verheiratet, wohnt mit Familie im Hause, seine Frau sieht meiner Nichte Pauline frappant ähnlich. Beide sind heute verreist. Das Hauspersonal besteht noch aus einem imposanten Kerl von Inspektor, einem Fräulein Toni in der Küche, einem Fräulein Marie als Gesellschaftsdame für die Frauen, beide ehrwürdige, feste Matronen, ungezählten Wärtern und Stubenmädchen, letztere sehr hübsch, wahrscheinlich des alten Professors Auswahl. Sechzig Kranke werden im Haus verpflegt, Geisteskranke in allen Abstufungen von leichtem Schwachsinn, den der Laie nicht bemerkt, bis zum tiefsten Grad psychischer Versunkenheit. Die ärztliche Behandlung ist natürlich geringfügig, beschränkt sich auf die nebenbei eruierten internen und chirurgischen Beschwerden, sonst ist alles Überwachung, Pflege, Kost und Gewährenlassen. Die Küche ist natürlich im Haus. Die mildesten der Kranken speisen mittags mit der Direktion, dem Arzt und Inspektor gemeinsam. Es sind natürlich lauter reiche Leute, Grafen, Comtessen, Barone und dergleichen. Pièces de résistance sind die zwei Durchläuchte, Fürst S. und Fürst M. Letzterer, wie Du Dich erinnern wirst, ein Sohn von Marie Louise, der Frau Napoleons, und so wie unser Kaiser ein Enkel von Kaiser Franz. Du glaubst nicht, wie schäbig diese Fürsten und Grafen aussehen, obwohl sie nicht eigentlich schwachsinnig, sondern nur so ein Gemisch von schwachsinnig und exzentrisch sind.

Jetzt komme ich zu mir. Ich habe alle Ursache, mit dem Empfang zufrieden zu sein. Der alte Professor behandelte mich sehr freundlich, erkundigte sich nach Kolloquium und Reisestipendium, für welches er mir Aussichten machte. Zum Frühstück gestern und heute und zum schwarzen Kaffee war ich mit den Professoren allein. Obersteiner natürlich hat mich in alle die Gebarungen eingeführt und ist so gut, wie er immer war. Durch etwas Diagnostizieren habe ich ihm sehr imponiert, scheint es, und er lobt meine Brauchbarkeit zum Verkehr mit einem Amerikaner, der vorgestern angekommen ist, und mein Geschick, die Krankennamen und Gesichter zu behalten, obwohl er da noch viele Verwechslungen von mir erleben wird. Man wird sehr gut genährt, um halb zwölf Uhr ein Gabelfrühstück, um drei Uhr Mittag, gestern bin ich vor dem Nachtmahl in die Stadt gegangen. Da ich eigentlich noch obdachlos bin, ist mir seine Bibliothek zum Aufenthalt eingeräumt, ein kühles Zimmer mit Aussicht auf alle Hügel um Wien, in dem ein Mikroskop steht und an den Wänden ein Schatz von Literatur des Nervensystems, mit dem man sich schwer langweilen kann. Außerdem haben sie mir eine Ecke in N.N.s Salon zum Essen und Schreiben hergerichtet. Es wird eben drin aufgedeckt, ich schreibe aber in der Bibliothek. Donnerstag wird ein Zimmer für mich frei, wo ich auch allein die Mahlzeiten nehmen werde. Die Arbeit ist nun die, daß man morgens von halb neun bis zehn Uhr Visite macht – zusammen, dann fährt Obersteiner in die Stadt und kommt am Nachmittag zwischen zwei und vier Uhr zurück, das ist die Zeit meiner eigentlichen Verantwortlichkeit, in welcher auch einmal was Ärztliches zu tun ist, etwa ein Fräulein mit der Schlundsonde zu füttern wie heute, sonst Auskunft zu geben, wenn Besucher oder amtliche Kommissionen kommen. Ich habe freie Zeit von der Morgenvisite bis Mittag drei Uhr, von solchen etwaigen Unterbrechungen abgesehen, und dann von drei bis sieben Uhr, wo man wieder durch die Krankenzimmer geht. Im Ganzen ist sehr wenig zu tun, wenn man nicht Direktor oder Köchin ist, und man könnte hier wirklich idyllisch mit Frau und Kind leben, wenn nicht das fördernde und belebende Element des Kampfes ums Dasein fehlen würde. Es ist ja eigentlich eine Beamtenstellung. Wenn's aber draußen nicht geht, und ich durchaus Hirnanatomie arbeiten will, frage ich bei meinem Weibchen an, ob so eine Existenz, wo sie nicht einmal für die Küche zu sorgen braucht, ihr behagen würde. Es hat sein pro und contra, nur laß mich jetzt nicht daran denken.

Ich kann die drei Wochen, abgesehen von der Faulenzerei, dem guten Essen, auch sonst ausnützen, ich schreibe eine Krankengeschichte und sammle die Literatur für eine neue Publikation, zu welcher dann noch anatomische Untersuchungen hinzukommen. Auch werde ich die Präparate studieren, die ich im vorigen Monat gemacht habe.

Schreibe mir nur hierher, Dr. S. F., Arzt in der Heilanstalt Oberdöbling, Hirschengasse 71, ich will so viel Zeit als möglich hier zubringen, damit die Leute für die gute Behandlung auch was von mir haben. Meine Ordination halte ich nur Mittwoch und Freitag, an den Tagen, wo mein Amerikaner kommt, sonst habe ich ja in der Stadt nicht viel zu besorgen.

Es grüßt Dich herzlich
Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, Mittwoch, 12. August 1885

Mein wanderndes Prinzeßchen

Sieh da, Lübeck! Soll man sich das gefallen lassen? Zwei einschichtige Mädchen in Norddeutschland reisen! Das ist ja Auflehnung gegen die männliche Prärogative, der Beginn der Erkenntnis, daß man ohne Mann nicht allein zu sein braucht. Ist Euch kein Abenteuer zugestoßen? Ich hätte eine rechte Freude daran gehabt. So bleibt mir nichts übrig, als mich zu freuen, daß Du Dich in Lübeck so wohl befunden hast, was ich hiemit tue.

Du wirst seit gestern abends keine besonderen Veränderungen in meinen Zuständen erwarten, doch kann ich Dir als neu berichten, daß ich eine Vorladung zum Polizeikommissariat für morgen habe, aber erschrick nicht, es handelt sich offenbar um meine Dozentur. Der Staat will wissen, ob ich nicht irgendeine Schlechtigkeit einzugestehen habe, die mich des edlen Titels unwürdig macht. Ich werde aber gar nichts verraten.

Ferner liegt vor mir ›Middlemarch‹ von der Eliot in vier Bänden, und meine Schnupftücher gehen zu Ende, mein Schnupfen aber nicht. Und jetzt will ich Mittagessen gehen, und wenn ich wiederkomme, Dir von der Geldmisere schreiben.

Ich muß Dir davon schreiben, weil zu meinem eigenen tiefgefühlten Bedauern dabei die Tatsache herauskommen wird, daß ich Dir nichts mitbringen kann, worauf ich mich so sehr gefreut habe, gewiß mehr als Du. Hör mal an. Ich lasse mir dreihundert Gulden von Paneth schicken und gedenke von Breuer die neunzig auszuleihen, die meine Schuld zu fünfzehnhundert vervollständigen. Nun verteilt sich das so: hundert Gulden bekommt Tischer, die erste Rate auf lange Zeit und einzige, zweihundert Gulden für den September in Wandsbek, Reise eingeschlossen, ist eher zuwenig als zuviel, wir haben voriges Jahr mehr gebraucht und doch in den letzten Tagen gespart. Es bleiben ja nur hundertsiebzig Gulden für den Aufenthalt. Nun sind die neunzig Gulden zu verteilen, davon der Buchhändler fünfundsiebzig Gulden, der Schuster sieben Gulden, der französische Lehrer fünf Gulden (ich habe beschlossen, nicht mehr als fünf Stunden noch zu nehmen), Koffer, Kiste, Einpacker, habe ich das mit dreißig Gulden zu teuer angesetzt? (Ein Hut, doch nein, das hat in Hamburg Zeit); meine Bedienerin fünf bis acht Gulden, kurz, ich sehe, wenn mir zwanzig Gulden davon übrigbleiben, wovon ich auch was zu Hause lassen muß, habe ich sehr viel Glück. Bleiben mir dreißig Gulden, so daß die Reise davon bestritten wird, so bringe ich zweihundert Gulden voll nach Wandsbek, und das möchte ich eigentlich. Denk, daß wir bis zum 1. Oktober gar nichts mehr bekommen. Also bleibt nichts für Dich, mein Schatz, mir fehlen die vierzig Gulden, die durch das Ausreißen des letzten Patienten in Verlust geraten sind. Daß ich Dir nichts mitbringen kann, sehe ich seit damals voraus, und es trägt nicht dazu bei, mich heiter zu stimmen, denn die Freude hätte ich mir gern gegönnt. Darf ich konstatieren, daß wenn ich am Dreißigsten fahre noch achtzehn Tage zu überstehen sind? Lange und schwere Zeit, und eine, die mich kaum wohler machen wird.

In Wandsbek wollen wir ja Französisch lernen, wirst Du einen ordentlichen und gar nicht teuren Lehrer finden? Das Leben hat doch so viele kleine Sorgen.

Es grüßt Dich herzlich
Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Paris, 19. Oktober 1885

Mein geliebter Schatz

Heute hätte mein Faulleben zu Ende sein können. Ich war in der Salpêtrière, die gut so groß ist und so viel Höfe hat wie unser Krankenhaus, um mich dem Assistenten vorzustellen und zu fragen, wann Charcot kommt. Der Assistent war aber nicht da, ist überhaupt schon durch einen neuen ersetzt, und Charcot war in den Krankensälen. Ich hätte hineingehen können, hatte aber meine Einführung zu Hause gelassen, und so muß ich morgen den Schritt tun, von dem wieder vieles abhängt. Um halb zehn Uhr ist Consultation externe, das heißt Ordination für ambulante Kranke. Vielleicht habe ich also morgen schon meinen Tag mit Arbeit besetzt. An der Ecole de Médecine beginnen die Vorlesungen erst am 5. November, wenn es mir bei Charcot gefällt, werde ich aber dort kaum was zu tun haben. Im ersten Stock der Ecole de Médecine befindet sich die ärztliche Bibliothek, in welcher viele Zeitschriften, auch deutsche und englische aufliegen, und in der ich wohl auch viele Stunden verbringen werde.

Eines der Charcotschen Bücher, das ich auf deutsch schon besitze, habe ich mir für vier Francs französisch gekauft, um bei der Übersetzung aus dem Deutschen ins Französische zu profitieren. Meine Faulheit brennt mich schon entsetzlich, ich habe die letzten Tage vor lauter Selbstvorwürfen keine ruhige Stunde gehabt. Meine Erwartungen auf irgendeinen anderen Profit als den subjektiven und wissenschaftlichen sind so niedrig gestellt, daß ich darin keine Enttäuschung erfahren kann.

Was ich gestern gemacht habe, weiß ich kaum mehr. Ich hatte Migräne vom Theaterabend am Siebzehnten. Du mußt wissen, sie spielen von acht bis zwölf Uhr nachts! in einer kaum zu übertreffenden Hitze. Ich war mit John, der niedrigste (das heißt höchste) Platz ist um ein Franc, wir waren um ein Franc fünfzig, quatrième loge de côté, wirklich schändliche Taubenlöcherlogen, seitlich auf der letzten Galerie, wo man zwar das Bewußtsein hat, allein zu sein, aber nicht viel mehr. Denk nur an unseren Hamburger Theaterabend. Es fiel mir auf, daß gar keine Damentoiletten ausgestellt waren, die bleiben wohl für die Oper aufgespart. Es gibt keine Musik, kein Orchester, das Zeichen für den Beginn des Stückes sind drei Schläge mit einem Hammer hinter dem Vorhang. Man gab ›Le Mariage forcé‹, ›Tartuffe‹ und ›Les Précieuses ridicules‹, alles von Molière, und obwohl ich die Weiber gar nicht verstanden habe, die Männer nur zur Hälfte, hatte ich doch großes Vergnügen am glänzenden Spiel. ›Tartuffe‹ kannte ich ja, und am letzten Stück war weniger der Dialog als das komische Spiel der beiden Coquelin bemerkenswert. Beim ›Tartuffe‹ wurde nach jeder längeren Rede des Dialogs geklatscht. Meine Migräne hat mich ein wenig abgeschreckt, das Theatergehen oft zu wiederholen, ich wollte es als französischen Unterricht benützen, sonst redet ja niemand mit mir, und mir geht es, glaub ich, alle Tage schlechter mit diesen elenden Lauten. Ich glaub mich nicht zu täuschen, wenn ich jetzt schon sage, daß ich es nie zu einem erträglichen ›Accent‹ bringen werde, aber wenigstens korrekte Worte bilden, muß zu erreichen sein.

Der Weg, dessen Beschreibung ich Dir schuldig geblieben bin, führte mich vor drei Tagen am Quai d'Orsay, wo die Ministerien sind, und am Invalidendom vorbei über die Seine in die Avenue des Champs-Elysées, die feinste Gegend von Paris, wie John sagen würde, in der nicht ein Laden ist, und lauter Equipagen fahren. Die nobeln Damen gehen dort mit einer Miene spazieren, als wollten sie die Existenz der Welt außer sich und ihren Männern leugnen oder doch gütigst übersehen, und die eine Seite der Avenue wird von einem langgestreckten Park gebildet, in dem die niedlichsten Kinder Kreisel peitschen, Ringelspiel fahren, einem Hanswurst zuschauen, oder selbst Wagen, die von Ziegenböcken gezogen werden, kutschieren. Auf den Bänken sitzen Ammen, die ihre Kinder tränken, und Kindsmädchen, zu denen sich die Kinder bei entstandenen Differenzen schreiend flüchten. Ich mußte an die arme Mitzi denken und wurde sehr, sehr wütend und voller revolutionärer Gedanken. Das geht so fort bis zur Place de la Concorde, inmitten deren ein wirklicher Obelisk aus Luxor steht. Denke Dir, ein echter Obelisk, mit den schönsten Vogelköpfen und sitzenden Männlein und anderen Hieroglyphen bekritzelt, seine guten dreitausend Jahre älter als das lumpige Volk um ihn herum, zum Ruhm eines Königs erbaut, dessen Namen jetzt nur wenige lesen können, und der vielleicht vergessen wäre, wenn ihn nicht dieser Stein bewahrt hätte. An die Place de la Concorde schließt sich der Tuileriengarten, den Du Dir ähnlich wie unseren Wiener Platz zwischen beiden Burgtoren vorstellen kannst (mit Volksgarten und den beiden Museen), und dann der Louvre. Ja richtig, gestern war ich im Musée du Louvre, wenigstens in der antiken Abteilung, die eine Unzahl von griechischen und römischen Statuen, Grabsteinen, Inschriften und Trümmern enthält. Einzelne wunderschöne Sachen, alte Götter Xmal vertreten, auch die berühmte Venus von Milo ohne Arme habe ich gesehen und ihr das landesübliche Kompliment gemacht. Ich habe mich erinnert, daß der alte Mendelssohn (der Vater in der ›Familie M.‹) aus Paris von ihr als von einer neuen Aufstellung berichtet, ohne dabei begeistert zu tun. Ich glaube, die Schönheit der Statue ist erst später entdeckt worden, und es ist viel Übereinkommen dabei. Für mich haben die Dinge mehr historischen als ästhetischen Wert. Am meisten angezogen haben mich die vielen Kaiserbüsten, einige von ausgezeichneter Charakteristik. Die meisten Kaiser sind vielfach vertreten und sehen sich gar nicht ähnlich. Es wird viel Fabriksarbeit und viel Manier dabei sein. Ich hatte gerade noch Zeit, den flüchtigsten Blick in die assyrischen und ägyptischen Zimmer zu tun, die ich noch einige Male besuchen muß. Da waren assyrische Könige – so groß wie die Bäume, die Löwen wie Schoßhunde im Arm halten, geflügelte Mannstiere mit schön frisierten Haaren, Keilinschriften so nett, als wären sie gestern gearbeitet, in Ägypten bemalte Basreliefs in brennenden Farben, ganze Königskolosse, wirkliche Sphinxe, eine Welt wie im Traum.

Heute habe ich denselben Bogenweg wie vor drei Tagen, aber in der entgegengesetzten Richtung der Seine gemacht, wo Dein Plan von vorgestern nicht ausgeführt ist. Ich kam mitten in das tollste Pariser Getöse hinein, bis ich mich zu den bekannten Boulevards und der Rue de Richelieu durcharbeitete. Auf der Place de la République sah ich eine riesige Statue der Republik mit Darstellungen aus den Jahren 1789, 1792, 1830, 1848 und 1870. Eine so unterbrochene Existenz hat die Arme gehabt. Gestern waren die Nachwahlen in Frankreich (und Paris), für die sich alle Republikaner verbündet hatten, denn bei den ersten Wahlen sind wegen der Spaltung zwischen Opportunisten und Radikalen fast lauter Monarchisten gewählt worden. Das Geschrei der Zeitungsverkäufer war heute betäubend, manche Zeitungen erschienen in vierter und fünfter Ausgabe und ich (habe selbst) zwei solche gekauft. Die Nachwahlen sind jetzt natürlich republikanisch.

Sind Dir meine Briefe aus Paris recht? Es kommt vor lauter Mitteilungen und Beschreibungen gar nicht mehr zu einem herzlichen Wort.

Jetzt sind es acht Tage, daß ich Dich nicht gesehen habe, und ich glaube noch immer jeden Tag, ich bekäme Dich heute zu Gesichte. Ich kann mir wieder gar nicht vorstellen, wie Du aussiehst! Ob ich nicht besser nach Berlin gegangen wäre? Jeden Samstag abends wäre ich abgereist und Sonntag bei Dir geblieben. Der große Gewinn der Wandsbeker Zeit, die körperliche Frische und geistige Beruhigung ist noch da, aber ich kann mich gar nicht freuen; ich bin zu verliebt und zu schwerfällig dazu.

Von kleinen Nachrichten die, daß der Kaffee hier überall köstlich ist, und daß die Kinder ebensolche Hemdblusen tragen, wie Eure aus San Francisco. Denke Dir, für drei Toiletteartikel (etwas Puder, etwas Teer und das Mundwasser), habe ich hier drei Francs fünfzig bezahlt! Da soll man sparen können.

Du schreibst nichts vom Zahngeschäft? Schreib mir doch alles. Dein letzter Brief war gar nicht unterzeichnet, er war aber doch von Dir, denn wer kann mir sonst so zärtlich schreiben?

Dein getreuer Sigmund

*

An Martha Bernays

Paris, Mittwoch, 4. November 1885

Mein geliebter Schatz

Die große Neuigkeit ist also, daß ich gestern bei der Consultation externe, zu der ich etwas spät kam (ich werde jetzt faul und heiter), unter den Zuhörern einen dünnen, blassen, mit wenig blonden Haaren versehenen Kopf bemerkte, der mir ein Erkennungszeichen gab, und der ohne Zweifel meinem Freunde in cerebro Darkschewitsch aus Moskau angehörte. Laß mich die Vorgeschichte unserer Bekanntschaft erzählen; als ich zu Meynert ins Laboratorium kam, um dort die Goldmethode zu suchen, arbeiteten dort ein Amerikaner, Mr. Barney Sachs, ein besonders liebenswürdiger und kluger Herr (es stellte sich später heraus, daß er ein Jude war), und mein Russe Darkschewitsch. Er fiel mir durch seine, den Ruthenen und Kleinrussen eigene Melancholie auf, und ich kam erst in nähere Beziehung zu ihm, als ich meine Methode gefunden hatte. Sachs übersetzte sie mir ins Englische für den ›Brain‹ oder korrigierte wenigstens meine Übersetzung, und D. erbot sich, dieselbe für eine russische Zeitung zu übersetzen, was er auch getan hat. Er eröffnete sich mir allmählich, und (ich) lernte einen stillen und tiefen Fanatiker in ihm kennen. Er war allen Vergnügungen abgeneigt, und seine Seele war ausgefüllt vom Vaterland, der Religion und der Hirnanatomie. Die erste Hirnanatomie in russischer Sprache zu schreiben, war sein Ideal. Mit Meynert unzufrieden, ging er dann nach Leipzig zu meinem Konkurrenten Flechsig, von wo aus er mir einmal schrieb. Meinen Brief hat er dann nicht beantwortet. Seit März 84 – zu der Zeit reiste er ab – habe ich einige hübsche hirnanatomische Entdeckungen von ihm gelesen. Jetzt ist er also da, um hier bei Charcot sein letztes Jahr in der Fremde zu verbringen. Er hat Versprechungen von der Regierung auf eine Professur, wenn er zurückkommt. Nach der Consultation kam er auf mich zu und gab mir seine Adresse, ich ging gleich mit ihm und fand ihn unverändert und in seiner stillen Art sehr herzlich. Er wußte noch, daß ich verlobt bin und erkundigte sich gleich nach dem Befinden meiner Braut und drückte die Hoffnung aus, daß ich sie jetzt nicht mehr lang warten lassen werde. Auch meinen Vater hatte er einmal in Wien gesehen und fragte, wie es ihm gehe. Das gefiel mir sehr, und ich holte ihn dann am Abend ab, wo wir zusammen aßen, dann auf seinem Zimmer Tee tranken, und ich mich aus meiner Isolierung befreit fühlte. In einer Arbeit, die er mir gab, hat er drucken lassen, daß meine Methode ihm weitaus die besten Bilder für seine Untersuchung gab, und seine Zeichnungen sind auch nach solchen Präparaten gemacht. Er erzählte mir, was für ein Aufsehen meine Methode in Leipzig gemacht, was mir sehr erwünscht war. Er schilderte mir Flechsig als einen unbedeutenden Menschen, der seinen eigenen großen Fund gar nicht zu verwerten verstünde. Als ich über seine Melancholie scherzte, kam heraus, daß er gerade so verliebt sei wie ich und geradeso auf Briefe warte, und das brachte uns ein Stück näher. Da er sonst keinen Umgang und kein Vergnügen sucht, ist er auch der rechte Verkehr für mich. Wir haben beschlossen, Sonntag nach Versailles zu fahren. Es läßt mich natürlich gar nicht gleichgültig, mich von der Wirkung meiner kleinen wissenschaftlichen Leistungen auf andere zu überzeugen. Sein Buch ist fortgeschritten, er arbeitet im großen Stil, mit russischem Fleiß und großer Nüchternheit. Ich bin sehr mit dem Zusammentreffen zufrieden.

Es grüßt und küßt Dich herzlich

Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Paris, Freitag, 18. Dezember 1885

Mein teures Liebchen

Nur noch ein kurzer Brief, der vielleicht erst gleichzeitig mit mir ankommt. Ich bin glücklich, daß Du Deinem Widerstand gegen mein Kommen entsagt hast. Erinnerst Du Dich noch an das erste Kompliment, das ich Dir, der Ahnungslosen, vor mehr als dreieinhalb Jahren gemacht habe? Es war, daß Dir, wie der Prinzessin im Märchen Rosen und Perlen von den Lippen fallen und daß man nur zweifeln müßte, ob Güte oder Verstand bei Dir die Oberhand haben. Von jenem Wort her hast Du den Namen Prinzeßchen erhalten. Ich kann das Kompliment, dessen Berechtigung ich damals doch nur ahnen konnte, jetzt, Dir so vertraut geworden, nur aufrecht erhalten, und hoffe, es wird immer so zwischen uns bleiben.

Ich reise Sonntag früh halb acht und bin Montag sechs Uhr achtzehn in Hamburg. Es hat sich an den ursprünglichen Dispositionen nichts geändert. Ich nehme eine Reisetasche von Dr. Ricchetti, wahrscheinlich noch ein Plaid von ihnen, die kleine englische Handtasche, weiter nichts. Kiste und Koffer sind gepackt und kommen ebenfalls zu ihnen.

Ich bringe nichts mit als etwas Süßigkeiten für die Kinder und winzige Kleinigkeiten für Euch. In Köln kaufe ich noch eine Flasche Kölnerwasser für Mama...

Mit Charcot hatte ich gestern noch eine Unterredung, in der er sehr freundlich allen Wünschen des Buchhändlers nachgegeben hat. Die Sache ist jetzt sicher und geebnet. Ich habe dem Buchhändler geantwortet und erwarte sein Honorarangebot nach Wandsbek.

Minna sagst Du von mir, daß wenn wir einen Tisch von Freunden haben, immer ein Platz für sie gedeckt ist.

Ich schließe Liebchen, es ist zwölf Uhr, der Russe war bei mir, und ich habe ihm mein Opus vorgelesen. Liebe und Wissenschaft mögen nie verlassen

Deinen Sigmund


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