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18. Kapitel

Die Mutter

Am vorletzten Tag wurde der schöne Friede seines Urlaubs aufs heftigste gestört. Als wenn die Mutter geahnt hätte, daß es mit Bruder Klaus irgendwie nicht in Ordnung wäre! Nachmittags, so um vier Uhr, sahen die Mutter und Reimer, die in der Küche standen, die Frau von Klaus vom Feldweg her auf das Haus zukommen, und sahen schon von weitem, daß sie weinte. Sie nahmen an, daß eins der Kinder krank wäre, und traten hinaus ihr entgegen. Als sie dann näher kam, erzählte sie, daß gestern mittag ein Telegramm aus Rendsburg gekommen wäre, daß ihr Mann von seinem Urlaub nicht in die Garnison zurückgekehrt wäre; und heute morgen war der Wachtmeister gekommen, und hatte sie lang und breit ausgefragt, wann und wie er von Hause fortgegangen wäre und ob er irgendetwas geäußert hätte, daß man annehmen könne, er hätte an Flucht gedacht. Dann war der Wachtmeister gegangen; sie aber hatte sich aufgemacht und war die einsame Spur über die Heide gegangen, ob er da vielleicht läge, krank oder tot. Sie hatte hinter jeden Wall und jeden Baum gesehn, und hatte mit sachter Stimme seinen Namen gerufen; aber sie hatte nichts gefunden. Und nun war sie hierher gelaufen; denn die Mutter war ja diejenige, die noch aufrechtstände, wenn alles umfiele. So erzählte die kleine kränkliche Frau. Die Haare standen ihr ziemlich wirr um den Kopf, und die Augen darin waren noch wirrer.

Das war nun wieder eine Sache! Welch eine Not! Welche Ungewißheit! Welch Gerede! Welche Schande! Glücklicherweise war niemand sonst in der Küche als die drei, und hörte den Jammer. Sie saßen stumm da. Die beiden Frauen weinten; Reimer stand an die Tür gelehnt und starrte in die dunkelste Ecke am Herd. Er nahm ohne weiteres an, daß da wieder irgendeine ›schiefe Stellung zur Welt‹ vorläge, und war zornig auf den Bruder und verachtete ihn.

Die Mutter, im Unglück schon erfahren, besann sich zuerst. Sie richtete sich auf und sagte: »Wir wollen es noch keinem Menschen erzählen, auch Vater nicht, und wollen uns zugleich aufmachen und zu dir gehn, und wenn es sein muß, zum Wachtmeister. Wir wollen hier sagen, daß eins deiner Kinder krank wäre.« Sie ging in die Schlafstube, legte mit fliegender Eile ihr Sonntagskleid an, kam wieder, rief Emma aus dem Garten, unterrichtete sie so, wie sie gesagt hatte, und war zum Aufbruch bereit.

Sie machten sich auf den Weg und beredeten unterwegs, was geschehen sein möchte. Die Frau meinte, er hätte irgendwo den Zug verpaßt, sich dann zu Fuß aufgemacht und wäre auf dem Wege krank geworden und gestorben, und läge da nun irgendwo in einer Heidemulde tot, und sie jammerte in sich hinein. Die Mutter redete von Heimweh. Sie meinte, er könne aus Heimweh irgendeinen dummen Fluchtversuch gemacht haben. Vielleicht, daß er irgendwo auf den Geesthöhen umherwanderte, wo man das Haus noch sehn oder wenigstens ahnen könnte. Sie überdachte sein Leben und seine Natur und was sie schon mit ihm erlebt hatte. ›Ein Prahler‹ dachte sie; ›aber inwendig kein Held.‹ Ihr Sohn Reimer sagte kein Wort. Er war voll Zorn, und fand es durchaus unwürdig, daß er diesen Weg machen mußte. Selbst seine Uniform war ihm zu gut dazu und tat ihm leid; und als die Bänder seiner Mütze, vom Nordwestwind gejagt, nach vorn flatterten, warf er sie ärgerlich hinter sich.

Als sie den Hof erreicht hatten und sich gerade hinsetzten, um es weiter zu bereden, kam der Wachtmeister zum zweitenmal. Er schob das Rad durch den Sand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war von älteren Jahren und schon lange im Amt und allen wohlbekannt. Sie traten heraus und ihm entgegen und hörten, daß der Vermißte immer noch nicht da wäre. »Ich weiß ja, Frau Ott,« sagte er, »daß Ihre ganze Familie ordentliche Leute sind, und daß eine Desertation natürlich nicht vorliegt; und so habe ich denn bisher auch gegen jedermann geschwiegen. Aber morgen früh muß ich es bekannt machen, damit nach ihm gesucht wird. Ich war heute vormittag nach dem Bahnhof, wo man sich aber nicht erinnert, ihn gesehn zu haben; danach bin ich drei Stunden weit in der Richtung nach Rendsburg gefahren und habe mich überall nach einem Soldaten umgehört, habe aber nichts in Erfahrung gebracht. Es muß doch irgendwie eine Erklärung vorliegen ... zum Donnerwetter! ... aber ich zerbreche mir vergebens den Kopf.« Er sah Mutter Ott fragend an.

Mutter Ott fuhr mit der Hand über ihre ergraute Schläfe und sagte: »Auch wir drei haben bis jetzt zu anderen Menschen über die Sache geschwiegen und auch wir zerbrechen uns den Kopf, was es sein kann und was wir denn unternehmen können. Da auch nach unserer Meinung von Desertation nicht die Rede sein kann – er läuft doch nicht für ewig von Weib und Kind – so bleibt wohl nur übrig, daß er sich in irgendeinem Einfall zu Fuß nach Rendsburg auf den Weg gemacht und da auf irgendeinem der einsamen Wege oder in irgendeinem einsamen Hause krank liegt. Andres kann ich mir nicht denken.« Und da sie in diesem Augenblick das dachte, was sie sagte, liefen ihr die hellen Tränen über die gefurchten Wangen. »Er ist tot oder irr,« sagte sie, »Ihr werdet es spätestens morgen erfahren; bis dahin geduldet Euch noch!«

Der Wachtmeister schüttelte den grauen Kopf, von herzlichem Mitleid ergriffen, wandte sein Rad und ging seines Weges.

Die kleine Frau ging weinend ab, um die Kühe zu melken, die weitab in den Wiesen gingen. Die Kinder gingen mit, alle still, da sie die Mutter weinen sahen, alle dicht um sie herum, zwei, drei draußen an den Eimern, die Händchen am Griff, die übrigen beim Versuch, sich zwischen die Eimer zu drängen, um ganz an sie heranzukommen und sich an die Schürze zu hängen. Wie eine richtige Glucke! Ach, und was für eine schwache und beladene! So zog sie mit ihrer Schar ab.

Mutter Ott und ihr Sohn Reimer blieben vor der Tür stehn, und fingen dann an, vor dem Hause auf und ab zu gehn, wobei sie immer grübelten, was denn nun wohl geschehen wäre, wo er denn wanderte, säße oder läge, und was sie denn tun konnten. Ab und zu hoben sie die Augen und sahen nach der Stadt, ob von dort irgendeine Botschaft käme. So kamen sie allmählich, ohne es zu wissen, in den Garten, und saßen auf der Holzbank am niedrigen Wall unter dem dürren Fliederstrauch und sagten kein Wort, und sahen beide im Geist dasselbe Bild: einen Soldaten irgendwo auf einem fernen Seestrand stehn, oder auf einem einsamen Heideweg taumelnd, hinfallend ... krank oder sterbend. Da keine Nachricht von ihm da war, weder hier noch in Rendsburg, war kaum anzunehmen, daß er noch lebte. Es war ja nun der dritte Tag, daß er verschwunden war.

Als die Mutter so dasaß und das traurige Bild ihre Seele zerriß, stand allmählich irgendein Widerspruch dagegen auf in ihr. Ihre Seele wurde wieder wacher, und sie richtete sich auf und sagte mit krauser Stirn: »Du erinnerst dich doch, wie er damals, als er so sechzehn war, von Hause fort sollte und es auch wollte, und der Vater ihn hinbrachte und wohlgemut Abschied von ihm nahm; und er noch am selben Abend wieder vor meiner Küchentür stand und barmte ... und ich erinnere mich auch einer anderen Geschichte, die noch weiter zurückliegt. Ja ... da ging ich mit ihm zur Hebamme ...«

»Wann war das, Mutter?« sagte Reimer.

»Ja,« sagte sie, »wann war das? Das war, glaube ich, als ich mit Peter ging, der mir bald nach der Geburt starb.« Sie rechnete alles nach den Begebenheiten des Hauses: »in dem Winter, als wir die große, teure Kuh verloren,« oder, »als Vater die Lungenentzündung hatte ...« »Wir hatten also damals eine neue Hebamme bekommen und ich wollte ihr ein gutes Wort geben; denn ich ahnte ja, daß ich sie noch oft würde brauchen müssen. Und da nahm ich ihn mit. Er war so ein kleiner Bengel von vier oder fünf Jahren. Als mir nun die Hebamme ihren Birnbaum zeigte und ich mich nach dem Jungen umsehe, war er weg. Denk' dir ... er war von der Schürze seiner Mutter weg nach Hause gelaufen! Von seiner Mutter Schürze! Es gibt Menschen, weißt du, die an den Menschen hängen ... die meisten tun es. Es gibt aber auch Menschen, die, wie die Katzen, an den Häusern hängen. Ich weiß nicht ... ich halte für möglich, daß er sich irgendwo hier in der Nähe herumtreiben könnte.«

Ihr Sohn Reimer schwieg. Er hatte der Geschichte der Mutter nicht recht zugehört. Er hatte eine Erholung von den traurigen Gedanken gesucht und hatte sich zu seiner Liebsten begeben, und sah sie im Geist, wie er am Tag des Friedens mit ihr durch den Garten ging und unter dem Nußbaum saß ... und vertiefte sich weiter in das Bild.

Indes glitten die Augen der Mutter grübelnd, sinnend und sorgend, und doch zugleich scharf urteilend über die ganze Hofstelle. Man sah den Garten ganz, und die halbhohen Ulmen vorm Haus, und vom Hause selbst die etwas versackte Mauer, und seitwärts davon, oben, einen Teil des Strohdachs der alten baufälligen Scheune. Mit ihren sorglichen Augen sah sie, daß der letzte Weststurm ganz oben an der Spitze, über dem runden Uhlenloch, die Kappe des Daches abgerissen hatte. Das Stroh hatte sich aufgesträubt, und die Hemmklau mit den beiden sächsischen Pferdeköpfen ritt schief auf der First. Sie sah noch dahin, so in dem Gedanken, daß sie nicht vergessen dürfte, es der Frau zu sagen ... da weiteten sich plötzlich ihre Augen ... und sie sagte in einem Ton unendlichen fraulichen Erbarmens, mit dem Ton, mit dem die junge Mutter zum erstenmal in all seiner Hilfsbedürftigkeit ihr Erstgebornes sieht: »Ach Gott!« ...

Reimer richtete sich aus seinen Träumen auf und sagte: »Was ist, Mutter?«

»Ach,« sagte sie mitleidig, »rühr' dich nicht ... daß er uns nicht sieht! ... Sitz' ganz still! Sieh ... da ... da oben am Uhlenloch!«

Ach Gott ... da kuckte er mit seinem langen, magern Hals und seinem vorn schon kahlen Kopf aus dem Uhlenloch, wandte ihn nach allen Seiten und verrenkte sich fast den Hals, um im Dämmern, wo er sich sicher glaubte, noch die Augen mit den Herrlichkeiten seiner unordentlichen Hofstelle und seiner Felder zu füllen!

»Schrecklich,« sagte Reimer leise, »ganz verrückt!«

»Verrückt?« sagte Mutter Ott leise, »verrückt ist er nicht. Gegen Heimweh kann kein Mensch ... das ist eine Krankheit wie andre ... Ach Gott, der arme Junge! ... Komm mit!«

Sie gingen hinter den Flieder und die Obstbäume und schlichen sich über den Wall, und kamen so, hinter der Hecke entlang gehend, an die Wand der Scheune heran, öffneten leise die kleine Seitentür, tasteten sich in dem großen, halbdunklen Raumn nach der Leiter, und stiegen hinauf und kamen auf den Boden. Da knackte die Leiter. Sie hielten an und standen unbeweglich. Es war alles totenstill; es war, als wenn die ganze alte Scheune, starr über dies Sonderbarste, das sie in diesen letzten drei Tagen und nun jetzt in diesem Augenblick erlebte, den Atem anhielt. Dann sagte die Mutter deutlich und sanft: »Klaus, komm herunter, mein Junge ... ich bin hier ... Deine Mutter! ... Es weiß kein Mensch als ich und Reimer, daß du da oben bist ... kein Mensch auf der weiten Welt, auch deine Frau nicht!«

Einen Augenblick war es noch still. Dann kamen zögernde Schritte durch das Stroh, und dann kam es langsam, langsam die kurze Leiter herab, die auf den Boden hinunterführte. Unten angekommen, setzte Klaus Ott sich ins Heu; seine Mutter saß da schon; es war ihr doch in die Knie gefahren. Die großen Begebenheiten ihres Lebens schossen ihr immer in die Knie.

»Was nun!« sagte Mutter Ott. »Nun müssen wir sehn, daß wir heimlich vom Hause wegkommen; und dann müssen wir die Nacht durch nach Rendsburg gehn; und wir müssen uns beeilen, denn wir müssen in aller Frühe da sein.« Sie stand mit einem Ruck auf und stieg die Leiter hinab. »Du gehst nach Haus zu Vater,« sagte sie zu Reimer, »und sagst, daß das Kind kränker geworden wäre, und ich müßte Tag und Nacht hier bleiben.«

Aber Reimer war so überwältigt durch die Begebenheit, daß er immer noch nicht glaubte, daß Bruder Klaus nur Heimweh und einen wunderlichen Einfall gehabt; er meinte immer noch, er wäre wirr im Kopf, und wollte seine Mutter nicht allein mit ihm ziehen lassen. Und wenn das nicht war, so wollte er seinem Bruder Klaus zeigen, daß er ihm nicht traute, daß er nun wirklich in die Kaserne ginge; und wollte ihm in seiner Person die Beschämung militärischer Begleitung bereiten. »Nein, Mutter,« sagt« er entschieden, »ich gehe mit dir; ich verlasse dich nicht.«

»Nun ... dann geh und hole ein Brot aus der Küche, und eine Flasche mit Wasser, und schreibe einen Zettel für Marie, daß wir jetzt wüßten, wo er wäre. Er wäre krank, aber in der Besserung; und wäre morgen früh in Rendsburg. Das solle sie dem Wachtmeister sagen, wenn er wiederkäme, und sonst nichts und zu niemandem.« Und da er noch was sagen wollte, sagte sie so kurz, als wenn er neun Jahre alt wäre: »Geh, und tu, was ich sage!«

Er ging und kam wieder; und sie gingen durch die Dämmerung, die inzwischen grauer geworden war, einer hinter dem andern am buschbestandenen Wall entlang, kamen dann in den niedrigen Baumgang, und von da auf die höhere Geest. Dann gingen sie in der Richtung auf Rendsburg in einsame Wege hinein, die sie noch meilenweit kannten.

Sie sprachen erst lange nicht miteinander, bloß daß die Mutter dann und wann mit einem weichen Ton des Mitleids sagte: »Du armer Junge!« ... oder »Sei nur guten Muts! Kein Mensch weiß davon, auch deine Frau nicht ... und keiner wird es erfahren ...,« oder daß sie über den Weg stritten, den sie gehn müßten. Es war eine helle Herbstnacht, aber in der Tiefe lag Nebel und Dak. Nordwestwind wehte von Stunde zu Stunde schärfer hinter ihnen her.

Als sie gut zwei Stunden so gegangen waren, meinte Bruder Reimer, daß die Seelen nun soweit zur Ruhe gekommen wären, daß man über die Sache reden könne, und er sagte zornig: »Sag' mir bloß, wie war das möglich!«

Bruder Klaus stöhnte und schüttelte den Kopf: »Wenn ich sagen soll, wie es gewesen ist,« sagte er, ... »es waren meine Leute, die Frau und die Kinder ... und dann waren es die beiden zweijährigen Ochsen, da unten in der Wisch, die sich in der letzten Zeit so gut gemacht haben; und dann war es die alte Tafelwand im Kuhstall, gegen die ich den Eschenpfahl gestellt hatte. Immer sah ich den alten, krummen Eschenpfahl! ... Ach Gott! Ach Gott! Ich komme nun in des Teufels Küche!« Er seufzte tief auf und riß an der Halsbinde, die ihm hinten, weit und fern, aus dem Rockkragen hervorstand. »Ich wollte erst nur einen einzigen Tag bleiben, Bruder Reimer; dann wollte ich mich aufmachen. Ich wollte sagen, ich wäre auf der Reise krank geworden und hätte dann den Zug verpaßt. Aber nun wurden es drei Tage, ehe ich wegkam. Aber heute abend hätte ich ganz gewiß den Weg unter die Füße genommen.«

Bruder Reimer schüttelte mißbilligend den Kopf und wollte sagen: ›Verstehe ich nicht!‹ Er wollte noch mehr, noch Schlimmeres sagen, und das fühlte Bruder Klaus.

»Du mußt nicht denken,« sagte er, »daß ich feige bin, daß ich nicht in den Krieg und nicht an die Front will. Ich bin kein Held; aber wenn ich an der Front wäre, würde ich meinen Mann stehn, so gut wie die andern. Aber dies Rendsburg, so dicht bei der Heimat, und alle drei Wochen bei meinen Leuten ... das kann ich nicht ertragen. Wenn ich in Frankreich oder in Rußland wäre, vergäße ich das Haus und meine Leute. Ja, obgleich ich immer sage: ›Nein, ich vergesse euch nicht‹ ... doch ... dann würde ich sie vergessen. Sie würden mir verschwunden sein wie unter der Erde. Es würde mir sein, als wenn sie irgendwo unter einem Heidehügel säßen wie die Erdmänner und von vergoldeten Schüsseln äßen. Ich habe mich schon dreimal beim Stabsarzt gemeldet; ich sagte, ich wollte gern an die Front. Als er mich fragte, warum denn, prahlte ich und sagte: ich wollte was erleben. Prahlen muß ich nun mal, Reimer! Prahlen tu' ich immer! Aber du meinst, hinter dem Prahlen steckt Feigheit; aber das ist nicht wahr ! Nein, ich würde ebensogut meinen Mann stehn, wie die andern! Und es würde mir ja auch gefallen, wenn ich lebendig wiederkäme, Reimer, meinen Leuten alles zu erzählen, was ich erlebt hätte! Ja, das habe ich mir schon oft ausgedacht!« Er seufzte wieder traurig und riß wieder an der Halsbinde. »Aber der Stabsarzt sagte, ich wäre nicht stark genug, und da ist auch Wahres dran: ich huste den halben Winter lang.« Bruder Reimer wurde still und ging eine Weile schweigend, dann sagte er freundlicher und mit milderer Stimme: »So ... so ... du hast dich also wirklich an die Front gemeldet!«

»Nicht einmal ... dreimal,« sagte Bruder Klaus.

»So,« sagte sein Bruder, »dann bist du doch nicht feige. Aber wunderlich bist du ... verdreht ... schief gewickelt!«

Lena Ott ging in tiefen Gedanken vor ihren Kindern her. Sie war die Führerin und mußte auf den Weg und die Wegweiser sehn, die schräge und verwittert hier und da an den Seiten standen. Sie hatte auch sonst genug zu bedenken.

Als sie drei oder vier Stunden so forschweg gewandert waren und die zweite Höhe der Geest erreicht hatten, suchte die Mutter sich eine bequeme Stelle am Wall, setzte sich und aß schweigend etwas trocknes Brot. Ihre Söhne saßen neben ihr. Als sie fertig war, glättete sie das Stück Papier auf ihrem Schoß, faltete es sorglich zusammen und sagte in ihrer frischen, tapfren Art: »Wir müssen uns schlüssig werden, Klaus, was wir sagen wollen, wenn wir bei deinem Hauptmann sind. Und ich habe mir das so gedacht: ich will sagen, du hättest von Kind an dann und wann wunderliche Einfälle gehabt. So wärst du z. B. einmal auf dem Feld, als ich Garben band, verschwunden gewesen, und ich hätte dich überall gerufen und gesucht: auf dem Felde, im Hause und bei den Nachbarn, und hätte dich nicht gefunden. Aber endlich, gegen Abend, hätten wir dich in einer Hocke sitzend gefunden, wie du vor dich hin auf die Erde gestarrt hättest, ganz und gar in irgendeinem Gedanken gewissermaßen erstarrt. Du erstarrtest zuweilen in Gedanken, werde ich sagen. So wie Menschen körperlich erfrieren, so erfrierst und erstarrst du in Gedanken, sitzt da und rührst dich nicht. Einmal wärst du so fünf Stunden lang in Gedanken erstarrt gewesen.«

»Ja, Mutter,« sagte Klaus unsicher, »aber in was für Gedanken?«

»Was für Gedanken?!« sagte Mutter Ott. »Ja ... was kann ein Mensch über des Andern Gedanken sagen?! Da soll dein Hauptmann wohl stillstehn! Irgendwelche Gedanken!! Was für Gedanken es sind, brauchst du ja nicht zu sagen ... Wenn sie dich fragen, sagst du eben, das wüßtest du nicht. Mein Gott ... Gedanken!? Gedanken!? Di« kann man doch nicht sehn und nicht riechen! Die hat man, und damit gut!«

»Aber die ganze Geschichte ist ja nicht wahr, Mutter!« sagte Reimer.

Lena Ott wandte sich mit blitzenden Augen – er sah sie deutlich im Dunkeln blitzen – und mit einer jähen Bewegung des Kopfes zu ihrem Sohn, und indem sie sich rasch über die grauen Schläfen strich, sagte sie: »Wahr? Wahr? Was geht mich die Wahrheit an?!« Ja, das sagte sie! Sie wollte hinzufügen: ›wenn es sich um die Ehre meines Kindes handelt;‹ aber sie vergaß es und sagte nur groß und sicher: »Was geht mich die Wahrheit an?!« Aber ihre Söhne verstanden sie auch so.

»Und so werde ich noch einige andere Geschichten erzählen,« sagte die Mutter, »ich werde sagen ... ich werde sagen ... du wärst krank gewesen, werde ich sagen, und hättest einen geschwollenen Kopf gehabt ... du hattest einmal einen geschwollenen Kopf.«

»Ja,« sagte Klaus bedenklich und unsicher, »das Fohlen hatte mir eins gegeben.«

»Ja ... und da wäre ich allein mit dir zu Haus gewesen... sie wären alle in der Kirche gewesen, und da wärst du im Hemd mit deinem verbundenen Kopf aus dem Fenster gestiegen; und ich hätte durchs Küchenfenster gesehn, wie du mit merkwürdigen Schritten, mit einer Art Hahnentritt... ja ... über die Hofstelle ge- gangen wärst... ja ... und da hätte ich dich jäh aufgegriffen und wieder ins Bett gebracht; und da wärst du denn allmählich wieder zu Vernunft gekommen, grade so wie ein Mensch, der vom Boden gefallen ist... unser Knecht fiel einmal vom Boden... das war aber, als noch keiner von euch da war ... Ja, diese Geschichten werde ich erzählen. Und wenn der Hauptmann noch mehr davon will, werde ich ihm damit dienen. Drei werde ich ihm sofort erzählen, das ist die beste Zahl; und ich werde ihm gleich sagen, daß es ein Zufall war, daß bloß ich, die Mutter, diese Geschichten wüßte, denn nur ich hätte sie erlebt und gesehn, die andern nicht. Und ich als die Mutter hätte meiner Ehre wegen mit niemand darüber gesprochen.«

»Ja .. Mutter,« sagte Klaus, »wenn du man damit durchkommst! Der Hauptmann ist ein ziemlich scharfer Herr; und wenn du gar an den Major kommst, der frißt das Eisen glühend.«

Aber die Mutter war ihrer Sache sicher. »Laß mich nur!« sagte sie: »Wer will gegen das anstreiten und das aus der Welt reden, was eine Mutter mit ihrem Kind erlebt hat?! Und also will ich fortfahren: wie deine Frau zu mir gekommen wäre, da hätte ich gleich gewußt, was die Glocke geschlagen, und hätte mich aufgemacht, und hätte dich auf dem Weg über die Heide gesucht; aber nicht bloß am Weg, wo deine Frau schon vergebens gesucht hätte, sondern abseits vom Weg, und zwar nach dem Moor zu, da wo wir unser Torfland haben; und da, in der kleinen Mulde, hätte ich dich richtig gefunden, wie du, den Kopf zwischen den Knien, gesessen hättest und uns wie ein neugebornes Kalb angestarrt hättest. Ja, das werde ich sagen, oder richtiger ... ich werde sagen, ich wäre allein nach dem Moor hinuntergegangen. Ja ... dann bleibt Reimer aus dem Spiel ... der ist zu fein dazu!« sagte sie boshaft.

»Na ja!« sagte ihr Sohn Reimer mit großen Augen und großem Atemholen, »das ist ja alles recht schön und gut ... ist aber leider alles Lüge ...«

»Ach ... Lüge hin, Lüge her!« sagte Lena Ott, »ich muß wissen, was ich als Mutter zu tun habe! Rede mir nicht dazwischen! Was ich tu', ist gut und recht; und Pastor Bohlen und alle Pastoren können mir im Mondschein begegnen.«

Ihre beiden Söhne wußten, daß sie eine rechtliche Frau war und daß sie ihre Kinder aufs sorgfältigste zur Wahrheit angehalten und sie streng bestraft hatte, wenn sie von der Wahrheit abwichen. Und nun saß sie da, breit und groß, am Wall, und erfand Lügen; und nicht nur das, sie behauptete auch noch, daß ihre Lügen gut und recht wären! Aber was sollte ihr kluger, schöner Sohn dagegen machen?! Da sie die Mutter war und immer sehr bündig mit den Worten, sonst in der Wahrheit, jetzt in der Lüge, und für Einwendungen taub war, so mußte er es beim Verwundern bewenden lasten, und mußte schweigen.

Im Morgengrauen, als sie sieben Stunden gewandert waren, stießen sie auf die kleine Bahn, die nach Rendsburg fuhr und erfuhren von einem verschlafenen, wortkargen Jungen, der Pferde von der Weide holte, daß bald ein Zug nach Rendsburg führe. Da warteten sie und stiegen dann ein, und erreichten die Stadt, als die Sonne aufging, fragten nach der Wohnung des Hauptmanns, und fanden sie. Da winkte die Mutter, daß die beiden unten an der Treppe stehen blieben und ging hinauf, und stieß auf eine ältere Frau und sagte, sie müsse notwendig den Herrn Hauptmann sprechen, und zwar unter vier Augen. Die Frau hatte eine solche Achtung vor dem großen, stattlichen Weibe, dem die Nachtwanderung und sonst noch manches in den Augen stand, daß sie sogleich die Tür aufmachte und sie eintreten ließ und dann die Tür hinter ihr zumachte.

Der Hauptmann saß im offnen Rock, die kurze Pfeife quer im Mund, und las die Zeitung; und war in die Dinge des Vaterlands versunken, und dachte nicht anders, als daß seine Wirtin hereingekommen wäre, und las weiter, und las gerade einen Artikel, der scharf gegen England ging. »Großartig!« sagte er. »Diese verfluchte Räuberbande! Diese Welthalunken! ... Diesen Artikel müssen Sie lesen! Lesen Sie ihn gleich jetzt!«

Lena Ott hatte unbeweglich an der Tür gestanden, die Hand noch nicht vom Drücker, und hatte ihn aufmerksam und mit so scharfen Sinnen beobachtet, wie sie bisher in ihrem Leben nicht einmal eine kranke Kuh betrachtet hatte.

»Herr Hauptmann,« sagte sie, »ich habe jetzt keine Gedanken für so etwas; mir ist England und das ganze Vaterland gleichgültig. Ich bin die Mutter von dem Soldaten Ott, der Ihnen verloren gegangen ist.«

Der Hauptmann war sehr verwundert; war aber alsbald im Bilde und sagte: »Setzen Sie sich, Frau Ott, und reden Sie! Wo ist er ... der Hal... kurz, was ist mit ihm!!« ... Und er legte die kurze Pfeife auf den Tisch.

»Ja,« sagte Mutter Ott langsam und nachdenklich, denn sie war durch dreißig Jahre gewohnt, sich unter einem langsamen Geschlecht Gehör und Verständnis zu verschaffen ... »sehn Sie ... ich ... ich habe ihm und seinem Bruder vorgelogen, ich wollte Ihnen eine lange Geschichte erzählen: er wäre ein kranker Mensch ... er hätte Anfälle und hätte in einem solchen Schlafzustand – ich habe einmal so was gelesen – irgendwo in der Heide gesessen; ich wollte nämlich ihm und seinem Bruder, der ein sehr stolzer und naseweiser Junge ist, die Schmach ersparen, daß ich einem dritten Menschen in der Welt die Schande erzählte. Nämlich ... gesund und ganz klar im Kopf wie andre Menschen ist er wohl nicht ... aber der Kaiser braucht ja jetzt jeden Mann ... genug, er hat ein schreckliches, wildes, ganz verrücktes Heimweh bekommen, so daß er sich wieder in sein Haus zurückgeschlichen hat; und hat drei Tage lang oben unterm First seines alten Strohdaches gesessen, unterm Uhlenloch, und hat sich von trocknem Brot und einem Ei, das eine barmherzige Henne dahin trug, genährt ... ganz wie Elias seine Krähe ... Ich sah ihn da und rief ihn, und da ging er gleich mit. Ich bitte Sie nun um alles in der Welt, da Sie eigene Kinder haben: blamieren Sie den Mann nicht für sein ganzes Leben. Sagen Sie keinem Menschen und auch ihm nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Sagen Sie, er wäre drei Tage kopfkrank und hintersinnig gewesen und hätte sich herumgetrieben; er hätte das so an sich – sehn Sie: ich habe Ihnen den Mann selbst wiedergebracht, sobald ich ihn fand ... auf meinen eignen Füßen – wir sind die ganze Nacht durch gewandert! ... Und dann, darum bitte ich Sie, tun Sie, worum er schon dreimal gebeten hat: schicken Sie ihn an die Front! Ob er nun lebt oder stirbt ... es müssen viele sterben ... bloß, daß er aus dieser Gegend hier fortkommt, die ihm aufs Gemüt gefallen ist!«

Der Hauptmann schüttelte lange den Kopf. Dann rief er seine Wirtin und ließ eine heiße Tasse Kaffee hereinbringen, unterdes ließ er die beiden Söhne die Treppe heraufkommen, und verhandelte draußen auf dem Vorplatz mit ihnen. Dann zogen sie alle drei ab, Bruder Klaus mit steifen Fingern einen Zettel haltend, den ihm der Hauptmann für den Feldwebel gegeben hatte. Am Tor der Kaserne nahmen sie Abschied von ihm.

Sie gingen nach dem Bahnhof und fragten nach dem nächsten Zug. Als sie erfuhren, daß sie noch zwei Stunden warten müßten, wollte Lena Ott im Bahnhof nicht bleiben, weil da zu viel Menschen wären, und weil sie meinte, daß sie da etwas verzehren müßte, was sie sparen könnte. Sie ging also die Straße hinunter und setzte sich da an eine grüne Böschung. Ihrem Sohn war es lange nicht gut genug, in seiner schönen Extrajacke mit den vielen blanken Knöpfen und mit all seiner heimlichen Würde späterer großer Taten und Dinge, sich so am Weg ins Gras zu setzen. Aber er wagte nicht, zu widersprechen, wußte auch, daß er nur Spott von ihr ernten würde; denn sie hatte immer Spaß daran, ihre Kinder in eine solche Lage zu bringen, die ihnen unangenehm war. Sie breitete ihr Kleid sorgfältig und breit um sich, und war nun so weit, daß sie ihre Seele lösen und mit ihrem Sohn Reimer ein Wort sprechen konnte.

Bis dahin, solange der Bruder und Irrweger bei ihnen gewesen war, war sie lauter Mitleid und Erbarmen gewesen; nun aber wehte Nordwind. Nun er fort war, fing sie an, über ihn zu schelten. »Was ist das für ein Erlebnis mit diesem Jungen!« sagte sie; »ich muß mich ja in der Seele schämen! Es fehlt nicht viel, so ist sein Haar grau: und er macht solche Sachen! Aber wovon kommt das? Das ist das Erbe von seinem Vater! Der ist auch so still und hinterhältig! Und warum still und hinterhältig? Aus lauter Angst, dem Ding an die Kehle zu gehn. Lieber ins Uhlenloch! Was ich von Vaters Art her für Angst und Not im Leben gehabt habe und habe ausstehen müssen, das ist nicht zu sagen! Aber diese Geschichte ist fast die schlimmste! Nein, was ist das für eine Familie ... und davon habe ich nun elf! Denn ihr seid schließlich alle gleich! Ihr habt alle einen Sparren ... schwerfällig, großspurig! Der Harm kann mit mir reden, als wenn er mein Urahn ist! Von dir und Emma gar nicht zu sprechen!«

Ihr Sohn Reimer empörte sich, daß der Vater und seine Art so von ihr gerichtet und gescholten wurde. Er sagte mit seiner hohen, fliegenden Stimme: »Und Eggert, Mutter? Wo hat der denn seine Art her? Wo hat der seine Wildheit und seinen Jähzorn her? Oder sind das schöne Eigenschaften?«

»Ach Gott!« sagte sie, »das ist eine andre Sache!«

»Ja,« sagte er, »das sagst du dann! Ich muß sagen, das ist eine hübsche Antwort: eine andre Sache! Du meinst: meine Sache! Und deine Sache, meinst du, ist gut! Es ist wahr: Klaus hat viel vom Vater; aber es ist auch wahr: Eggert hat viel von dir! Und was ist noch schlimmer: er, der wie verrückt aus dem Hause sprang und in die weite Welt lief, oder der hier im Uhlenloch? Und ich ... ich habe auch von deiner Natur, von deinem Übereifer ... sehr viel sogar! Ich fliege auch leicht in Feuer auf ... in meinen Gedanken! Aber ich will dir was sagen: ich glaube nicht, daß du in deinen Kindern etwas Besonderes hast ... solche Kinder, wie du hast, haben Millionen Mütter. Ich glaube, du bildest dir da was ein. Denn es ist so mit dir: wenn du schiltst, willst du bloß eine Verteidigung dessen hören, was du beschiltst, und aus der Verteidigung dir ein Lob saugen. Ich kenne dich ganz genau!«

Mutter Ott wunderte sich, daß der Junge so altklug redete, und schwieg vor Erstaunen, zumal sie ihm ziemlich recht geben mußte. Sie begann mit ruhiger Stimme von ihren anderen Kindern zu sprechen, lobte und tadelte sie ... tadelte viel ... und war wieder beruhigter und in alter Gleiche. Dann und wann sah sie mit Stolz von der Seite auf den, der neben ihr saß.

Sie saßen noch so und die Mutter redete noch, da kamen einige Knaben vorbei, und der eine sagte etwas, indem er nach der Böschung und nach der großen Frau in ihrem ausgebreiteten Kleide blickte, worauf seine Kameraden auflachten.

»Was sagte der Bengel?« sagte sie mißtrauisch. »Er sagte doch nichts über mich?«

»Doch, über dich,« sagte Reimer. »Er sagte: ›Da sitzt Mutter Germania.‹ Er hat wohl mal so'n Bild gesehen: Germania mit einem Matrosen.«

»So'n Bengel!« sagte sie zornig, und fuhr mit der Hand über die Schläfe. »Was weiß der davon, was ich für Plage habe.«

Allmählich, als sie so ruhig saßen, wurde der langaufgeschossene, noch immer etwas schmale Junge, der die schlaflose Nacht und den achtstündigen Marsch hinter sich hatte, müde, er stützte sich auf den Ellbogen, und lag bald danach auf dem Arm und schlief dann ein. Im Schlaf und gleich im Traum ... nachdem er eine Übung am Torpedo mitgemacht und dann den Auftrag bekommen hatte, den Torpedo abzureiben, sah er in dem spiegelblanken Eisen sich selbst und seine kleine dunkle Liebste ... sie gingen durch die heimatliche Heide ... die weite Fläche war noch wie tot vom Winter her, aber der Ginster wollte schon blühen ... bronzefarben lag es wie alte Schilde hier und da auf den Hügeln und an den Hängen ... und ein herber Ostwind fuhr darüber hin. Und er erzählte ihr ... er sah es an seinen Handbewegungen ... mit begeisterten Worten und glänzenden Augen, was er alles im Leben tun und erreichen wollte, große, herrliche, reine Dinge, Dinge von lauter Güte und reiner Größe ... die standen vor ihm auf der Seide wie lichte Monumente, durch die ein schöner Weg nach fernen Höhen führte, die in zartem blauen Dunst lagen. Sie aber ging in der Gestalt, in der er sie zuletzt gesehn hatte, in ihrem halblangen dunklen Kleid mit den weißen Spitzen am Hals und an den Ärmeln, und mit ihrem wippenden Gang neben ihm, Hand in Hand. So gingen sie auf eine hohe Eiche zu, die stark und mächtig am Ende des hohen Wegs aufragte, und an ihrem Stamm, oben unter der Krone, hing ein Kranz. Ein Name stand nicht darunter; aber er wußte, daß der Kranz für ihn dahing. So genoß er das Leben und seine Liebe in dem reinen Traum des Jünglings und kam zu dem Seinen. Denn es ist ja nicht ganz sicher, was wirklicher ist: ein Traum oder ein Leben. Er lebte, was er auch zugleich sah, und fühlte mit aller reinen Seligkeit, die das wirkliche Leben nicht gibt, was er im Traum erfuhr.

Die Mutter aber saß breit und stattlich mit ausgebreitetem Kleid neben ihm und aß von einem Stück Papier, das sie auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte, von dem mitgebrachten Brot, und dachte über ihre Kinder nach, und vergaß keins; und blieb zuletzt mit ihren Gedanken bei dem einen, der sich ihren Augen und ihrer Seele entzogen hatte, ihrem wilden Schmerzling, der nun schon drei Jahre fort war und nun schon zwei Jahre, solange der Krieg dauerte, nicht geschrieben hatte. Sie sah ihn in Not und Armut, in Bedrängnis und maßlosem Heimweh in der Ferne, fand ihn da nicht und suchte ihn, und ging irre über Meer und Land. Sie hatte in den letzten Monaten gelesen, daß viele junge Deutsche sich auf allen Wegen, die denkbar waren, und wären es die gefährlichsten, nach Hause schlichen, um der Heimat in ihrer schrecklichen Not zu helfen, und fühlte, daß auch er das unternehmen würde, und wußte nicht, wo sie ihn suchen sollte.

So dachte sie über all ihre Kinder nach, und saß da neben dem Schlafenden, breit, sicher, ruhig; einer Erntearbeiterin gleich, die neben der letzten Garbe sitzt und mit stillen Augen das Feld übersieht, und sieht: es war viel Mühe und Arbeit, aber ... es mag nun werden wie der Herr der Ernte es will ... es war wohlgetan.


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