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1890

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An Wilhelm Fliess

Reichenau, 1. August 1890

Verehrter Freund!

Herzlich ungern schreibe ich Ihnen heute, daß ich nicht nach Berlin kommen kann – es ist mir gar nicht um die Stadt oder den Kongreß –, sondern daß ich Sie nicht in Berlin sehen kann. Es ist nicht ein einziges großes Motiv, das meinen Entschluß umgestoßen hat, sondern jene Vereinigung kleiner Gründe, die bei einem Praktiker und Familienvater so leicht zustande kommen kann. Es geht mir von keiner Seite zusammen, nicht ärztlich, wo meine Hauptklientin gerade eine Art nervöser Krise durchmacht, ...nicht in der Familie, wo allerlei mit den Kindern los war (ich habe jetzt Tochter und Sohn), und meine Frau, die sonst niemals ein Hindernis für kleine Reisen sein will, gerade diese Reise sehr ungern sieht, und dergleichen mehr. Kurz, es geht nicht zusammen, und da ich die Reise im Sinne eines großen Vergnügens sehe, das ich mir bereite, bin ich veranlaßt worden, auf dieses Vergnügen zu verzichten.

Sehr ungern, denn ich hatte mir von dem Verkehr mit Ihnen sehr viel erwartet. Sonst recht zufrieden, glücklich wenn Sie wollen, bin ich doch sehr vereinsamt, wissenschaftlich abgestumpft, faul und resigniert. Wenn ich mit Ihnen sprach und merkte, daß Sie so (gut) von mir denken, pflegte ich sogar selbst was von mir zu halten, und das Bild der überzeugungsvollen Energie, das Sie boten, war nicht ohne Eindruck auf mich. Auch ärztlich hätte ich gern viel von Ihnen und vielleicht von der Berliner Atmosphäre profitiert, da ich seit Jahren ohne Lehrmeister bin und so ziemlich ausschließlich in der Behandlung der Neurosen stecke.

Kann ich Sie nicht anders sehen als zur Kongreßzeit in Berlin? Reisen Sie nicht nachher? Oder kommen Sie nicht im Herbst zurück? Verlieren Sie die Geduld nicht, nachdem ich Sie ohne briefliche Antwort gelassen und jetzt Ihre nicht an Herzlichkeit zu übertreffende Einladung abgelehnt habe. Lassen Sie mich etwas von einer Aussicht hören, Sie mehrere Tage zu sehen, um Sie nicht als Freund zu verlieren.

Mit herzlichem Gruß

Ihr herzlich ergebener
Dr. Sigm. Freud


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