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34. Kapitel

Versöhnung ... Der Krieg

Eggert Ott war gleich nach den Worten und dem Hinfall des Vaters aus der Kirche gelaufen und mit langen Schritten nach dem Suhlschen Hof gegangen; sein leerer Ärmel hatte sich aus der Tasche gelöst und war im Wind hinter ihm hergeflogen. Als Höbke Suhl, die sicherst überzeugt hatte, wie es mit seinem Vater stand, hinter ihm her nach Hause kam, erzählte sie erst ihrer Mutter, die nicht in der Kirche gewesen war, mit fliegenden Worten, was geschehen war, und fragte dann, wo er wäre. Aber die wußte es nicht. Da ging sie durchs ganze Haus und dann durch den Garten. Und da stand er unter dem alten Birnbaum am Graben, dort, wo sie sich früher über den Graben hin so oft mit ihm unterhalten hatte und ihm die reifen Birnen hinübergeworfen hatte.

Er war sehr blaß und verstört und biß sich auf die Lippen, und es schien, daß er geweint hatte. Er warf einen raschen Blick auf sie und sagte: »Ist er wieder hochgekommen?«

»Ja,« sagte sie, »ich ging erst dann aus der Kirche, als ich sah, daß es eine schwere Ohnmacht war.«

Er starrte weiter über das Feld nach dem Elternhaus hinüber und sagte: »Eben haben sie ihn nach Haus gefahren ... mir schien, er lag nicht, er saß« ... Er atmete heftig und schwer. »Er hatte das wirklich nicht nötig gehabt! ... Nein, das war nicht nötig!«

Sie sah ihn mit ihren gütigen, so beredten Augen an – ihre Augen mußten immer für sie reden, da der Mund nicht recht konnte – und sagte bedächtig: »Ob es nötig war oder nicht ... ich finde ... es macht ihm große Ehre, Eggert! ... Oder meinst du das Gegenteil? Fürchtest du das Gerede, das nun wieder über die Otten losgehn wird?«

Er fuhr auf und sagte mit flammenden Augen: »Es soll sich einer unterstehen und ein Wort über meinen Vater sagen! ...« Und bitterlich aufweinend sagte er: »Der beste Mensch auf der ganzen Welt!«

»Er war immer so, Eggert!« sagte sie langsam und vorsichtig.

»Das weiß ich ja!« sagte er wild. »Was meinst du, warum ich sonst so rasend gegen ihn gewesen bin?! Meinst du, daß ich die ganze Zeit verrückt gewesen bin um nichts und wieder nichts?!«

»Nein ... nein!« sagte sie. »Ich verstehe wohl ... so war es! ... Und nun?« Sie zog die Brauen so dicht zusammen, daß ihre hübschen klugen Augen nah beieinander standen, und sah ihn unsagbar fragend gütig an. »Und nun?« sagte sie noch einmal.

»Und nun?« sagte er zornig ... »Ich muß ja nun hin! Das ist es.«

»O, Rode Praß!« sagte sie glücklich. »Ach ... das ist recht!«

»Ja,« sagte er mit zornigen Tränen in den Augen, »es hilft nun nichts ... ich muß nun hin! ... Und das gleich ... Daß es ihm solche schreckliche Not gemacht hat ... das habe ich nicht gewußt! ... Er muß doch bedenken, daß ich noch nicht vierundzwanzig bin! Kann ich denn handeln wie ein Dreißiger? Das muß er doch bedenken?!«

»Er wird es auch bedenken, Eggert! Sei nur still! Komm! Ich geh' mit dir!«

»Ja ... wenn du mitgehst ... dann wird es viel leichter! ...« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie und preßte sie gegen seine Brust. Er hatte ja keine zweite Hand, sie festzuhalten.

So gingen sie Arm in Arm durch den Garten. Als sie an der Bank und dem Soot vorbeikamen, blieb sie stehn, und sagte: »Dein Vater war gestern bei mir ... wir haben fast zwei Stunden hier auf der Bank gesessen.«

»Er war hier?« sagte er verwundert. »Was wollte er? Was habt ihr geredet? Sagte er, daß er dies ... dies in der Kirche tun wollte?!«

»Nein,« sagte sie, »er hatte etwas andres auf dem Herzen.«

»Etwas andres? Was denn?«

»Soll ich es sagen?«

»Ja,« sagte er, »sag' es doch ...« Er war völlig ahnungslos.

Sie war rot und völlig verwirrt, und konnte es nicht sagen. Dann stieß sie es rasch und fast unfreundlich hervor: »Er hat den Freiwerber gespielt! Er sagte, du hättest mich gern ... er und der alte Peter haben es gesehn ... sagte er.«

Er sah sie mit einem hilflosen Blick an; und sah dann weg, ganz wie ein Junge, der unter einem Apfelbaum gefunden wird, der nicht in seines Vaters Garten steht. Da wußte sie, wie es um ihn stand, und gewann wieder ein wenig Sicherheit und sagte in ihrer hübschen zögernden, boshaften Art: »Ja ... das ist ein schwerer Tag ... für dich, Rode Praß! ... Erst sollst du nun mir ein gutes Wort sagen und dann deinem Vater ... so wie Pastor Bohlen vorhin in seinem dritten Teil gefordert hat ... Da stehst du nun, und hast...« sie wollte sagen: »all deinen Witz verloren.«

»... Und hast nur den einen Arm ...« sagte er.

Da legte sie wieder, mit rascher, gütiger Bewegung, wie um seine wunde Seele zu schützen, so wie sie vor vier Wochen in ihrem Stübchen getan, den Arm um seine verstümmelte Schulter und sagte wieder: »Ach, Eggert! Darum bist du mir ja nur viel, viel lieber! Das ist ja für uns alle geschehn!« Und da sie einmal so weit war, küßte sie ihn rasch und scheu ... ganz ungeschickt; denn sie hatte es noch nie getan. Sie war unsagbar verwirrt, und war in diesem Augenblick die Schönste im ganzen Land.

Da riß er sie an sich, mit seinem einen Arm, und küßte sie ganz sinnlos, ganz aus Rand und Band, und sagte immer, wenn er sie wieder küssen wollte: »Schmeiß mehr Birnen herüber! Mehr! Mehr!« ... Der richtige, unvernünftige Rode Praß!

Sie sagte gar nichts. Sie wußte nicht, wie ihr geschah.

Das war ihr Verlöbnis.

Als sie die Hofstelle seines Vaters erreichten, stand der Thomsensche Wagen da vor der Tür, und Harm stand abschiedfertig neben seiner Mutter.

Als sie Eggert sah, schrie sie laut auf und lief ihm entgegen und umfaßte ihn, und ging ohne ein Wort zu sagen mit ihm, und zog ihn in die Tür und zu seinem Vater.

Höbke Suhl blieb draußen und stand bei Harm, der nun in den Wagen stieg und sich neben den Gefangenen, den Russen Symeon, setzte, der die Leine führte.

»Komm gesund wieder, Harm,« sagte sie ... »Wo ist Lisbeth?«

»Im Garten und weint,« sagte er mit stillem Gesicht ... »Wir mögen keinen Abschied vor den Leuten,« sagte er würdig ... »Ist es wahr, Höbke ... daß du und Eggert einig miteinander seid?«

»Ja,« sagte sie, und wurde rot, und sah ihn mit ihren zusammengezogenen Brauen an.

Er schüttelte ihre Hand und sagte freundlich lächelnd: »Wie verlegen du bist ... und wie hübsch es dir steht! ... Geh' zu Lisbeth, und sag' ihr ein paar freundliche Worte!«

Damit fuhr er ab.

Als seine Mutter wieder aus der Stube kam, allein – Eggert war noch bei seinem Vater geblieben – war er schon auf dem breiten Weg, der zum Bahnhof führt.

 

Auf dem Bahnhof traf er schon einige Bekannte, die gleich ihm den Urlaub hinter sich hatten. Sie fragten einander: »Na ... auch wieder los?« ... und zuckten die Schultern und sagten: »Was ist zu machen? Sie wollen ja keinen Frieden geben!« Dann standen sie da herum, und sprachen in ihrer ruhigen, langsamen Weise von der Fahrt und den Stationen und dem Aufenthalt. »Du hast es nicht so weit!« sagten sie. Zwei wollten nach Flandern, einer nach Rußland, einer nach Rumänien. Der mußte fünf Tage unterwegs sein.

Im Abteil kam er dann mit anderen Kameraden zusammen und es gab wieder dieselbe Unterhaltung: über die Fahrt, über den Krieg, über den Frieden. Sie waren nicht fröhlich; sie waren nicht traurig; ihre Seelen waren von einer harten Notwendigkeit umklammert und eingezwängt, von der Notwendigkeit, weiter Krieger zu sein, fern von der Heimat und dem freundlichen Leben der Familie und des Berufs, heimatlose Wanderer, in Kampf und Not.

Auf dem Bahnhof in Hamburg hatte er eine Stunde Aufenthalt. Die kleine Tasche mit der Wäsche in der Hand, ging er grade und schmuck, sehr sauber gekleidet, wie der Seemann es sich leisten kann – der Landsoldat kommt gleich wieder in Lehm und Dreck – die große Halle auf und ab, stand mal hier und da an der Tür der Wartesäle und vor dem Eingang zu den Bahnsteigen, und ging dann wieder weiter, und dachte an dies und das, an seine Braut, an seine Eltern. Mit stillen, ehrfürchtigen Gedanken gedachte er Reimers, mit inwendigem Lächeln des Bruders Klaus, mit Freuden nun Eggerts, mit Ruhe der jungen Schwester, die nun schon verheiratet war. Wenn er denn selbst nicht wiederkäme ... es würde nun auch ohne ihn gehn. Es mußte ja ohne ihn gehn. Auch Lisbeth mußte sehn ... ach ... nicht so weit denken! Den Kopf hoch halten! Immer denken: Wenn nur das Fähnlein flattert!

Die ganze große Halle wimmelte von Feldgrauen und Matrosen. Die einen kamen, wie er, von ihrem Urlaub und warteten auf Weiterfahrt, suchten und trafen Kameraden und redeten sie an, und sammelten sich zu Haufen. Andere kamen eben von den Fronten. Es war wohl gerade ein Zug angekommen und die Angekommenen mischten sich eben mit ihren Angehörigen, die wartend gestanden hatten, oder gingen, um ihre Weiterfahrt bemüht, suchend und fragend ihres Wegs. Ein Kleiner, Breiter, der rund um seinen Gürtel Pakete gebunden trug, darunter einen ganzen kleinen Stall mit jungen belgischen Kaninchen für seine Kinder daheim, suchte sich mühsam und eilig seinen Weg; ein anderer, ein stämmiger, kleiner Kerl, dunkelbraun das bramstige Gesicht, ließ sich von einem Matrosen den Laib Brot und die Eisenhaube befestigen, die vom Tornister herabgeglitten waren; Sanitäter führten in einem Rollstuhl einen Verwundeten nach dem Wartesaal; ein anderer ging dicht neben einem hohen, schönen Unteroffizier, der eine weiße Binde um die Stirn trug und grade und steil, aber mit seltsam unsicheren Augen dahinschritt. Trainsoldaten, in schweren Stiefeln, Plattfüßer, mühsam zu Fuß, zogen mit Zaumzeug über der Schulter ihres Wegs; ein langer Feldgrauer, ein großer Mensch, flandrischen Dreck bis an die Hüften, in all seinem Schmutz und der Abgerissenheit seiner lehmgrauen Kleidung wunderschön, wollte sich, als er plötzlich soviel Bürgerliche und Frauen sah, ein wenig schämen, aber ein älterer Mann nickte ihm zu und sagte: »Schmuck so!« Da lächelte er und ging mit seiner Mutter weiter.

Und in allen Gesichtern war nicht Leid, nicht Lust; sondern immer dasselbe: der Zwang, die Not, die bittere Notwendigkeit, die Heimat noch meiden, und Heimweh und Schmuß, Not und Kampf noch weiter tragen zu müssen. Aus der Tiefe herauf donnerten die Züge, die sie hin- und hertrugen, dies reisige, deutsche Volk, dies Volk in Waffen, dies Volk in Not, dies Volk eines einzigen Willens und eines einzigen Glaubens, nämlich: eine gerechte Sache zu haben vor der Menschheit.

Harm Ott sah nach der Uhr. Es war Zeit, daß er nach seinem Bahnsteig ging. Er warf noch einen Blick über die Menge; und verschwand dann im Gedränge der Grauen.


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