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1896

*

An Wilhelm Fliess

Wien IX, Berggasse 19, 2. April 1896

Teurer Wilhelm

...

Ich komme im ganzen mit der Neurosenpsychologie sehr schön fort, habe allen Grund, zufrieden zu sein. Ich hoffe, Du leihst mir Dein Ohr auch für einige metapsychologische Fragen...

Wenn uns beiden noch einige Jahre ruhiger Arbeit vergönnt sind, werden wir sicherlich etwas hinterlassen, was unsere Existenz rechtfertigen kann. In diesem Bewußtsein fühle ich mich stark gegen alle Sorgen und Mühen des Tages. Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke. Therapeut bin ich wider Willen geworden; ich habe die Überzeugung, daß ich Hysterie und Zwangsneurose definitiv heilen kann, gewisse Bedingungen der Person und des Falles zugegeben.

Also jetzt auf Wiedersehen. Wir haben uns die schönen Tage rechtschaffen verdient.

Wenn Du von Frau und Sohn über Ostern Abschied nimmst, grüße sie auch in meinem Namen.

Dein Sigm.

*

An Wilhelm Fliess

Wien IX, Berggasse 19, 2. November 1896

Teurer Wilhelm

Das Schreiben fällt mir jetzt so schwer, daß ich es lange aufgeschoben habe, Dir für die zum Herzen dringenden Worte in Deinem Brief zu danken. Auf irgendeinem der dunkeln Wege hinter dem offiziellen Bewußtsein hat mich der Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr genau verstanden, und er hat viel in meinem Leben gemacht, mit der ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn. Er war lange ausgelebt, als er starb, aber im Innern ist wohl alles Frühere bei diesem Anlaß aufgewacht.

Ich habe nun ein recht entwurzeltes Gefühl.

Sonst schreibe ich Kinderlähmung (Pegasus im Joche!), freue mich mit meinen sieben Kuren und besonders mit der Aussicht, Dich einige Stunden zu sprechen. Einsam, das versteht sich. Vielleicht erzähle ich Dir einige kleine tolle Sachen im Austausch für Deine großen Ahnungen und Funde. Weniger erfreulich ist heuer das Geschäft, von dem meine Stimmung immer abhängig bleibt...

Unlängst habe ich die erste Reaktion auf meine Einmengung in die Psychiatrie vernommen. »Grauen, schauerlich, Altweiberpsychiatrie« zitiere ich Dir daraus. Rieger in Würzburg. Ich war höchlich amüsiert. Gerade bei der Paranoia, die durchsichtig geworden ist!

Dein Buch läßt auf sich warten. Wernicke hat mir unlängst einen Patienten, im Offiziersspital befindlichen Leutnant, zugewiesen.

Einen netten Traum muß ich Dir erzählen von der Nacht nach dem Begräbnis: Ich war in einem Lokal und las dort eine Tafel:

Es wird gebeten
die Augen zuzudrücken.

Das Lokal erkannte ich gleich als den Friseurladen, den ich täglich besuche. Am Tage des Begräbnisses mußte ich dort warten und kam darum etwas später ins Trauerhaus. Meine Familie war damals mit mir unzufrieden, weil ich das Leichenbegängnis still und einfach bestimmt hatte, was sie später als sehr berechtigt anerkannte. Sie nahmen mir auch die Verspätung etwas übel. Der Satz auf der Tafel ist doppelsinnig und heißt nach beiden Richtungen: Man soll seine Pflicht gegen den Toten erfüllen. (Entschuldigung, als ob ich's nicht getan hätte und Nachsicht brauchte – die Pflicht wörtlich genommen.) Der Traum ist also ein Ausfluß jener Neigung zum Selbstvorwurf, die sich regelmäßig bei den Überlebenden einstellt...

Grüß mir I.F. und R.W.F. herzlichst, meine Frau ist vielleicht schon bei Dir.

Dein Sigm.


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