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1883

*

An Martha Bernays

Wien, 23. August 1883

Prinzeßchen Schatz

Eben von meiner Landpraxis zurückgekehrt, finde ich Ihren süßen Brief mit der frohen Nachricht vor, daß Sie sich wohl fühlen und all den lieben Sachen, die Du täglich zu schreiben nicht müde wirst. Ich habe eben heute ein Gespräch mit einem lieben Kollegen im Spital Dr. Widder geführt, der mir auseinandergesetzt, es sei ein großer Unsinn heiraten zu wollen, wenn man kein Geld habe; es werde acht Jahre brauchen, bis ich zu was komme, und das alles nicht aus Weltklugheit und so weiter, sondern in seines Herzens Einfalt, wie er's glaubt. Ich habe meine Sache ordentlich vertreten, ihm gesagt, daß er eben mein Mädchen nicht kenne, das unbegrenzt lange auf mich warte, daß ich sie auch, wenn sie dreißig Jahre alt geworden, heiraten werde – eine Matrone, warf er dazwischen – und daß ich's zwingen würde durch Arbeit und Wegreisen und daß der Mensch wagen müsse, daß, was ich zu gewinnen habe alles Wagen wert ist. Er gab klein bei, ich könnte ja schon in zwei Jahren zweitausend Gulden haben, zeigte mir einen Brief von Dr. Kohn in Brunn, der im Laufe eines Jahres fünf- bis sechstausend Gulden zu erwerben hofft, und dergleichen. Es war ihm nicht ganz ernst mit seiner Trauermalerei. Das Schönste habe ich ihm gar nicht gesagt, daß es so unvergleichlich selig ist, geliebt zu werden, auch wenn man sich noch nicht völlig und förmlich angehört und noch dazu wenn man das Glück hat, sich ein Prinzeßchen geraubt zu haben! Mut, mein Schatz, Du wirst viel jünger mein Weibchen sein und sollst Dich nicht schämen dürfen, daß Du so lange gewartet hast. Eine ganz kleine frohe Nachricht laß ich Dich heute wissen; ich müßte mich sehr, sehr irren, wenn es nicht mit einer ›neuesten Methode ‹ geht, ich schrieb Dir ja, ich setze meine Hoffnung auf das Sonnenlicht, das scheint wirklich zu helfen. Laß (es) Dich nicht betrüben, wenn ich wieder einmal schreibe, es geht nicht; zum Finden gehört Geduld und Zeit und Glück, aber so fängt's immer an, wenn was herauskommt. Darum Mut, Prinzeßchen.

Meinem Patienten geht es nicht schlechter; allerlei Kleinigkeiten treibe ich von ihm weg, bisher ist nichts vorgekommen, dem ich nicht gewachsen war, und ich höre oft, wenn ich eine Anordnung treffe, daß Breuer dieselbe in Aussicht gestellt hat.

Die Frau, von der Du hören willst, hat so eine ernste Anmut wie Du, mein Engel, nicht ganz so lieb; ich schätze sie, weil sie ausgezeichnet beobachtet, mit solcher Geduld pflegt und solcher Kunst ihn aufheitert.

Ich wollte wirklich, es würde besser; Breuer meinte: nein, und er fürchte sich vor den nächsten sechs Jahren langsamer Verschlimmerung.

Also kein Briefpapier mehr, Marthchen, von meinem Honorar im September sollst Du ein Stück haben und dafür Briefpapier von derselben Art bestellen.

Nein, nein, lieber es für Dich verwenden, Du hast schon lange gar kein Geld gehabt, und jetzt kann ich Dir nicht mehr als einige kleine Mark schicken, die ich aber heute nicht, erst Samstag einwechseln kann, weil ich morgen Dienst habe.

Jetzt wollen wir Abend machen, nachts schreibe ich der Geliebten weiter.

Verzeih, Teuerste, wenn ich so oft anders schreibe, als Du zumal nach Deinen zärtlichen Briefen erwarten kannst, aber ich denke in so ruhigem Glück an Dich, daß es mir leichter wird, von fremden Sachen als von unseren Personen zu reden.

Und dann ist's wie eine Art von Verstellung, wenn ich Dir nicht von dem schreibe, was mich gerade beschäftigt.

Ich habe nämlich eben zwei Stunden lang – es ist zwölf Uhr – den ›Don Quijote‹ gelesen und so herrlich darin geschwelgt.

Die Novellen von der unziemlichen Neugier von Cardenio, und Dorothea, deren Schicksale sich mit Don Quijotes Abenteuern verflechten, von dem Gefangenen, in dessen Erzählung ein Stück von Cervantes' Lebensgeschichte enthalten ist, sind mit solcher Feinheit, Buntheit und Klugheit geschrieben, die ganze Gesellschaft in der verzauberten Schenke so anmutig, daß ich mich gar nicht erinnern kann, je etwas ohne Übertreibung Gefälligeres gelesen zu haben.

Die vielen glücklichen Paare, die Damen, die sich alle gleich schwesterlich lieben und die arme Mohrin so zärtlich empfangen, der Ritter, der die Nacht Wache hält, damit kein böser Riese einbricht, und dabei ans Fenster angebunden wird; es geht das alles nicht tief, aber es ist die vollkommenste heitere Grazie, die man sich denken kann.

Don Quijote ist dort auch in der rechten Beleuchtung nicht mehr durch so grobe Mittel wie Prügel und körperliche Übligkeiten lächerlich gemacht, sondern durch die Überlegenheit von Leuten, die mitten im wirklichen Leben stehen.

Dabei tragisch in seiner Ohnmacht, während sich alle Knoten lösen.

Sancho ist so köstlich in seinen gemeinen Motiven, in seinem Taumeln aus der Traumwelt in die Wirklichkeit.

Dazu die Bilder von Doré, sie sind nur großartig, wenn der Zeichner eine phantastische Seite an seinem Gegenstand erfaßt; so greift er ein paar Worte der Wirtin auf, um darzustellen, wie ein jämmerlich kleiner Ritter mit einem Schwerthieb sechs Riesen durchgehauen hat, die Untergestelle stehen alle noch, während die Oberkörper sich im Staube wälzen.

Das Bild ist von einer prachtvollen Lächerlichkeit und hilft trefflich mit, den Unsinn der Ritterromantik zu vernichten.

Auch die orientalischen Szenen gelingen ihm, das Seltsame und Großartige der Architektonik, auch die Schroffheit der Natur im schwarzen Gebirge, endlich ist er gut, wo ihm der Text die Karikatur an die Hand gibt, so wie die Gespenster den Ritter bezaubern und in den Käfig sperren.

Es ist rein zum Totlachen.

Dagegen fehlt die feine Ironie in den andern Szenen, in denen sich eigentlich der Charakter des Ritters zeigt.

Er ist dort meistens schwer karikiert und bleibt unendlich weit hinter der Dichtung zurück.

Ich kann mir aber vorstellen, wie prächtig die Bilder zum rasenden Roland sein müssen, ein Stoff, der ganz für Doré geschaffen ist, und selbst einiges aus der Bibel, nämlich das Fabelhafte und Heroische.

Nun teures schönstes Liebchen, laß diese Bemerkungen so nebenhin laufen, halte mich nicht für undankbar, daß ich zuwenig oder zu kühl an Dich denken sollte.

Je inniger Deine Briefchen werden, desto mehr verstumme ich; es ist, wenn ich sie lese, wie ein fortwährendes Zustimmen in mir; ja, so habe ich mir mein Marthchen gewollt, so ist sie jetzt.

Mag sie nur so bleiben und recht gesund dazu.

Was hast Du denn zu Deinem Geburtstag bekommen?

Und warum schreibt Minna, Du hättest dies Jahr drei gehabt?

Von mir bist Du heuer armselig bedacht worden, wirklich.

Warte nur, wenn's mir gut geht, halte ich Deinen Geburtstag besser.

Wir haben ja so viele Tage zu feiern, an soviel Tagen hab' ich Dich gesehen – und war oft nicht dankbar dafür – und die Erinnerung, Dich gesehen zu haben, reicht hin, einen Gedenktag zu machen.

Gute Nacht, Prinzeßchen, erhalte Dich wohl und habe lieb

Deinen Sigmund

Minna herzlichen Dank für ihren lieben klugen Brief, der nur eine weniger geistvolle Antwort zuläßt, die aber nicht lange auf sich warten lassen soll. Sie soll einmal Schönberg nicht schreiben, damit er mir auch antworten kann.

Bin ich so schläfrig oder habe ich heute so schlecht geschrieben? Ich kann's ja kaum wieder lesen. Ich lasse auch oft Worte aus, nicht wahr? Noch einen herzlichen Gruß, Marthchen.

*

An Martha Bernays

Wien, 20. August 1883, Mittwochabends

Meine geliebte Martha

Dein reizendes kluges Briefchen und die treffliche Beschreibung des Wandsbeker Marktes haben mich sehr erfreut und kommen zu meiner anhaltenden Besserung – wenn nicht noch Katarrh wäre, könnte ich sagen Wohlbefinden – so recht passend. Du denkst ja fast wie Wagner in ›Faust‹ in dem schönen Spaziergang, und ich sollte mit der überlegenen Milde des Dr. Faust antworten »Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.« Aber nein, Geliebte, Du hast ganz recht, es ist nicht schön und erhebend anzuschauen, wie sich das Volk vergnügt, wir wenigstens haben nicht mehr Geschmack dafür und unsere geträumten oder schon genossenen Vergnügungen, ein Plauderstündchen mit der Geliebten, die sich an uns schmiegt, und Lektüre, die was wir denken und empfinden mit greifbarer Deutlichkeit vor uns hinstellt, das Bewußtsein, den Tag über was geleistet zu haben, die Erleichterung bei der Aufklärung eines Problems, das ist alles so verschieden davon, daß es Affektation wäre, sich an solchem Schauspiel, wie Du es beschreibst, innig zu erfreuen.

Aber nun verzeih, wenn ich mich selber zitiere, es fällt mir ein, was ich bei der Carmenvorstellung gedacht habe: Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. Wir empfinden auch tiefer und dürfen uns darum nur wenig zumuten; warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrinken Lust schafft; warum verlieben wir uns (nicht) jeden Monat aufs neue? Weil bei jeder Trennung ein Stück unseres Herzens abgerissen werden würde, warum machen wir nicht jeden zum Freund? Weil uns sein Verlust oder sein Unglück bitter betreffen würde. So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen, und in der höchsten Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den Banden von Tod und Leben aneinander ketten, die jahrelang entbehren und sich sehnen, um einander nicht untreu zu werden, die gewiß einen schweren Schicksalsschlag, der uns des Teuersten beraubt, nicht überstehen würden. Menschen, die wie jene Asra nur einmal lieben können. Unsere ganze Lebensführung hat zur Voraussetzung, daß wir vor dem groben Elend geschützt seien, daß uns die Möglichkeit offen stehe, uns immer mehr von den gesellschaftlichen Übeln frei zu erhalten. Die Armen, das Volk, sie könnten nicht bestehen ohne ihre dicke Haut und ihren leichten Sinn; wozu sollten sie Neigungen so intensiv nehmen, wenn sich alles Unglück, das die Natur und die Gesellschaft im Vorrat hat, gegen ihre Lieben richtet, wozu das augenblickliche Vergnügen verschmähen, wenn sie auf kein anderes warten können? Die Armen sind zu ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich tun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit, denke ich immer, das ist ihre Abfindung dafür, daß alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Übelstände der sozialen Einrichtungen sie so schutzlos treffen. Ich will diese Gedanken nicht weiter verfolgen, aber man könnte darlegen, wie ›das Volk‹ ganz anders urteilt, glaubt, hofft und arbeitet als wir. Es gibt eine Psychologie des gemeinen Mannes, die von der unserigen ziemlich unterschieden ist. Sie haben auch mehr Gemeingefühl als wir, es ist nur in ihnen lebhaft, daß sie einer das Leben des andern fortsetzen, während jedem von uns mit seinem Tod die Welt erlischt.

Mein geliebtes Mädchen, wenn Dir solches Geplauder nicht gefällt, so verbitt es Dir nur. Du kennst Deinen ganzen Einfluß auf mich nicht und darfst nicht aus der Art, wie ich in einigen Dingen, die mit den Grundbedingungen und den Erlebnissen unseres Bündnisses zusammenhängen, schroff bin, aufs andere schließen. Ich bin ganz gefaßt, daß mich Prinzeßchen ganz bevormunden wird. Von der Geliebten läßt man sich gerne beherrschen; wären wir nur schon so weit, Marthchen.

Das Mädchen, an dessen Schicksal ich solchen Anteil genommen, hat nach wenigen Tagen das Ergreifende für mich eingebüßt. Es waren zuviel Komplikationen dabei, denen in unserem Verhältnis gar nichts analog war, und zuviel Verschulden auf ihrer Seite. Ganz stumpft man sich wohl als Arzt nicht gegen das menschliche Elend ab, soll es auch nicht, man wird aber weniger empfindlich, wenn man sein eigenes Glück im Hause hat...

Mit Pfungen habe ich beständig sachliche Reibungen, ich bin so weit, daß ich ihm vor Meynert widerspreche. In allen Dingen, über die von Meynert Entscheidungen erfließen, behalte ich natürlich recht, denn er steckt voller Verschrobenheiten und Wahnideen, aber ich muß mir doch sagen, daß ich einen tyrannischen Zug in meinem Wesen habe, daß es mir furchtbar schwerfällt, mich unterzuordnen. Du weißt es gewiß schon, aber wenn Du mich trotzdem lieb hast, so kann ich auch damit glücklich werden.

Jede freie Tagesstunde verwende ich auf die Arbeit, mit deren Beginn ich nicht unzufrieden bin, ich glaube nicht, Marthchen, daß ich gegen Erfolg und Mißerfolg so exorbitant reagiere, wie Du schreibst. Mit meiner Methode bin ich noch nicht im reinen, sie geht, aber ich habe sie nicht immer (in) der Hand, sie leistet nicht immer dasselbe.

Gute Nacht, meine süße Geliebte, Du mein teures Prinzeßchen. Deine Briefe erfrischen mich so ungemein.

Behalt weiter lieb

Deinen Sigmund

*

An Martha Bernays

Wien, Sonntag, 16. September 1883

Mein süßes Weibchen

Ich will auch um etwas bitten: daß Du als Sühne für manchen schlechten Gedanken und manches Urteil, das Dir nicht gerecht geworden ist, die beiden Dinge, die Du Dir gewünscht hast, von mir annimmst. Das kleine Lexikon will ich besorgen, und was die Jacke kostet, mußt Du mir schreiben. Hab ich's jetzt nicht, so will ich mir's für später vorbehalten, für den nächsten Monat. Versag Dir doch, Du Teure, nicht jeden kleinen Luxus, ich tu's ja auch nicht, und Du bist so jung und kannst Dich so herzlich freuen und ich weiß, alle Leute, die Dich sehen, möchten Dir was zuliebe tun, warum soll ich's nicht dürfen? Dein Briefchen trifft mich wie eine Engelsstimme, erhebt mich über alle törichten Sorgen um Dich und über meinen tief erschütterten Gemütszustand. Ich wollte es Dich nicht am Monatstage wissen lassen, heute kann ich es Dir gar nicht mehr verbergen, ich komme eben vom Leichenbegängnisse meines Freundes Nathan Weiß.

Am Dreizehnten um zwei Uhr nachmittags hat er sich in einem Bad auf der Landstraße erhängt. Er war noch keinen Monat verheiratet, seit zehn Tagen von der Hochzeitsreise zurück. Er ließ zwei Briefe zurück, in dem einen bat er die Polizei, seine Eltern schonend zu verständigen und nichts in die Zeitungen kommen zu lassen, der andere war an seine Frau gerichtet. Am Donnerstag abends war es schon im Spital bekannt, ein Kollege eilte in die Wohnung, um ihn zur Beschämung des Gerüchtes ins Spital zu bringen; sie war gesperrt. Sein Bruder, erster Secundararzt im Spital, bestätigte die Nachricht. Freitag früh kam Lustgarten zu mir, als ich noch zu Bette war, bald darauf zwei andere Kollegen, alle mit der gleichen Nachricht, aber wir glaubten es nicht, es war zu schwer, sich den Menschen tot und stille vorzustellen, denn soviel Unruhe, soviel Lebensfreudigkeit hatten wir in keinem Menschen vereint gesehen. Noch jetzt, nachdem ich die Erdschollen auf seinen Sarg habe kollern hören, kann ich mich an den Gedanken nicht gewöhnen.

Und warum? Er war auf dem Weg, alles zu erreichen, wonach er gestrebt hatte, er war Dozent, genoß einen ansehnlichen Ruf in seinem Fache; seitdem er eine Abteilung im Krankenhaus leitete, war ihm eine große Praxis sicher, er hatte eben eine Heirat durchgesetzt – aber das war es eben, die Einzelheiten, die ihn in den Tod getrieben haben, sind uns unbekannt, aber daß sie an seine Heirat anknüpften, daran ist kein Zweifel. Ich weiß nicht mehr, wieviel ich Dir von der Vorgeschichte dieser Heirat erzählt habe, ich glaube, ich muß alles hier wiederholen, was ich von ihm weiß, denn er ist nicht etwa an einem Zufall gestorben, sein Wesen hat sich vielmehr erfüllt, seine guten und bösen Eigenschaften sich vereinigt, ihn zum Scheitern zu bringen, sein Leben war wie von einem Charakterdichter komponiert, und sein Tod wie die notwendige Katastrophe.

Sein Vater ist Lektor an der hiesigen Religionsschule, ein sehr begabter Gelehrter, der, wenn er das Chinesische anstatt des Rabbinischen zu seinem Studium hätte, gewiß Universitätsprofessor wäre, aber dabei ein ganz harter, schlechter, roher Mensch. Mein Vater ist ein Greuel, pflegte Nathan zu sagen. Die Mutter ist eine brave, einfältige, gutmütige Frau, die dem Manne ohne innerliches Zusammenleben viele Kinder brachte und alles Elend mit ihm teilte. Es gab keine Liebe in dem Hause und bittere Armut, keine Erziehung und viele Anforderungen. Der maßlosen Eitelkeit des Vaters zu genügen, mußten alle Söhne studieren, sie brachten es meist nicht weit, verlumpten sich, einer erschoß sich vor einem halben Jahre, weil er keinen andern Ausweg wußte. Nur Nathan und ein Bruder, jetzt im Spital, vollendeten. Nathan war der begabteste, er hatte das volle Talent des Vaters, aber er war doch eine gutmütige Natur. Man hielt ihn nicht gar oft dafür, es hieß immer, er sei ein schlechter Kerl, und manche seiner Handlungen stimmten gut dazu.

Aber das kam daher, daß das Treibende in ihm die Selbstliebe war, fast möchte ich sagen, die Selbstanbetung. Er war auch ausgezeichnet ausgerüstet, sich durch die Welt zu bringen und solange es ihm schlecht ging, war er nie wählerisch, durch welche Mittel. Er war nicht imstande, Kritik an sich zu üben, übersah, vergaß und vergab alles, was er schlecht gemacht hatte und was ihn schlecht machen konnte, alles, was seinem Selbstgefühl wohltat, pflegte er und hielt es den andern vor. Breuer sagte mit Recht von ihm, er erinnere ihn an eine kleine Geschichte, wie der alte Zwickauer seinen Sohn fragt: Mein Sohn, was wüllst du wörden? Und der Sohn antwortet: Vütriolöl, dönn das frißt süch überall durch. Weiß war wirklich Vitriol, und er hat sich wirklich durchgefressen. Dem riesenhaften Selbstgefühl entsprach eine Energie ungewöhnlicher Art, ein Vermögen, sich einzubohren und nicht abzulassen. Doch dankt er eigentlich seine Erfolge nicht dieser, ich habe ihn immer von einem andern Punkt aus verstanden. Für das Primäre seines Wesens habe ich die großartige Lebensfreudigkeit gehalten.

Er hatte eine Freude an seinem Sprechen, an seinem Denken, ja selbst an den geringfügigen, indifferenten Handlungen des gewöhnlichen Lebens und war überzeugt, daß niemand die so gut machen könne wie er. In allem, was er sprach und dachte, war eine Plastik, eine Wärme, ein Gefühl der Wichtigkeit, das über den Mangel an tieferem Gehalt hinwegtäuschen mußte. Denn seine Begabung war nicht bedeutend, er wußte wenig, drang nie tief ein und von den Grundbedingungen der Wissenschaftlichkeit: Kritik und Gründlichkeit fehlte ihm alles. Seine Leistungen sind dementsprechend von mittelmäßigem Wert, ohne originellen Inhalt. Alles wirkte sein Temperament, seine Persönlichkeit, die Lebhaftigkeit und Klarheit seiner Vorstellungen. Es ging damit ähnlich wie mit den beiden Wanderern in dem bekannten Gedichtchen von Anton Auersperg: Wiesen, Wald, Sonnenschein sagen beide, aber wie anders sagen sie es. Wenn Weiß eine bekannte Tatsache erzählte, machte sie den Eindruck einer großen Entdeckung, die er neu gemacht, wenn er einen in seinem seltsam witzigen Kauderwelsch als »einen blamierten Mitteleuropäer« anfuhr, hielt man sich wirklich für blamiert, man konnte sich so wenig des Glaubens an seine Beteuerungen erwehren als des Lachens, wenn jemand lacht und des Gähnens, wenn jemand gähnt. Einen großen Teil der guten Meinung, die man von seiner Tüchtigkeit hatte, hat er direkt den Leuten eingeredet, denn er war immer da, packte jeden an, sprach nur von sich und von sich nur als dem besten, tüchtigsten Kenner des Gegenstandes, mit dem er sich gerade beschäftigte. Ein positives Moment in seiner Begabung war noch die Raschheit, mit der er dachte, und der Witz, mit dem er kombinierte. Man kann geradezu sagen, sein Selbstgefühl war bloß die physiologische Folge der Lebhaftigkeit, Raschheit und Klarheit seiner Vorstellungen. Er war immer so, wie wir in einem Champagnerrausch wären, daß wir uns leicht, kraftvoll glücklich fühlen und machte auch mit seiner unaufhörlichen Bewegungsflucht den Eindruck des ›Tollen‹, Maniakalischen. Es ist uns allen darum so schwer, ihn tot zu glauben, niemand hat ihn auch nur einen Moment lang ruhig gesehen.

Er war immer konzentriert, immer mit demselben beschäftigt, wurde darum so einseitig, daß es ihm nicht nur an Interesse für alle Wissenschaft außerhalb gewisser Partien der Medizin, sondern auch an aller Genußfähigkeit für menschliche und natürliche Dinge fehlte. Er ist durch vierzehn Jahre nicht aus dem Krankenhaus herausgekommen, wirbelte wie ein rasch gehender Automat aus dem Haus ins Gasthaus, ins Kaffeehaus und zurück. Seine Erholung war das Kartenspiel oder Schach, worin er Meister war, und trotz der Aufregungen, in die er dabei verfiel, und wo er sich oft sehr gemein zeigte, war es ein Vergnügen, ähnlich wie in einer Theatervorstellung, ihn beim Spiel zu sehen und seine originellen, beißenden Witze anzuhören. Er war auch, als es ihm gut ging, nicht zu bewegen, sich ein Stückchen der schönen Welt anzusehen, als er von der Hochzeitsreise zurückkam, sagte er mir: Ich bin keiner von denen, die stundenlang in einen See schauen und sich dabei begeistern können. Er hatte keinen Verkehr, bei dem er sich irgendwelchen Zwang auferlegen mußte, sah sich nichts an, wußte nicht, was in der Welt vorging. Er war dementsprechend auch manierlos und zynisch, und als Du und Minna ihn sahen und er euch auffallend genug schien, war er in seiner zahmsten und anständigsten Zeit. Einmal, als er noch Student war, verliebte er sich in ein Mädchen, das ihn nicht mochte und einen Mann nahm, der alles besitzt, was ihm abging. Seither hat keine Neigung sein Wesen gemildert.

Seine Erfolge erkaufte er zum Teil auf Kosten seines guten Rufes und hatte wenig Freunde, obwohl man längst nicht mehr ins Gericht mit ihm ging, sondern ihn schalten ließ wie ein Phänomen, das den gewöhnlichen Gesetzen nicht unterworfen ist. Er war der Freundschaft nicht fähig, konnte einen jahrelang sprechen, ohne ihn einmal zu fragen, was er mache, aber er war sehr mitteilsam und, wen er am öftesten sah, dem sagte er am meisten. Es schien, als ob er bei offenen Türen leben würde, erst nach seinem Tod haben wir erfahren, daß er viel verheimlichte. Für mich hatte er mehr auf Respekt basierte Freundschaft als für viele andere und hatte mich liebgewonnen. Er sprach davon, mich zu seinem Erben zu machen, wenn er sterbe, mir unbegrenzt zu Diensten zu stehen. Es fiel das in die Zeit, als sein Ehrgeiz sich durch seine natürliche Gutmütigkeit beeinflußt, auf edlere Ziele richtete. Er tat nichts Gemeines mehr, als er es nicht mehr notwendig hatte, seine wirklichen Leistungen milderten den Anschein seiner Überhebung, die Anerkennung, die seinen Fähigkeiten wurde, machte es ihm überflüssig, sie erkaufen zu wollen. Nun wollte er auch (als) ein edler uneigennütziger Mensch erscheinen, für seinen Charakter dasselbe erreichen, was er für seine Tüchtigkeit erreicht hatte. Darum sein Edelmut gegen mich, darum die Reihe von Vorsätzen, die ihn in den Tod trieben. Vielleicht beeinflußt durch das Liebesglück um ihn her, suchte er sich's auch zu schaffen, suchte und suchte und ließ sich keine Zeit und Gelegenheit, ihm zu begegnen. Wo ein Kollege eine Braut hatte, fragte er nach der Schwester, kam immer zu spät. Er ließ sich in reiche Häuser bringen, aber ob er dort nicht die Rolle gespielt, die er anstrebte, ob er zufällig nichts fand, er erklärte, daß er ein armes Mädchen heiraten wolle. Er wollte ein Mädchen beglücken und der Welt imponieren. Auf seiner Liste standen drei Objekte, Helene Fein, die junge Hammerschlag und – unsere Rosa, die er vielleicht einmal gesehen hatte. (Ich erfuhr das erst gestern.) Er machte sich an die Eroberung der ersten, vielleicht weil er doch etwas Wohlstand mitnehmen wollte. Ich erinnere mich noch deutlich des Tages vor drei Jahren, als er mir sagte: »Heute war eine Frau bei mir, um sich behandeln zu lassen, mit ihren zwei Töchtern. So reizende Leute, wenn ich Geld hätte und nicht krank wäre (damals hielt er sich dafür), die ältere würde ich gleich heiraten.« Es war seine spätere Frau, die er im Gedächtnis behielt, ohne im Verkehr mit ihr zu bleiben. Er stellte sich den Verwandten vor und warb um das Mädchen. Den Verwandten war er gleich recht, das Mädchen widerstand lange. Er scheint eine Brunhilde getroffen zu haben, ein sprödes, wenig hingebendes, sehr anspruchsvolles Wesen. Sie galt für klug und besonnen; ich sah zwei Briefe von ihr, die mir den Eindruck von gesunder nüchterner Solidität machten, wenig weibliche Verfeinerung in Schrift und Ausdruck. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, hatte viele gute Partien ausgeschlagen, schien kein Bedürfnis nach einer Liebe zu haben. Er bewarb sich nun stürmisch, traf nichts als Kritik und Abweisung. Er sei arrogant, manierlos, habe tausend Fehler, die er ablegen müsse, das ließ er sich alles sagen, versprach sich zu bessern, wurde milde, enthielt sich des Schimpfens, man konnte ihn in dem Zustande mit Mädchen zusammenbringen. Endlich gab sie nach, glaubte, ihn zu lieben, war vielleicht im Beginn einer Neigung, sie konnte es ja nicht wissen, weiß doch kein Mädchen, das zum ersten Male liebt, ob das die wahre Liebe sei. Er füllte die Welt mit der Nachricht seines Glücks, nach der Mitgift befragt, antwortete er immer, darum habe er sich nicht gekümmert. Allmählich wurde er mißlaunig und endlich mitteilsam. Es habe Zwistigkeiten zwischen ihnen gegeben – den Anlaß übersprang er –, und das Mädchen sei jetzt melancholisch, weine, spreche nicht, habe keine Freude an seinem Verkehr. Es kam auch heraus, daß alle Schwestern hysterisch wären. Ich suchte ihn zu trösten, das Mädchen, das offenbar feinfühlig und gewissenhaft sei, merke, daß ihre Neigung für den nahen Termin der Hochzeit nicht stark genug sei. Es könne nicht anders sein bei so kurzer Bekanntschaft, er solle ihr Zeit lassen, nicht in sie dringen. Nun setzte er aber seinen Ehrgeiz darein, sie zu gewinnen, warb immer glühender, machte ihr Geschenke um tausend Gulden, gab eine große Summe für ihre Ausstattung, machte sein ganzes Erspartes flüssig, um die Wohnung prachtvoll einzurichten und ihr den Verzicht schwer zu machen – und es wurde immer ärger.

Als er mir erzählte, daß sie ihn gebeten, ihre Schwester zu heiraten, und daß sie sich momentan erleichtert gefühlt, nachdem man ihr einen Aufschub der Hochzeit zugestanden, war mir klar, daß sie ihn nicht möge, und ich erzählte es Breuer. Breuer sagte, das größte Unglück könne entstehen, wenn ein Mädchen so zur Ehe schreite, und solche Verhältnisse pflegen damit zu enden, daß sich einer in der Verwandtschaft finde, der erklärt: Ich lasse Dich nicht heiraten. Der fand sich nicht, die ganze Verwandtschaft drängte die Arme. Sie wurde auf eine kleine Reise geschickt und kam nicht anders zurück. Nun bat ich ihn, zu glauben, daß sie ihn nicht liebe und zu verreisen, wenn er wiederkomme, werde er kühler denken, werde sie geklärt antreffen, und dann könne es zur definitiven Entscheidung kommen. Er vertrug aber den Gedanken nicht, daß ein Mädchen ihn ablehnen könnte, er opferte alles so rücksichtslos dem einen Zweck, nicht vor die Welt mit einem Mißerfolg treten zu müssen. Die Verwandten bedrängten sie so unklug, daß sie, die nicht den Mut zu einer entschiedenen Ablehnung fand, auf den Aufschub verzichtete. Fünf Tage nachdem er mir versprochen hatte, zu verreisen, war die Hochzeit. Sie soll gesagt haben: Jetzt heißt es schnell heiraten oder gar nicht. Warum sie sich geweigert, ist nicht schwer zu erraten. Ich glaube, er ließ zu früh allen Zwang fallen, den er sich auferlegt hatte, und physische Abscheu und moralisches Mißfallen erstickten rasch bei dem noch ganz kühlen und empfindlichen Mädchen alle Neigung. Er aber glaubte, ihre Liebe so erzwingen zu können, wie er seine andern Erfolge erzwungen hatte, und falsche Scham verhinderte ihn, der Welt zu erklären, daß er abgewiesen worden sei. Nach der Hochzeitsreise sah ich ihn nur einmal, er war nicht allein und sprach sich nicht aus; Paneth sah ihn noch am Zwölften dieses Monats, fragte ihn nach seiner Ehe, er sagte, er habe schon was Schöneres gesehen, schalt sich selbst einen Pfründner, es war wiederum jemand dabei, der alles Vertrauen hemmte. Man sah ihn nirgends, wollte den jungen Ehemann auch nicht stören, wußte nur, daß ihre Familie beständig oben stecke. Am Dreizehnten hängte er sich auf. Was ist nun vorgegangen?

Die Welt hat die häßlichsten Anklagen gegen die unglückliche Frau zur Erklärung bereit. Ich glaube nicht daran. Ich glaube, die Erkenntnis, einen schweren Mißerfolg erfahren zu haben, die Wut abgewiesener Leidenschaft, der Zorn, seine ganze wissenschaftliche Laufbahn, sein ganzes Vermögen gegen häusliches Unglück aufgegeben zu haben, vielleicht auch der Ärger, daß er um die ihm versprochene Mitgift geprellt worden, dazu die Unfähigkeit, vor die Welt hinzutreten und es zu bekennen, das alles mag den maßlos eiteln Mann, dem es an Neigung zu schweren Aufregungen nicht fehlte, nach einer Reihe von Szenen, die ihm seine Lage klarlegten, zur Verzweiflung gebracht haben. Er starb an der Summe seiner Eigenschaften, seiner krankhaft schlechten Selbstliebe, wie an seinen auf Edleres gerichteten Anforderungen.

Über seinen Leichnam begann der Hader der Familien und an seinem offenen Grab ertönte ein laut disharmonischer Schrei nach Rache, so ungerecht und rücksichtslos, als hätte er ihn selbst ausgestoßen. Der Lektor Friedmann, ein Verwandter und Kollege seines alten Vaters, begann: »Dein Name war Noah, und die Eltern knüpften daran den Spruch: Du wirst mein Trost und meine Stütze sein im Alter. Und all dieser Trost liegt nun hier. Und es steht geschrieben: Wenn eine Leiche gefunden wird und man weiß nicht, durch wessen Hand er um's Leben gekommen, dann soll man sich an die Nächsten halten, das sind die Mörder. Wir aber, seine Eltern und Brüder, wir haben nicht sein Blut vergossen –«, und nun begann er, in klaren Worten die andere Familie zu beschuldigen, daß sie ihm den Todesstoß versetzt. Dabei sprach er mit der gewaltigen Stimme des Fanatikers, mit der Glut des wilden, erbarmungslosen Juden.

Wir waren alle erstarrt vor Empörung und Scham vor den Christen, die unter uns waren. Es war, als ob wir ihnen ein Recht gegeben hätten zu glauben, daß wir den Gott der Rache, nicht der Liebe anbeten. Pfungen's dünne Stimme verlor sich in dem Nachhall der wilden Anklage des Juden.

Es sind besondere Partezettel von seiner Frau und von seinem Vater ausgegeben worden. Die Zeitungen bringen zweierlei Darstellungen, beide falsch, die eine von ihrer, die andere von seiner Familie. Häßliche Enthüllungen stehen uns vielleicht noch bevor.

So war sein Tod wie sein Leben aus einem Guß, er schreit förmlich nach dem Dichter, der ihn in der Erinnerung der Menschen bewahrt.

Glücklich aber, wen ein süßes Liebchen ans Leben fesselt. Ich kann heute nicht mehr schreiben, Marthchen.

Mit inniger Liebe

Dein Sigmund

*

An Martha Bernays

Am Journal, Dienstag, 23. Oktober 1883

Mein geliebtes Marthchen

Mein geliebtes darf ich sagen, trotzdem ich manchmal so schlecht denke und so bös schreibe. Habe ich Dich wieder gekränkt, so stell's zu dem anderen und denke an meine Sehnsucht, meine Einsamkeit, mein ungeduldiges Streben und die Fesseln, die mir angelegt sind. Ich habe so zeitweise wie Anfälle von Übelsehen und Kleinmut, an denen Du Teure und Gute nicht teilnehmen sollst. Du sollst mich dann auslachen und denken, wie bald ich wieder meine Elastizität und mein ungetrübtes Urteil wiederfinde. Heute nachmittag, Mädchen, hatte ich wieder schönen Erfolg, fand eine neue Goldmethode, die dauerhafter als die vorige zu sein verspricht, aber wenn die auch Launen haben sollte, so sehe ich doch das Endergebnis voraus, daß ich nämlich ganz oder nahezu das finden werde, was ich suche.

Das schwere Leben jetzt soll mich nicht verdrießen, wenn wir gesund bleiben und von besonderem Unglück verschont bleiben. Dann erreichen wir gewiß, wonach wir streben, ein kleines Haus, in das vielleicht die Sorge Einlaß findet, aber nie die Not, ein Beisammensein in allem Wechsel des Geschicks, eine stille Zufriedenheit, die uns die Frage erspart, wozu wir eigentlich leben. Ich weiß ja, wie lieb Du bist, wie Du ein Haus zum Himmel verschönern kannst, wie Du teilnehmend, wie Du heiter, wie Du sorgsam sein wirst. Ich werde Dir alle Herrschaft lassen, die Du verlangen (kannst) und Du wirst mir mit inniger Liebe und mit Erhebung über alle Schwächen lohnen, die das Urteil über die Frauen verächtlich machen. Wenn mir mein Wirkungskreis Zeit läßt, werden wir lesen, was wir erfahren wollen, werde ich Dich einiges lehren, was das Mädchen nicht interessiert, solange es den künftigen Gefährten und sein Gewerbe nicht kennt, alles, was geschehen ist und was geschieht, wird durch Dein Interesse daran ein neues für mich gewinnen. Du wirst mich nicht nach dem Erfolg beurteilen, den ich erzwinge oder nicht, sondern nach meinem Wollen und nach meiner Ehrlichkeit, Du wirst es nicht bereuen, die schönen Jahre Deiner Jugend der Treue geschenkt zu haben, und ich werde auf Dich stolz sein. Du wirst in mir lesen können wie in einem offenen Buch, wir werden so glücklich sein, einander zu verstehen und zu stützen. Du wirst mich von allem Kleinlichen abhalten, vom kleinlichen Ärger, vom Neid, vom Geiz nach Unwichtigem, und wenn Du besorgen solltest, mich einer wissenschaftlichen Tätigkeit entzogen zu haben, werde ich lachen und Dir die Geschichte von Benedikt Stilling erzählen, einem Arzt, der vor wenigen Jahren in Kassel gestorben ist, der Wissenschaft in seinen jungen Jahren trieb und dann eine Stellung als Arzt annehmen mußte. Aber durch dreizehn Jahre arbeitete er am Morgen über das menschliche Rückenmark, und ein großes Werk war die Frucht davon, und abends arbeitete er weiter über das Gehirn, und man nennt ihn als den ersten unter den Forschern, denen wir die Kenntnis des edlen Organs verdanken. Das war der Fleiß, die zähe Begeisterung des Juden, nicht einmal mit so viel Talent gepaart, als sonst beim Juden nicht selten ist. Das werden wir auch können.

Meine geliebte Martha, ein Teil von dem, was Du mir sein wirst, bist Du mir schon jetzt. Du sollst mir immer mehr werden. Im Glück halten sich andere gut; wir, mein Marthchen und ich, werden es auch können, wie wir jetzt getrennt und gar nicht glücklich sind.

Gute Nacht, mein teures Weibchen, schütt mir nur immer Dein Herz aus, mir wird so traurig, wenn Du es lange nicht getan hast.

Dein Sigmund

*

An Martha Bernays

Wien, Donnerstag, 25. Oktober 1883, abends

Mein Herzensmädchen

Ja es ist wahr, wir haben einen Fund gemacht, der vielleicht nicht unbedeutend ist, und Du mußt zulassen, daß ich heute so viel von ihm spreche. Gestern ging ich in meiner Freude noch um halb zehn zu Breuer und dachte mir auf dem Weg allerlei schöne Komplimente aus, die ich der Frau sagen wollte, damit das Gespräch ihr nicht ganz gleichgültig sei. So zum Beispiel »nicht nur Frauen können schön sein, sondern auch Präparate«, und ein zweites, das ich wirklich anbrachte, wie erzählt werden wird. Ich traf niemand zu Hause, setzte mich ins Ordinationszimmer und griff nach dem nächsten Buch, die Zigarrenschachtel suchte ich vergebens. (Diese Rechte habe ich nämlich ein für allemal eingeräumt bekommen.)

Das Buch, das ich erwischte, gefiel mir so ausgezeichnet, daß ich beschloß, es meiner Martha zu schicken. Armes süßes Prinzeßchen, es ist für Dich schon bestellt, gerade jetzt, wo ich Dir zur Freude unseres Erfolges was schenken wollte, bin ich ganz arm. Da nun die Sachen nie so ausgehen, wie man sich's vorstellt, kam Frau Mathilde zuerst nach Hause und teilte mir mit, daß ich den Mann nicht vor elf Uhr zu sehen bekommen werde, er sei zwar eben unten, gehe aber die Kinder abholen, die im Karltheater sind, wo jetzt die Meininger gastieren. Ich solle nicht bös sein; ich war gar nicht bös, sagte nur kurz, der Tag wäre mir heute so angenehm gewesen, daß ich ihn in der besten Gesellschaft, die mir zugänglich ist, beschließen wollte (mein zweites Kompliment, was mir auch einen Händedruck einbrachte), und eilte dann hinunter, wo ich Breuer traf. Wir werden also Spazierengehen, sagte er. Wir gingen eingehängt zum Karltheater hin, und als ich mit meinen Neuigkeiten herauskam, und lange davon sprach und endlich um Entschuldigung bat, wenn es ihn nicht interessiert hätte, war es lieb von ihm, zu sagen: Es interessiert mich weniges mehr.

Heute bin ich um drei Uhr zu Fleischl, den ich leider wieder in elender Verfassung treffen mußte; ich zeigte ihm die Präparate der Reihe nach: zuerst die Silber- dann die ersten Goldpräparate, mit der ungetreuen Methode gemacht, dann die neuen. Als ich bei den ersten Goldpräparaten war, kam Brücke angegangen. »Gibt's was zu sehen?« »Bitte, Vergoldungen des Gehirns.« – »Ah, das ist ja sehr schön, und das Gold steht doch im Ruf, da nichts zu leisten« – »Ja, das ist eine neue Methode, Herr Hofrat« – »Ja so, Sie werden ja noch durch Ihre Methoden allein berühmt werden«; damit ging er ab. Fleischl war ganz außer sich vor Entzücken; Sanguiniker, der er ist, beglückwünschte er mich ein über das andere Mal und riet mir, mich in den nächsten sieben Jahren ausschließlich mit der Ausbeutung dieses Fundes abzugeben. Ich lachte auf und sagte, da kann ich lang verhungert sein. Sie werden nicht verhungern, meinte er. Dann vertraute er mir, daß er auch mit einer Entdeckung umgehe, nämlich eine neue Art von Akkumulatoren für Elektrizität zu machen, wenn ihm das gelinge, sei er ein reicher Mann, und dann wolle er mir soviel geben, daß ich sorglos diesen Arbeiten leben könne. Das ist natürlich nicht ernst zu nehmen, aber doch einigermaßen charakteristisch für die Innigkeit unserer Beziehungen jetzt. Ich dankte auch sehr schön und bat mir nur für den Fall, daß seine Entdeckung gelinge, soviel aus, daß ich im Sommer nach Hamburg reisen könne. Das wurde zugestanden. Dann bat ich ihn, mit derselben Methode eine Untersuchung zu unternehmen, etwa die Netzhaut des Auges, das feine lichtempfindliche Häutchen im Augenhintergrund, das eigentlich ein Stückchen Gehirn ist, und zu meiner großen Freude versprach er, damit zu beginnen, sobald die Ausstellung vorüber sei. Zu meiner Freude, denn einen alten Lehrer was zu lehren, ist eine reine, schöne Genugtuung.

Dann ging ich zu Breuer, den ich nach dem Mittagessen etwas grantig fand, sein Mikroskop war nicht ganz in Ordnung. Darum konnte ich ihm nicht alles zeigen, aber was er sah, entlockte ihm Ausrufe der Bewunderung genug. Er sagte dann: Jetzt haben Sie die Waffe, ich wünsche Ihnen einen glücklichen Krieg. Eine lange Arbeit wird's freilich kosten, bis das erste Werk vorliegt, von dem mein Weibchen ein Exemplar bekommt. Die große Frage ist, taugt diese Methode auch zum Nachweis der feinen Nervenfasern in den Geweben, in der Haut, in den Drüsen und so weiter? Ist das der Fall, so sind wahre Löcher in die Welt gerissen. Mein materielles Fortkommen wird wohl auch seine Rechnung dabei finden, die Jahre des Wartens für meine Süße abgekürzt werden. Leistet sie nicht so viel, so ist sie doch für's Nervenzentralorgan ausgezeichnet gut. Sie bleibt auch nicht aus, ich habe sie heute wieder erprobt. Ich fürchte mich nur vor neuen Methoden, die mir noch gelingen können, die mir dann so viel Arbeit schaffen, daß ich den Kopf vor Aufruhr nicht beisammen halten kann.

Außer ihrer praktischen Bedeutung hat dieser Fund für mich noch einen Affektionswert. Es ist mir etwas gelungen, wonach ich zu wiederholten Malen in langen Jahren gestrebt habe. Überblicke ich die Zeit, wo ich zuerst anfing, dasselbe Problem in Arbeit zu nehmen, so finde ich mein Leben doch progressiv. Ich habe mich so oft nach einem süßen Mädchen, das mir alles sein könnte, gesehnt, ich habe es jetzt. Dieselben Männer, die ich als unnahbar von weitem bewundert, verkehren auf dem Fuß der Gleichheit mit mir und erweisen mir Freundschaft. Ich bin gesund geblieben und habe nichts Unehrenhaftes getan; selbst obwohl ich arm geblieben bin, sind mir die Besitztümer, die für mich Reiz hatten, zugänglich geworden, und ich sehe (mich) vor dem Schlimmsten, vor dem Verlassensein geschützt. So darf ich hoffen, wenn ich arbeite, auch vom Fehlenden ein Stück zu erringen, und mein Marthchen, jetzt so fern und einsam, wie ihr Briefchen zeigt, nahe bei mir zu haben, ganz für mich zu haben und in ihrer zärtlichen Umarmung der weiteren Entwicklung unseres Lebens entgegenzusehen.

Du trauerst mit mir; freue Dich heute mit mir, Geliebte, und glaub nicht, daß etwas anderes als Du im Mittelpunkt meiner Gedanken steht. Mit herzlichem Gruß und Kuß

Dein Sigmund

Hope and joy

*

An Martha Bernays

Wien, Donnerstag, 15. November 1883, fünf Uhr abends

Mein süßes Prinzeßchen

Dies bleibt nun Dein Name. Ich habe in den letzten Tagen noch mehr als sonst an Dich gedacht und will Dich nur, indem ich mir zur Wiederkehr des Datums, das Dich mir geschenkt hat, Glück und Verdienst wünsche, an das besondere Zusammentreffen erinnern, daß es der siebzehnte Monatstag ist und gleichzeitig der Samstag wieder auf den Siebzehnten fällt. Meine Werbung brauche ich aber nicht zu erneuern, nicht wahr? Es ist heute Feiertag, und ich habe ganz und gar nichts gearbeitet, um mich wieder zu erfrischen. Das Wetter ist recht abscheulich, ich denke, ich gehe abends zu Hammerschlag; ich bin schon so mürbe, daß es mir wohltut, wenn man irgendwo freundlich mit mir ist. Man wird ja auch nach Dir fragen, und ich kann wieder von Dir sprechen.

Was Du in einem Deiner letzten Briefe von Mill und seiner Frau gesagt hast, hätte mich eigentlich auf der Stelle anregen sollen, Dir etwas über die beiden zu schreiben. Der Aufsatz von Brandes gibt nur den persönlichen Eindruck des Mannes wieder, ist weit entfernt eine Würdigung seiner ganzen Stellung in unserer Zeitgeschichte zu sein. Mir kam die Anregung, mich mit ihm zu beschäftigen, als mir Gomperz die Übersetzung des letzten Bandes seiner Werke anvertraute. Ich schimpfte damals über seinen leblosen Stil und daß man nie eine Sentenz oder ein Schlagwort aus seinen Schriften fürs Gedächtnis auflesen könne. Aber ich habe später ein philosophisches Werk von ihm gelesen, das witzig, epigrammatisch treffend und lebhaft war. Er war vielleicht der Mann des Jahrhunderts, der es am besten zustande gebracht, sich von der Herrschaft der gewöhnlichen Vorurteile frei zu machen. Dafür – das geht ja immer zusammen – fehlte ihm der Sinn für das Absurde, in manchen Punkten, so zum Beispiel in der Frage der Frauenemanzipation und in der Frauenfrage überhaupt. Ich erinnere mich, ein Hauptargument in der von mir übersetzten Schrift war, daß die Frau in der Ehe so viel erwerben könne wie der Mann. Wir dürften ziemlich einig darin sein, daß das Zusammenhalten des Hauses und die Pflege und Erziehung der Kinder einen ganzen Menschen erfordert und fast jeden Erwerb ausschließt, auch dann, wenn vereinfachte Bedingungen des Haushaltes das Abstauben, Zusammenräumen, Kochen und so weiter der Frau abnehmen. Daran hatte er einfach vergessen, wie überhaupt an alle mit dem Geschlechtlichen in Zusammenhang stehenden Beziehungen. Das ist im Ganzen ein Punkt bei Mill, in dem man ihn einfach nicht menschlich finden kann. Seine Selbstbiographie ist so prüde oder so unirdisch, daß man aus ihr nie erfahren könnte, daß die Menschen in Männer und Weiber geteilt sind, und daß dieser Unterschied der bedeutsamste ist, der unter ihnen besteht. Sein Verhältnis zu seiner Frau ist auch so unmenschlich. Er heiratet sie in späten Jahren, hat keine Kinder mit ihr, von Liebe, wie wir alle sie kennen, scheint gar nicht die Rede zu sein. Ob sie eine so großartige Person war, als welche er sie verehrte, wird, glaub' ich, allgemein bezweifelt. In seiner ganzen Darstellung tritt auch gar nicht hervor, daß die Frau etwas anderes – wir wollen uns hüten zu sagen etwas Geringeres, eher das Gegenteil – ist als der Mann. Er findet zum Beispiel eine Analogie für die Unterdrückung der Frauen in der der Neger. Jedes Mädchen, wenn auch ohne Stimmrecht und richterliche Befähigung, dem ein Mann die Hand küßt, um deren Liebe er alles wagt, hätte ihn zurechtweisen können.

Es ist auch ein gar zu lebensunfähiger Gedanke, die Frauen genauso in den Kampf ums Dasein zu schicken wie die Männer. Soll ich mir mein zartes, liebes Mädchen zum Beispiel als Konkurrenten denken; das Zusammentreffen würde doch nur damit enden, daß ich ihr, wie vor siebzehn Monaten, sage, daß ich sie lieb habe und daß ich alles aufbiete, sie aus der Konkurrenz in die unbeeinträchtigte stille Tätigkeit meines Hauses zu ziehen. Möglich, daß eine veränderte Erziehung all die zarten, des Schutzes bedürftigen und so siegreichen Eigenschaften der Frauen unterdrücken kann, so daß sie wie die Männer ums Brot werben können. Möglich auch, daß es nicht berechtigt ist, in diesem Fall den Untergang des Reizendsten, was die Welt uns bietet, unseres Ideals vom Weibe zu betrauern; ich glaube, alle reformatorische Tätigkeit der Gesetzgebung und Erziehung wird an der Tatsache scheitern, daß die Natur lange vor dem Alter, in dem man in unserer Gesellschaft Stellung erworben haben kann, (die Frau) durch Schönheit, Liebreiz und Güte zu etwas (anderem) bestimmt.

Nein, ich bleibe hier bei dem Alten, bei der Sehnsucht nach meiner Martha, wie sie ist, und sie wird's selbst nicht anders wollen; Gesetzgebung und Brauch haben den Frauen viel vorenthaltene Rechte zu geben, aber die Stellung der Frau wird keine andere sein können, als sie ist, in jungen Jahren ein angebetetes Liebchen, und in reiferen ein geliebtes Weib.

Es wäre noch so viel darüber zu sagen, aber wir denken wohl gleich darüber.

Leb wohl, mein süßes Mädchen. Dein Brief will heute nicht kommen, so gehe ich denn fort.

Herzlichen Gruß und Kuß von
Deinem Sigmund


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