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1900

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An Wilhelm Fliess

Wien IX, Berggasse 19, 12. Juni 1900

Teurer Wilhelm

Wir haben Familienbesuch gehabt. Am Tag vor Pfingsten kam mein ältester Bruder Emanuel mit seinem jüngsten Sohn Sam, auch schon über fünfunddreißig Jahre alt, und blieb bis Mittwoch abends. Er brachte eine große Erfrischung mit sich, denn er ist ein prächtiger, trotz seiner achtundsechzig bis neunundsechzig Jahre frischer und geistig rastloser Mensch, der mir immer viel bedeutet hat. Er reiste dann nach Berlin, wo jetzt das Hauptquartier der Familie ist...

Das Leben auf Bellevue gestaltet sich sonst für alle sehr angenehm. Die Abende und Morgen sind entzückend; nach Flieder und Goldregen duften jetzt Akazien und Jasmin, die Heckenrosen blühen auf, und zwar geschieht das alles, wie ich auch sehe, plötzlich.

Glaubst Du eigentlich, daß an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird?:

Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem
Dr. Sigm. Freud
das Geheimnis des Traumes.

Die Aussichten sind bis jetzt hiefür gering. Wenn ich aber in den neueren psychologischen Büchern (Mach, ›Analyse der Empfindungen‹, 2. Auflage, Kroell, ›Aufbau der Seele‹ und dergleichen) lese, was sie über den Traum zu sagen wissen, so freue ich mich doch wie der Zwerg im Märchen, »daß die Prinzessin es nicht weiß«.

Ein neuer Fall ist nicht gekommen, oder doch, das heißt, für diesen neuesten habe ich einen im Mai gekommenen neuen verloren, so daß ich auf demselben Niveau bin. Das neueste aber ist schön, ein dreizehnjähriges Mädchen, bei dem ich mit Dampf heilen soll und die mir auch einmal das oberflächlich zeigt, was ich sonst unter überlagernden Schichten freizulegen bemüht bin. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß es genau das Nämliche ist. Wir werden von dem Kind im August sprechen, wenn es mir nicht vorzeitig entrissen wird. Denn im August sehe ich Dich bestimmt, falls ich nicht um fünfzehnhundert Kronen, die ich am 1. Juli erwarte, enttäuscht werde. Vielmehr, ich bin imstande, trotzdem nach Berlin zu kommen und ... mir noch in den Bergen oder in Italien etwas Kühlung und neue Spannkraft für 1901 zu holen. Bei der schlechten Laune kommt so wenig etwas heraus wie beim Sparen.

Von Conrads Unfall hat mich die Kunde erreicht, auch vom glücklichen Ablauf. Nun habe ich wieder ein Recht, von Dir und den Deinen Neues zu hören.

Sei mir mit ihnen herzlichst gegrüßt!

Dein Sigm.


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