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1878

*

An Martha Bernays

Wien, 19. Juni 1882

Mein teures, heißgeliebtes Madchen

Ich wußte es, erst wenn Du entfernt sein wirst, würde mir der ganze Umfang meines Glückes und leider auch das ganze Maß meiner Entbehrung zum Bewußtsein kommen. Ich kann es noch immer nicht fassen, hätte ich nicht das zierliche Kästchen und das süße Bild vor mir liegen, ich hielte es für einen gaukelnden Traum und fürchtete mich vor dem Erwachen. Aber die Freunde sagen, es sei Wahrheit, und ich selbst, ich weiß mich an Einzelheiten zu erinnern, so reizend, so fremdartig beglückend, wie die Traumphantasie sie nie zu ersinnen vermag. Es muß wohl wahr sein. Martha ist mein, das süße Mädchen, von dem alle mir mit Verehrung sprechen, das beim ersten Zusammensein trotz allen Sträubens meinen Sinn gefangennahm, um das ich zu werben mich fürchtete, und das im hochsinnigen Vertrauen mir entgegenkam, den Glauben an meinen eigenen Wert mir erhöht und neue Hoffnung und Arbeitskraft mir geschenkt hat, als ich ihrer am dringendsten bedurfte.

Wenn Du wieder kommst, süßes Mädchen, werde ich die Befangenheit und Steifheit, die mich in Deiner teuren Gegenwart beengten, überwunden haben. Wir werden uns wiederum allein in Eurem so netten Zimmerchen finden, mein Mädchen wird sich in den braunen Lehnstuhl niederlassen, aus welchem wir gestern so plötzlich emporgeschreckt sind, ich zu ihren Füßen auf dem runden Schemel, und wir werden von der Zeit sprechen, da nicht der Wechsel von Tag und Nacht, nicht das Eindringen Fremder, kein Abschied und keine Besorgnis uns trennen wird.

Dein holdes Bildnis. Ich habe es zuerst so gering geschätzt, als ich noch das Urbild vor Augen hatte; jetzt aber, je öfter ich es ansehe, desto ähnlicher wird es der Geliebten; ich erwarte, daß die bleichen Wangen sich purpurn färben, wie unsere Rosen waren, daß die zarten Arme sich von der Fläche lösen, nach meiner Hand zu greifen; aber das teure Bild bleibt ruhig, es scheint nur zu sagen: Geduld, Geduld, ich bin nur ein Zeichen, ein Schatten aufs Papier geworfen, das Wesen selbst kommt wieder, und dann magst Du mich wieder vernachlässigen.

Ich wollte dem Bilde so gerne einen Platz unter meinen Hausgöttern einräumen, die über meinem Tische hängen, aber die harten Männergesichter, an die ich mit Verehrung denke, darf ich zeigen, das zarte Mädchenantlitz muß ich verbergen und verschließen. Es ruht in Deinem Kästchen, und ich getraue mich nicht zu gestehen, wie oft ich es seit vierundzwanzig Stunden bei verschlossenen Türen hervorgeholt habe, meine Erinnerung aufzufrischen.

Dabei wollte es mir nicht aus dem Kopf, daß ich irgendwo von einem Mann gelesen, der die Geliebte in einem kleinen Kästchen mit sich herumgetragen, und nach langem Besinnen fiel mir ein, das müßte das Märchen ›Die neue Melusine‹ in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ sein, an das ich mich nur undeutlich erinnerte. Ich nahm das Buch nach langen Jahren wieder zur Hand und fand meine Vermutung bestätigt. Aber ich fand mehr als ich suchte. Die neckischesten oberflächlichen Anspielungen tauchten bald hier bald dort auf, hinter jedem Zug der kleinen Geschichte lauerte eine Beziehung auf uns, und als ich mich erinnerte, welchen Wert mein Mädchen darauf gelegt, daß ich größer sei als sie, mußte ich das Buch halb geärgert, halb ergötzt wegwerfen und tröstete mich mit der Versicherung, daß meine Martha keine Nixe, sondern ein holdes Menschenkind sei. Wir verstehen uns noch nicht im Humor, darum wirst Du Dich vielleicht enttäuscht finden, wenn Du das Geschichtchen nachsiehst. Auch möchte ich Dir nicht alle tollen und ernsten Einfälle, die ich dabei hatte, mitteilen.

Dieses Schreiben, geliebtes Marthchen, ist nicht in einem Zuge entstanden. Eli und Schönberg waren gestern und heute abends bei mir, gestern überdies noch einige Mädchen, und ich habe mich, um keinen Verdacht zu erregen, gesellig gezeigt, obwohl ich am liebsten allein geblieben wäre. Nur Schönbergs Anblick ist mir eine Erquickung, ein Schwarm der teuersten Erinnerungen wird mit Ton und Farbe in mir lebendig, wenn ich seine ehrlichen, energischen Züge sehe. Zauberinnen, die Ihr seid. Er wird mir stündlich lieber. Ich habe Deinen letzten Gruß vom Bahnhofe empfangen und heute von Eli die Nachricht von Deiner ersehnten glücklichen Ankunft gehört.

Dein Bruder scheint sich bei uns wohl zu fühlen; ich bin nicht weiter mit ihm gekommen, da ich ihn seit Deiner Abreise nicht allein gesprochen habe. Sonst betäube ich mich durch Arbeit und tröste mich mit der Gewißheit, daß Martha mein Eigen bleibt so lange sie Martha bleibt.

Mein geliebtes Bräutchen. Wenn ich früher zauderte, Dich für's ganze Leben an mich zu binden, nicht im härtesten Unglück, und wenn ich Dich mitreißen sollte, lasse ich jetzt von Dir.

Bemühe Dich doch Deinen lieben Verwandten alle die Bilder, die Dich als Kind zeigen, zu entwenden; es fällt mir ein, daß ich das alte Bild im Besitze Deiner Mutter wenigstens bis zu Deiner Rückkehr hätte behalten können.

Wenn Du etwas von hier bedarfst oder etwas besorgt wissen willst, beglücke keinen andern als mich mit Deinen Aufträgen. Ich bin so ausschließlich, wo ich liebe. Laß mich alles von Deinen jetzigen Verhältnissen wissen; es wird dazu beitragen, daß ich Deine Abwesenheit leichter ertrage. Nütze Deinen Hamburger Aufenthalt sorgsam für Dein Wohlsein aus, ich würde Dich so gerne mit den vollen Wangen sehen, die Dein Kinderbildchen zeigt.

Nun ist der Tag zu Ende, der Bogen vollgeschrieben, und ich muß dem Verlangen, weiter mit Dir zu plaudern, Einhalt gebieten. Lebe wohl und vergiß nicht an den armen Mann, den Du so selig gemacht hast.

Dein Sigmund

Minna hat mir einen herzlichen Gruß durch Schönberg geschickt.

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An Martha Bernays

Dienstag, 27. Juni 1882 vormittags im Laboratorium

Mein süßes Madchen

Ich habe einige Blätter aus meinem Arbeitsbuch herausgerissen, um Dir während mein Versuch vor sich geht, zu schreiben. Die Feder ist von Professors Arbeitstisch gestohlen, die Leute um mich glauben, daß ich meine Analysen ausrechne; eben war einer bei mir, der mich zehn Minuten lang aufgehalten. Neben mir untersucht ein dummer Armenarzt eine noch dümmere Salbe, ob sie nichts Gesundheitsschädliches enthält; vor mir kocht es in meinem Apparat und brodeln die Gasblasen, die ich einleiten muß. Das Ganze predigt wieder Entsagung, Warten; die Chemie besteht zu zwei Dritteilen aus Warten, das Leben wahrscheinlich ebenso, und das Schönste ist, was man sich verstohlen gönnt, wie ich es jetzt mache. Dein süßes Briefchen kam so unerwartet, darum doppelt willkommen, und ich freute mich der hohen Bäume und des schönen Gartens, sowie der reizenden Verwirrung in Deinen lieben Sätzen. Gib acht, Mädchen, die Schiebladen kommen wieder alle in Ordnung, in eine neue Ordnung hoffe ich aber – – – ich wollte noch etwas sagen, aber ein urdummer Nachbar hat mich in eine Unterhaltung über ein Quecksilbersalz gezogen. Gott verdamme ihn dafür.

Dein Briefchen also wiegt das heutige schlechte Wetter auf, in mir ist Sonnenschein und blauer Himmel, draußen neblig und rieselig. Warum meinst Du, die Adresse, die Du diesmal benützt hast, sei auffällig? Hier ist sie die bequemste, meinst Du vielleicht in Wandsbek auffällig? Dein Briefchen (ich will nicht mehr ›süß‹ sagen, ich werde bei der Berliner Akademie um Vermehrung der zärtlichen Adjektive einkommen – ich leide solchen Mangel daran) trug den Poststempel Hamburg. Ist Wandsbek so nahe? Hast Du das Meer schon gesehen? Richte ihm einen schönen Gruß von mir aus – und wir kommen noch zusammen. Land und Meer sollen zusammenwirken, mein Mädchen blühend zu erhalten und ihr die Ferne angenehm zu machen. Ich bin so eitel, daß ich sie nicht mehr als Heimat gelten lassen will. Wie keck wird man, wenn man sich geliebt weiß!

Die arme Minna hat einen fünf Seiten langen Brief aus dem Stegreife erfinden müssen. Was für gefährliche Dinge hat ihr Marthchen geschrieben? Laß mich doch wissen, was Eli über mich schreibt. Es muß recht lustig ausfallen.

Du machst mich jetzt auch faul, Marthchen. Ich arbeite zwar tagsüber, aber am Abend bin ich ganz unfähig, ein Buch anzusehen. Dichtungen mag ich nicht; ich weiß eine schöne Dichtung, die ich selbst erlebt, und der hohen Wissenschaft mache ich ein tiefes Kompliment und sage dazu: »Hohe Wissenschaft, ich bleibe Euer untertänigster Diener, Euch in Ehrfurcht ergeben, aber nehmt mir's nicht übel; Ihr habt mich nie freundlich angeblickt, mir nie ein trostreiches Wort gesagt; Ihr antwortet nicht, wenn ich schreibe, Ihr hört nicht, wenn ich spreche, ich weiß eine andere Dame, der ich mehr wert bin als Euch, die mir jeden Dienst hundertfach vergilt, die auch nur einen Diener hat, nicht Tausende wie Ihr. Ihr werdet es verstehen, wenn ich mich jetzt der anderen, so anspruchslosen und gnädigen Dame widme. Behaltet mich in gutem Angedenken bis ich wiederkomme. Ich muß an Martha schreiben.«

Das wird wohl anders werden, wenn ich Marthchen täglich sehen und sprechen kann. Die beiden Damen werden sich dann friedlich vertragen, und die stolze, unnahbare wird sich's gefallen lassen müssen, für die liebreiche, bescheidene zu zinsen und zu steuern.

Gestern war ich bei meinem Freund Ernst von Fleischl, den ich bisher, solange ich nicht Marthchen kannte, in allen Stücken beneidet habe. Jetzt habe ich doch etwas voraus. Er ist, glaube ich, seit zehn oder zwölf Jahren mit einem Mädchen verlobt, das ihm gleichaltrig ist, unbestimmt lange auf ihn warten wollte und mit dem er aus mir unbekannten Gründen zerfallen ist. Er ist ein ganz ausgezeichneter Mensch, an dem Natur und Erziehung ihr Bestes getan haben. Reich, in allen Leibesübungen ausgebildet, mit dem Stempel des Genies in seinen energischen Zügen, schön, feinsinnig, mit allen Talenten begabt und fähig, in den allermeisten Dingen ein originelles Urteil zu schöpfen, war er immer mein Ideal, und ich war erst ruhig, als wir Freunde wurden und ich an seinem Können und Gelten eine reine Freude haben durfte. Ich brachte ihm diesmal ein Urteil über eine Streitschrift von ihm, er lehrte mich das japanische Spiel ›Go‹ und überraschte mich mit der Nachricht, daß er Sanskrit lerne. Ich mußte versprechen, es geheimzuhalten, aber ich wußte sofort, für Martha gelte dieses Geheimnis sowenig wie andere und wichtigere. Dann sah ich mich im Zimmer um, dachte an meinen überlegenen Freund, und der Gedanke kam über mich, was er mit einem Mädchen wie Martha machen könnte, welche Fassung er dem Kleinod geben würde, wie Martha, die schon unser ärmlicher Kahlenberg entzückt, die Alpen bewundern würde, die Wasserstraßen von Venedig, die Pracht von St. Peter in Rom; wie wohl es ihr tun müßte, an der Geltung und dem Einfluß des Geliebten teilzunehmen, wie die neun Jahre, die jener Mann vor mir voraus hat, ebensoviel beispiellos glückliche Jahre ihres Lebens bedeuten würden gegen neun armselige in Verborgenheit und fast Hilflosigkeit verbrachte Jahre, die ich erwarten darf. Ich mußte mir zur Pein ausmalen, wie leicht es möglich sei, daß er, der jedes Jahr zwei Monate in München verbringt, dort in der erlesensten Gesellschaft verkehrt, Martha bei ihrem Onkel sehen könnte. Ich wurde neugierig, wie ihm Martha gefallen könnte. Dann brach ich plötzlich das Traumgebilde ab; es war mir klar, daß ich die Geliebte nicht abtreten kann, auch wenn sie bei mir nicht den richtigen Platz gefunden hat. Einen Teil des Glücks, auf das Martha in der Stunde unserer Verlobung verzichtet hat, holen wir später nach. Mädchen muß versprechen, recht lange jung und frisch zu bleiben, sich auch nach neun Jahren so liebreizend über Neues und Schönes zu wundern, wie sie es jetzt kann. Martha wird doch nicht in den Hausstandssorgen aufgehen, Martha ist keine Lisette. Soll ich nicht auch einmal etwas Besseres haben, als ich verdiene? Martha bleibt mein Eigen.

Der Teuren einen herzlichen Gruß von
Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, Freitag, 14. Juli 1882

Hohe Herrin, süßes Lieb

Wisset, daß Euer holdes Brieflein, worinnen Ihr mir gestattet, zu Euren schönen Augen zu pilgerfahrten, mich gewaltig beglückt hat, und daß ich mein Ränzlein schnüre, um zu erfahren, ob Ihr bloß einen lieben Blick oder auch einen Kuß von Euren Lippen spenden könnt. Und zumalen ein Reisender und Fremder allerlei Vorrechte und Privilegien genießt, dürft Ihr's nicht verdenken, so ich mehr als einen begehre. Gedenkt, was ein engelländischer Dichter, so viel lustige und schmerzliche Stücke erfunden und selbst in ihnen agiert hat, William Shakespeare, singt:

Journeys end in lovers meeting,
Every wise man's son doth know.

und wie er weiterhin fraget:

What is love? 't is not hereafter;
Present mirth hath present laughter;
What's to come is still unsure:
In delay there lies no plenty;
Then come kiss me, sweet-and-twenty,
Youth's a stuff will not endure.

So Ihr aber diese übermütigen Zeilen nicht verstehet, fraget keinen anderen als A. W. Schlegels Verdeutschung im ›Dreikönigsabend‹ oder ›Was Ihr wollt‹.

So es Euch behagt, wollen wir jetzt von der hohen Dichtkunst zur gemeinen Prosa niedersteigen und will Euch Euer Diener sagen, wann er Euch nahe zu sein erhofft. Euer Bruder Eli hat uns schwägerlich unter die Arme gegriffen mit einer Freikarte, bis zur Grenze dieses Kaiserreichs. Von da hebet sich an das Reich der Armut, da Euer Erwählter von denen ist, die auf das Himmelreich mehr Anspruch haben als auf die Schätze dieser Erde. Kann darum den Vorsprung nicht beibehalten, und wenn ich Sonntag morgens um die achte Stunde dieser Stadt den Rücken kehre, dürft Ihr mich nicht vor Dienstag fünf Uhr sechsundvierzig in Eurem Hamburg vermuten. Kann selbst sein, daß ich später komme, denn Eisenbahnverwicklungen sind meinem schwachen Kopf ein hartes Nüßlein, und keiner unserer Verbündeten weiß besser den rechten Weg aus solchem Zuggewirre zu finden. Nachdem ich am frühen Morgen mich gestärkt und gewaschen, damit Ihr mich nicht für einen Mohren halten müßt, eile ich nach Wandsbek, wo Euch Feinde im – hoffentlich unsicheren – Gewahrsam halten. Laßt mich glauben, daß Ihr noch im Wäldchen sein werdet, denn gern würde ich von keines Menschen Auge gesehen Euch den Willkommsgruß bieten. Habt Ihr leider verabsäumt, mir Dauer der Wege und Fahrgelegenheit, sowie Euren Aufenthalt im Wäldchen kundzutun, tut es aber vielleicht in Eurem Schreiben, das ich morgen erwarte.

So wir einander erst einmal gesehen, wird sich der Fortgang von selbst gestalten und mag ich Euch nicht darüber schreiben. Wenn Euer Vetter Max sich als Freund beweisen und Euch in die Stadt führen will, so werde ich ihm ewig dankbar sein, obwohl was er tuet, nur allgemeine Pflicht der Menschen gegeneinander ist. Hoffe aber, daß er nicht als Dritter wird ›mitgenießen‹ wollen, findet keine Unterstützung der Genußsucht an Eurem ungenießbaren Liebsten und werde ihn in Freundschaft bitten, uns allein zu lassen. Mag Euch nicht vor fremden Augen küssen, und wüßte mit Euch nichts vor ihm zu reden. Er wird die Pflicht der Menschlichkeit, uns allein zu lassen, nicht von sich weisen können.

Damit Ihr Euren Geliebten kennet, merkt, Ihr dürft nicht viel Staat mit ihm machen wollen. Trägt ein unscheinbar formloses graues Röcklein, lichtes Beinkleid, wird heute einen grauen Filzhut wie Euer Bruder erwerben, obwohl minderen Wertes. Eures Bruders Reisetäschlein faßt so wenig Linnen, als mit eines Menschen Bestand verträglich, den Überrock habt Ihr oft selbst durch Eure Berührung geweiht. Kennt auch den plumpen Stock, das Täschlein mit Eurem Bild, das Ringlein, den Finger und wisset, ein kleines Häuflein Mark ist noch dazugekommen, uns in Eurer ungastlichen Vaterstadt zu erhalten. Reicht wohl so weit, daß wir uns der Frau Sonne, die alles an den Tag bringt, als Verlobte vorstellen und unseren jüngeren Geschwistern ein Bildlein zum Angedenken schaffen. Ein Kleinod ist für Euren Geburtstag bereit, sticht mir oft in die Augen, wenn ich vorbeigehe, traute mich aber nicht, es jetzt zu erwerben und mitzubringen, wird bis zum 4. August hier warten. Bringt Euer fahrender Ritter Euch also nichts anderes als sein liebend Herz, kommt auch ohne Waffen, hat Gift und Dolch für einen Nebenbuhler zu Hause gelassen. Kann nicht erwarten, Euch zu sehen und zu sagen, wie er Euch ergeben ist und daß er Euch gegen Freund und Feind so not tut, schützen und verteidigen wird. Wißt ja, daß er auch noch mit Freuden einen Strauß bestanden hat, hofft, daß sein Feind in Hamburg ihm Feindseligkeit durch aufrichtigen Verzicht ersparen wird.

Ach dieser elende mittelalterliche Briefstil, heute und keinmal mehr. Ich kam mir so als irrender Ritter vor, der zur geliebten Prinzessin pilgert, die vom bösen Oheim eingeschlossen gehalten wird. Mußt Dich recht gelangweilt haben, süßes Marthchen, sei nachsichtig. Wenn Du wüßtest, wie toll es in mir jetzt aussieht. Ich werde aber ganz vernünftig ankommen. Schatz, Schönberg ist zurück zu meiner Freude.

Noch einmal einen Kuß auf Kredit, mein Engel, noch einmal, vielleicht morgen kann ich aus Mödling schreiben, dann Barzahlung. Auf glückliches Wiedersehen

Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Tetschen, Sonntag, 8 Uhr, 16. Juli 1882

Süßes Bräutchen

Wenn Du wüßtest, wie schön es hier ist und wie es mit Dir noch unvergleichlich schöner sein würde. Da fließt die Elbe hin, noch ein bescheidenes Flüßlein, die mir den Weg vorzeichnet, zu Dir, zu Dir. Hohe Berge, bald bewachsen, bald kahl in seltsamen Gestalten, die Häuslein so nett, als wären sie nicht zum Bewohnen, sondern zum Aufstellen und Umwerfen wie im Spielereikasten, alle in einer Reihe längs des Flusses, ein paar stolze Bauten sehen von den Bergesabhängen herab, als gehörten sie gar nicht dazu. Eines davon ganz vereinzelt auf einem Hügel, ein Schloß oder ein Kloster oder sonst etwas. Es ist mir wirklich gleichgültig. Links liegt Bodenbach, rechts Tetschen und zwei Brücken dazwischen, eine für die Bahnen und die andere für die ›fahrenden Gesellen‹, die ihre Liebste heimsuchen. Auf der letzten Brücke mußte ich zwei Kreuzer Zoll zahlen, aber ich tat es gerne; ich war froh, daß ich mir nicht das Bein gebrochen. Ich habe gar so viel gelogen in letzter Zeit. Ich bin nach Tetschen über die Brücke gegangen, weil in Bodenbach kein Kaffeehaus ist, wo ich Dir schreiben wollte. Ich muß hier nämlich bis zwei Uhr nachts bleiben und kann erst Dienstag, halb drei nachmittags in Hamburg sein und weiß nicht, ob ich Dich noch Dienstag sehen kann, und ich bin ganz geröstet oder gebraten, nein, nicht ganz, sondern halb gar, wie ein englisches Roastbeef. Aber um wieder auf Bodenbach zu kommen. Es ist eine so heilige Sonntagsstille, und die Glocken läuten, ich weiß nicht recht warum, und die Straßen sind so sauber, die Leute so höflich, die Alten sehen so aus, wie ich mir immer den Christian Fürchtegott Gellert vorgestellt habe, und die Jungen sind so bescheiden, als ob sie selber jetzt den lieben Gott fürchten würden. Mitten auf dem Platz steht ein steinernes Viereck, könnte wohl das Mausoleum eines altsächsischen Königs sein, ist's aber gewiß nicht, und was es ist, kümmert mich nicht. Genug, ich kann hier herumgehen, und niemand fragt mich, wer hat Ihnen den Ring geschenkt, den Sie am Finger tragen. Nein, den nehme ich nicht ab, bis ich wieder in der Unfreiheit in Wien bin. Ich wollte Dir doch erzählen, daß ich durchaus in ein Cafe wollte. Und da sah ich ein rundes, rosenwangiges Mädchen auf der Straße und fragte: Mein schönes Fräulein – aber nicht, darf ich's wagen, et cetera, sondern: Können Sie mir sagen, wo hier ein Kaffeehaus ist? Und denke Dir, das Kaffeehaus war gerade das Haus, vor dem ich stand und das Mädchen die Kellnerin oder die Haustochter. Es ist ein Stübchen mit mehreren Sesseln und Tischen, ich der einzige Gast, es dauert ein Vierteljahrhundert, bis ich Kaffee bekomme, und es ist sehr wenig Zucker dabei, mein Marthchen muß mir mehr Zucker in den Kaffee geben. Aber der Kuchen ist gut – ich esse, Verschwender – zwei Stücke davon, eines für Marthchen, und nun muß ich eilen und schließen, denn sonst muß ich mein ganzes Geld in dem Kaffeehaus lassen: für Licht und Tinte und Möbelabnützung, und alle die schönen Dinge, die ich noch sagen wollte, müssen ungesagt bleiben. Aber wir wollen wetteifern, wer früher Martha zu Gesicht bekommt: ich oder dieses Geschreibsel. Wir reisen mit demselben Zug, und dann fängt das Glück an, das hohe, einzige Glück, bei der Geliebten zu sein, das so nahe ist, und ich gewöhne mich schon an den Gedanken, es bald erlebt zu haben, denn ich konnte es nicht glauben und hatte die Angst empfunden, von der der Dichter singt: »Welt geh nicht unter, et cetera.

Aber ade jetzt, süßes Marthchen

Auf Wiedersehen
Dein seliger Geliebter Sigmund

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An Martha Bernays

Hamburg, Sonntag, 23. Juli 1882

Nathan heißt du Jude?
(Ein seltsamer Jude hm)
Sprich weiter, wackrer Nathan. Zitat aus ›Nathan der Weise‹ von Gotthold Ephraim Lessing

(Oder so ähnlich; ich kann jetzt nicht in die Stadtbibliothek laufen, um ein Zitat zu verifizieren. Der auf dem Gänsemarkt Lessing wird's verzeihen.) Dies war der Anfang unserer Bekanntschaft. Ich hatte plötzlich ein kleines Mädchen sehr lieb und befand mich plötzlich in Hamburg. Sie hatte mir einen Ring gesandt, den ihre Mutter einst von ihrem Vater bekommen hatte; ich hatte nach Muster dieses Ringes einen kleineren für ihren winzigen Finger nachmachen lassen, aber es schien, daß der echte Ring doch bei ihr geblieben, denn alle, die sie sahen und sprachen, hatten sie lieb, und das ist doch das Zeichen des echten Ringes. Mir war es beinahe unlieb, ich sann lange nach, wie ich sie schlechtmachen könnte, daß sie keiner mehr liebgewinnen dürfte, bis mir einmal einfiel, daß es nur darauf ankommt, ob sie mehrere liebhabe, nicht ob mehrere oder alle sie liebhaben. Nachdem mir dieser Einfall gekommen war, befand ich mich in Hamburg sehr wohl. Der Morgen war immer warm und schön, der Abend war dem Morgen so nahe und dem Tag war ich dankbar, daß er die Lücke zwischen schönem Morgen und schönem Abend ausfüllte. Freilich, das tyrannische Naturell, das machte, daß sich die kleinen Mädchen vor mir fürchteten, war nicht zum Schweigen zu bringen. Ich wollte Ausschließlichkeit, und da ich sie im Großen und Bedeutsamen erlangt hatte, strebte ich sie im Kleinen und Symbolischen an. Mein Mädchen war aus einer Gelehrtenfamilie, und schriftstellerte – zunächst nur Briefe – mit unermüdlicher Hand und verbrauchte ihr kleines Geld für Briefpapier. Ich brauchte also Briefpapier für das liebe fleißige Kind und wählte solches, auf dem sie nur mir schreiben konnte. Ein M und S innig verschlungen, wie dies uns die Großherzigkeit der Graveure verstattet, machten jeden Bogen für jeden anderen Verkehr als zwischen Marthchen und mir untauglich. Der Mann, bei dem ich dieses despotische Papier am Freitag bestellte, wollte es erst am Sonntag liefern; denn am Sonnabend, sagte er, sind wir nicht hier. Es ist so eine alte Sitte bei uns. Oh, ich kenne die alte Sitte. Es war ein jovialer alter Herr, den ich auf vierundfünfzig schätzte; mit diesem Irrtum gewann ich sein Herz, wie kurz zuvor ein anderes Herz durch einen anderen Irrtum. Er war vierundsiebzig Jahre alt und rühmte seine Genuß- und Arbeitsfähigkeit und versicherte, daß er gar nicht so bald von dem Leben zu scheiden gedenke. Der Mann gefiel mir. Ich war gerade in ähnlicher Stimmung. Sonntags sah ich ihn wieder. Er war sehr stolz auf die Eleganz des Monogrammes, aber er wollte mich nicht bloß als Kunden behandeln. Er zeigte mir das Gebäude der Deutschen Bank, seinem Laden gegenüber. »Dort haben die Hamburger Kaufleute ihr Geld liegen, das sie nicht zu Hause lassen wollen, diese Keller liegen voll Gold- und Silbervorrat.« Ich sprach die Hoffnung aus, daß eine Ader des reichen Metallagers auch in seinen Laden hinüberreiche. Aber Kaufleute dissimulieren immer. Er erklärte sodann, weshalb so viele Leute in das Gebäude strömen. Wenn Sie mir etwas schuldig sind, anstatt daß Sie mir bar bezahlen, wird es auf der Bank von Ihrem Konto auf meines geschrieben. Mir wurde schwül; bis auf das Schuldigsein verstehe ich so gar nichts vom Bankwesen. Aber er ließ mich nicht fort, ich mußte einen Stuhl neben ihm einnehmen, und er fragte mich aus, wo ich bereits gewesen, und riet mir diesen und jenen Ausflug an: »Ich würde gerne selbst mit Ihnen gehen, aber ich bin ein alter Jude, und sehen Sie mich an.« Ich sah, sein Bart war struppig. Sie konnten sich gestern nicht rasieren lassen. »Nicht wahr, das wissen Sie, was für (ein) Fasttag jetzt bald kommt.« Ich wußte das leider; weil Jerusalem vor vielen Jahren um diese Zeit – nach einer falschen Zeitrechnung – zerstört worden war, sollte ich mein Mädchen am letzten Tag meines Hierseins nicht sprechen dürfen. Aber was ist mir Hekuba? Jerusalem ist zerstört, und Marthchen und ich leben und sind glücklich. Und die Geschichtsforscher sagen, wenn Jerusalem nicht zerstört worden wäre, wären wir Juden untergegangen wie so viele Völker vor uns und nach uns. Erst nach dem Zerfall des sichtbaren Tempels sei der unsichtbare Bau des Judentums möglich geworden. Also neun Tage vor Tischo-B'ow, sagte mein alter Jude, versagen wir uns jedes Vergnügen. Wir sind hier eine Reihe von Männern von der alten Schule, die alle fest an der Religion halten, ohne sich dabei vom Leben abzuschließen. Wir verdanken unsere Erziehung einem Mann. In früheren Jahren waren Hamburg und Altona eine jüdische Gemeinde, später trennten sie sich; der Unterricht wurde von untergeordneten Lehrern besorgt, bis die Reform in Deutschland kam. Da sah man ein, daß man etwas tun müsse, und berief einen gewissen Bernays, den man zum ›Chacham‹ machte. Der Mann hat uns alle gebildet. Er wollte von seinen Leistungen sprechen, aber mich interessierte der Mann zunächst. War er ein Hamburger? Nein, er ist aus Würzburg gekommen, Napoleon I. hat ihn dort studieren lassen. (O sagenbildende Kraft der Völker!) Er kam als ganz junger Mann hierher, vor dreißig Jahren hat er hier noch gelebt. Haben Sie seine Familie gekannt? »Ich bin ja mit den Söhnen aufgewachsen.« Ich erinnerte mich jetzt an zwei Namen, Michael Bernays in München, Jacob Bernays in Bonn. Das sind sie, bestätigte er, es war noch ein dritter Sohn, der hat in Wien gelebt und ist dort gestorben. Ich wußte auch von diesem dritten etwas, dessen Name so hinter den Brüdern in den Hintergrund trat. Das reiche Wesen des Vaters hatte sich in den Söhnen geteilt. Der Vater war Sprachforscher, Schriftausleger und hatte bedeutende Kinder hinterlassen. So blieb denn der eine Sohn bei der Sprache stehen, deren Material die wissenschaftliche Arbeit seines Lebens mit Beschlag belegte, der andere lehrt noch jetzt den feinen Geschmack und die Weisheit schätzen, die unsere großen Dichter und Lehrer in ihre Schriften gelegt haben. Der dritte, ein ernster, verschlossener Mann, erfaßte das Leben noch tiefer, als Wissenschaft und Kunst es vermögen; er war rein menschlich und schuf neue Schätze, anstatt die alten auszulegen. Ehre seinem Andenken, der mir Marthchen geschenkt hat.

Wenn mein alter Jude, der jetzt mit Begeisterung von den Lehren seines Meisters sprach, geahnt hätte, daß sein Kunde, angeblich Dr. Wahle aus Prag, morgens die Enkelin des von ihm so verehrten Mannes geküßt. Er erzählte weiter von seinen Jugenderinnerungen, und Züge des weisen Nathan tauchten jetzt in seinem Gemüte auf. Er war ein außerordentlicher Mensch und lehrte die Religion mit solchem Geist und Humanität. Wenn jemand gar nichts glauben will, ach, dann ist nichts mit ihm zu machen; wenn er aber einen Grund verlangt für dies und jenes, was als unsinnig gilt, so stellte er sich außerhalb des Gesetzes und rechtfertigte es von da aus auch für den Ungläubigen. Zum Beispiel die Speisegesetze: was kann gleichgültiger sein, als was man ißt? Aber da sagte er: gehen wir auf die Schöpfungsgeschichte zurück, es ist vielleicht aus einer Fabel, aber was die ganze Menschheit seit Jahrhunderten glaubt, kann doch kein Unsinn sein, muß einen Sinn enthalten. Als Gott die ersten Menschen geschaffen hatte und sie in den Garten Eden setzte, war nicht das erste Gebot, das er ihnen gab, ein Speisegebot? Von diesem Baum dürft ihr essen und von dem einen hier nicht. Warum war's nicht ein moralisches Gebot? Und wenn Gott als erstes Gebot ein Speisegebot gab, kann es eine gleichgültige Sache sein, wie man ißt? Er erzählte noch mehrere solcher sinnreicher Stütz- und Erklärungsversuche. Ich kannte ja die Art. Der Anspruch der Heiligen Schrift auf Wahrheit und Gehorsam war so nicht zu stützen, es war da keine Reform berechtigt, nur ein Umsturz; aber es lag ein ungeheurer Fortschritt, eine Art Erziehung des Menschengeschlechts in Lessingschem Sinne in solcher Lehrweise. Die Religion war nicht mehr starres Dogma, sie wurde zum Gegenstand des Nachsinnens, zur Befriedigung des verfeinerten künstlerischen Geschmacks und gesteigerter logischer Anforderungen und schließlich empfahl sie der Hamburger Lehrer, nicht weil sie einmal als geheiligt vorhanden war, sondern weil er sich des tiefen Sinnes freute, den er in ihr entdeckte oder in sie hineintrug. Es war Kritik, wenn auch willkürlich gehandhabte und fest bestimmten Zielen zusteuernde, wohl geeignet, den Schülern die entscheidende Richtung zu geben, die mein alter Jude jetzt noch bewahrte, als ich für die Enkelin des Lehrers unser Monogramm bei ihm holte.

Er war kein Asket, setzte er fort. Der Jude, sagte er, ist die höchste Blüte des Menschen und für den Genuß geschaffen. Er verachte jeden, der nicht genießen könne. (Ich mußte mich erinnern, was Eli von seiner Weltanschauung zu seinen Ehren im Rausche verraten hatte: Homo sum). Das Gesetz schreibt dem Juden vor, sich jedes kleinen Genusses zu freuen, über jede Frucht die Broche zu sprechen, die an den Zusammenhang mit der schönen Welt, in der sie gewachsen ist, erinnert. Der Jude ist für die Freude, und Freude ist für den Juden. Der Lehrer erläuterte dies an der Steigerung der Feste.

Zu Neujahr sagt der Christ: Wenn wir nur im neuen Jahr bessere Zeiten haben als im alten. Für den Juden kommt zuerst Roschhaschono, da wird das Los bestimmt fürs ganze Jahr. Da darf uns bange sein vor der göttlichen Entscheidung: Das ist das Fest der Gottesfurcht. Zu Jom Kippur fasten wir den ganzen Tag, Gott zuliebe, nur die Liebe kann ein solches Opfer bringen. Es ist das Fest der Gottesliebe. Dann aber kommt Succoth, von dem geschrieben steht: Der Jude soll nur fröhlich sein an diesen Tagen, und ein Tag heißt Gesetzesfreude. Es ist das Fest der Gottesfreude.

Ein Kunde kam, und Nathan war wieder Kaufmann. Ich empfahl mich bewegter, als der alte Jude ahnte. Wenn er nach Prag kommen sollte, werde er sich das Vergnügen machen, mich aufzusuchen. Er wird mich nicht in Prag finden, aber als Ersatz will ich ihm eine andere Freude bereiten. Wenn mein Marthchen etwas von papierenen Geschenken nach Wien nehmen will, soll sie auf den Adolphsplatz zu unserem alten Juden, dem Schüler ihres Großvaters gehen und ihm ihren Namen nennen. Er soll merken, daß der Stamm seines Lehrers nicht verdorben ist, seitdem er zu seinen Füßen gesessen hat. Und für uns beide glaube ich: wenn die Form, in der die alten Juden sich wohl fühlten, auch für uns kein Obdach mehr bietet, etwas vom Kern, das Wesen des sinnvollen und lebensfrohen Judentums, wird unser Haus nicht verlassen.

Dein Sigmund

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An Martha Bernays

Wien, Donnerstag, 17. August 1882

Mein geliebtes Mädchen

An diesem Datum vor einem Monat sahen Dich meine frohen Augen wieder, wie Du in der Veranda des Philippschen Hauses saßest und Du erkanntest mich nicht, und vor zwei Monaten warst Du eben meine Verlobte geworden. Wenig, sehr wenig ist seitdem geschehen, die Vereinigung, die wir anstreben, zur Wirklichkeit zu machen. Doch haben wir die Zeit auch nicht ganz ungenützt gelassen. Wir waren einander fremd, mußten uns kennenlernen, etwas miteinander erleben, das haben wir erreicht, und wenn wir beide gesund bleiben und kein Dämon unsere Gesinnungen gegeneinander verwirrt, werden die folgenden Monatstage unseres Verlöbnisses uns auch auf dem Wege zum ersehnten Ziel vorgeschritten finden. Für Dich, Du Arme, muß ja die Hoffnung auf die Zukunft Entschädigung für die vielen Opfer, die Du Dir jetzt auferlegst, bringen; mir hat sich die Kühnheit, um Dich zu werben, bereits durch das Bewußtsein des süßesten Glückes gelohnt. Wenn ich eine Bitte heute wiederholen soll, sei nicht wortkarg oder verschlossen gegen mich, mach mich lieber zum Mitwisser einer kleinen Unzufriedenheit oder selbst einer größeren, die wir als ehrliche Freunde und gute Kameraden schlichten und ertragen wollen. Auf Kosten der Schonung, die Dein zartes Wesen beanspruchen darf, habe ich selbst immer so gehandelt, und Du sagtest, es war Dir recht. Wenn ich Dich damit oft gekränkt, so hast Du doch nicht mein Bemühen verkannt, Dich mir so innig als möglich zu eigen zu machen, und wenn das egoistisch ist, so kann doch die Liebe nicht anders als egoistisch sein.

Es ist nur der Reflex meiner gewöhnlichen armseligen Stimmung, wenn ich davon spreche, denn es gibt ja jetzt keine Differenz zwischen uns, und ich fürchte keine, und auch kein Ereignis, das uns trennen könnte. Schmerzlich ist's mir nur, daß ich so machtlos bin, Dir meine Liebe zu bezeugen; aber wenn Du mir glaubst und mich lieb hast – und das weiß ich beides – so bleiben wir gewiß beide frisch und genußfähig für freundlichere Zeiten. Schilt mich nicht, daß ich so ernst bin, Marthchen, Du weißt, ich kann froh sein, wenn Du bei mir bist.

Mit herzlichen Grüßen und in ungeduldiger Erwartung, daß dieser abscheuliche Monat sich in die Vergangenheit zurückzieht

Dein Sigmund

*

An Martha Bernays

Wien, 18. August 1882, nachts

Warum ich wieder zum Papier mich wende?
Das mußt Du, Liebster, so bestimmt nicht fragen:
Denn eigentlich hab ich Dir nichts zu sagen;
Doch kommt's zuletzt in Deine lieben Hände.

Weil ich nicht kommen kann, soll, was ich sende,
Mein ungeteiltes Herz hinüber tragen
Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen:
Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende.

Mein geliebtes Mädchen

Ein Freund, sonst ein hartgesottener Sünder, mit dem ich gerne über die Unvernunft dieser Welt klage, wurde heute plötzlich weich und in's andere Zimmer gehend, holte er aus dem Schrank des Meisters Goethe unvergleichliche Gedichte und las mir daraus Zeilen vor von tiefinniger Empfindung, die für mich mehr Sinn enthielten als für ihn, so daß ich, um mich nicht zu verraten, weglief und um mit meinen Gedanken allein zu sein. Ich konnte nicht mehr fleißig sein an diesem Nachmittag, bald traf mich ein anderer Freund, mit dem ich einst zusammen die Universität bezogen hatte, der seitdem durch ein trauriges Mißgeschick weit weg von seinen ursprünglichen Zielen geschleudert wurde. Der Verkehr mit den Freunden hat jetzt einen eigenen Reiz, fast gleichzeitig hat sich uns der Ernst des Lebens erschlossen; was wir zu Anfang hoch und teuer hielten, aber leicht erreichbar glaubten, ist uns in weite Ferne gerückt, aber noch immer teuer, und mancher trägt vielleicht auch wie ich ein neues teures Streben verschlossen im Herzen. Obwohl ich so verstimmt bin, so müde und wenig hoffnungsvoll in die Zukunft schaue, finde ich doch keinen, mit dem ich die Lose tauschen wollte; ich denke doch nicht klein von mir, und Marthchen, mein Marthchen, was hätte man mir für sie zu bieten.

Wir sind alle arm und versprechen einander zu helfen, wenn wir können. Alle sind sie gut oder sie sind nicht meine Freunde, wir können so wenig füreinander tun, und doch scheide ich selten von einem, ohne zu fühlen, daß er mir sehr wohlgetan, daß der Anteil, den er an mir nimmt, die Hoffnung, die er auf mich setzt, mich aus meiner Niedrigkeit erhoben, einen Teil des Unrechts, das gegen mich verübt worden, aufgehoben, und ich habe ihm vielleicht das Gleiche getan. Nicht so beseligend wie das Bewußtsein, von einem erlesenen Mädchen geliebt zu werden, wollte ich doch nicht darauf verzichten, daß so viele Männer unauffällig mit mir zusammenstehen und mir leben helfen! Dann versöhne ich mich auch leicht damit, daß wir so arm sind. Denke Dir, süßes Mädchen, wenn der Erfolg genau dem Verdienst des Einzelnen entspräche, müßte da nicht die Innigkeit der Neigung verlorengehen? Ich wüßte nicht, ob Du mich liebst oder die Anerkennung, die ich erhalten, und wenn ich im Unglück wäre, würde das Mädchen sagen, ich liebe Dich nicht mehr, Dein Unwert ist entschieden. Es wäre so häßlich wie in der Welt der Uniformen, wo jedem sein Verdienst am Kragen und auf der Brust geschrieben steht. Bei den Wechselfällen aber und bei der launenhaften Ungerechtigkeit, mit der das Glück das Verdienst belohnt oder übergeht, darf die treue Liebe auch beim Armen ausharren, ohne unwahr zu werden, und wenn ich den Menschen unansehnlich und gleichgültig bin, bei Dir darf ich reich und gewaltig, unumschränkt in Lob und Anerkennung sein.

O mein teures Marthchen, wie arm sind wir! Wenn wir mitteilen sollten, wir wollen miteinander leben, und sie fragen uns: Was bringt ihr dazu mit? Nichts als daß wir einander liebhaben. Und sonst nichts? Wir brauchen doch zwei oder drei Zimmerchen, um darin zu wohnen und zu essen und einen Gast zu empfangen und einen Herd, auf dem das Feuer für die Mahlzeiten nicht ausgeht. Und was da alles drinnen sein soll. Tische und Stühle, Betten, Spiegel, eine Uhr, die die Glücklichen an den Lauf der Zeit erinnert, ein Lehnstuhl für eine Stunde behaglicher Träumerei, Teppiche, damit die Hausfrau leicht den Boden rein halten kann, Wäsche mit zierlichen Bändern gebunden im Kasten und Kleidchen von neuem Schnitt und Hüte mit künstlichen Blumen, Bilder an der Wand, Gläser für alltägliches Wasser und festlichen Wein, Teller und Schüsseln, eine kleine Vorratskammer, wenn uns plötzlich der Hunger oder ein Gast überfällt, ein großer Schlüsselbund, der hörbar klirren muß, und es gibt so viel, woran man sich freuen kann, die Bücherei und das Nähtischchen und die vertrauliche Lampe, und alles muß in gutem Stand gehalten werden, sonst sträubt sich die Hausfrau, die ihr Herz in kleine Stückchen geteilt hat, für jedes Gerät eines. Und dies Ding muß von der ernsten Arbeit zeugen, die das Haus zusammenhält, dies andere von Kunstsinn, von teuren Freunden, an die man sich gerne erinnert, von Städten, die man gesehen, von Stunden, die man gerne zurückrufen möchte. Dies alles, eine kleine Welt von Glück, von stummen Freunden und Zeugen edler Menschlichkeit, es muß alles erst kommen, es ist noch das Fundament des Hauses nicht gelegt, nur zwei arme Menschenkinder sind da, die sich so unsagbar liebhaben.

Sollen wir unser Herz an so kleine Dinge hängen? Solange nicht ein großes Schicksal an die stille Tür pocht – ja und ohne Bedenken. Und dann müssen wir einander jeden Tag sagen, daß wir einander noch liebhaben. Es ist was Schreckliches um zwei Menschen, die sich lieben und die Form oder die Zeit nicht finden, es sich zu sagen, warten bis ein Unglücksfall oder eine Verstimmung ihnen den Aufschrei der Zärtlichkeit entlockt. Man muß mit Zärtlichkeit nicht kargen, was man von den Fonds verausgabt, ist durch die Ausgabe selbst von neuem ersetzt. Berührt man sie lange nicht, so werden sie unmerklich weniger oder das Schloß wird rostig, man hat sie dann und kann sie nicht verwenden. Ach, nicht einmal zwei arme Menschenkinder, die sich lieben, sind jetzt da. Nur eines, das andere ist weit weg und tut sich beständig Zwang an in seiner Güte, das arme süße Kind, das schon so viel Trauriges erlebt, wovon sie nicht spricht, und kaum daß sie wieder frei atmen darf, sich dem Armen, vom Glück Verlassenen hingegeben, auf ihren kleinen Anteil von Lebensfreude so gern verzichtend. Aber Du mußt mir Glück bringen, Du bist selbst das Glück für mich, ohne Dich ließe ich jetzt ohne Lebenslust die Arme sinken, mit Dir, für Dich, will ich sie rühren, uns unseren Teil an dieser Welt zu erobern, ihn mit Dir zu genießen.

Sei mir recht herzlich gegrüßt; vielleicht denkst Du gerade an mich; es ist die Zeit, wo Du im Garten auf mich wartetest.

Dein Sigmund


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