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7. Kapitel

Sorgen

Acht Tage später bekam er Urlaub und fuhr auf acht Tage nach Haus. Er hatte die Seinen über ein Jahr lang nicht gesehn und wußte wenig, wie es dort stand; denn das Briefschreiben und Berichterstatten der Mutter war nicht von der besten Art. Ob es ihr am Willen fehlte oder an Begabung, sie hatte die Art so vieler Briefschreiber, daß sie das Wichtigste, nämlich die seelischen Dinge, in verschwommenen, unklaren Worten nur andeutete, aber das Körperliche genau beschrieb. Wie der Vater sein Leid trug, ob Eggert irgendein, wenn auch noch so leises und fernes Lebenszeichen gegeben hatte, wie es mit Emmas Gemüt stand, wie der kleine Reimer sich zwischen seinen geliebten Büchern und den Ansprüchen der Wirtschaft hindurchwand, wie sie selbst in Leid und Zorn und Arbeit ihre tapfere Seele bewahrte: das alles stand in ihren Briefen fern im Hintergrund, in Dunst und Nebel, während dagegen die Kühe und Kälber, die Schweine und Hühner und die kurzen, kräftigen Figuren der kleinen Geschwister im Vordergrund und deutlich greifbar herumsprangen.

Da ihm der Sinn so stand – er wollte sich in seiner schmucken Uniform der Reihe nach der ganzen Familie zeigen – stieg er eine Station früher aus, um seinen Bruder Klaus aufzusuchen, der eine Stunde Wegs vom Elternhaus unterm Abhang der Geest auf geringem Land einen einsamen Moorhof hatte, auf dem er nun schon gegen zehn Jahre mit seiner kleinen Frau und seinen Kindern lebte. Er hatte sich während seiner ganzen Kindheit mit der Mutter nicht gut gestanden. Sie schalt immer an ihm herum, daß er zu weichlich und zu schlaff wäre; und in der Tat war er das ins Schwächliche geratene Abbild seines Vaters. Noch sehr jung, kaum zweiundzwanzigjährig, ein langer, dünner Mensch von schlechter, lässiger Haltung, fleißig, aber ohne rechten Willen, hatte er sich in seiner Sehnsucht nach einem weichlichen und bequemen Umgang und Anhang mit dem ersten besten Mädchen verlobt, das ihm gefallen hatte und das ihm entgegengekommen war, einem gütigen, weichen Wesen, das aber nicht in einer gesunden Haut stak. Sein Vater hatte ihm bei seinen vielen Kindern und eigener Schuldenlast nur soviel Geld mitgeben können, daß er sich einige Tiere und einiges Gerät hatte kaufen können; im übrigen war Haus und Land lauter Schuld, und das Haus war alt und fast verfallen und der Boden nicht ertragreich. Aber da er ganz bescheiden und still lebte und immer fleißig war und sein ganzes Sinnen und Denken immer um die Seinen und um seine Felder spielte, und er seine Hofstelle nur dann verließ, wenn es durchaus nötig war, hielt er sich in seinem Besitz und Stand, und konnte sogar hoffen, daß ihm in älteren Tagen der kleine Hof wirklich gehören würde, der jetzt Eigentum der Sparkasse und der Bank war.

Die kleine Frau sah den Schwager von fern kommen und trat mit ihren kleinen Kindern ... es waren schon fünf da ... vor die alte schiefe Tür und erwiderte sein Mützeschwenken. Da die Erwiderung aber noch matter als gewöhnlich war, fiel ihm schon die Sorge aufs Herz und er dachte: ›Gewiß ist sie wieder kränklich.‹ Sie war mit ihren dreißig Jahren, wie man das bei wenig lebenskräftigen Frauen, die viel arbeiten und sorgen müssen, so häufig hat, schon sehr verfallen. Als er herankam und sie und die Kinder ihm die Hand schüttelten, sagte sie mit ihrer langgezogenen, klagenden Stimme: »Du kommst an keinem guten Tag, Harm. Klaus hat sein bestes Pferd, die braune Stute, verloren; sie ist beim Fohlen eingegangen und das Fohlen ist auch tot. Es ist ein großer Verlust. Komm mit, er sitzt in der Scheune auf der Schrotkiste und ist voller Mühsal. Komm nur mit!«

Er ging mit der Schwägerin und den Kindern, die hinterherliefen, nach der Scheune hinüber und fand Bruder Klaus da auf der niedrigen Schrotkiste sitzen. Er saß da lang und dünn und sehr gebeugt, den Strohwisch, mit dem er das Fohlen abgerieben hatte, noch in der Hand, fuhr sich mit der andern über den schon kahlwerdenden Schädel und sah mit bekümmerten Augen auf die toten Tiere; ein alter Nachbar, der zur Hilfe herbeigekommen war, verließ eben die Hofstelle. Er sah auf, erkannte den Bruder und sagte: »Ein schlechter Tag, Bruder Harm. Sie war erst zehn Jahre alt und sollte mir noch viele Fohlen bringen, und mit den Fohlen wollte ich die Bankzinsen bezahlen. Nun ist die ganze Rechnung entzwei; es geht mir immer alles schief.«

Seine Frau schüttelte den Kopf und sagte mit ihrer langgezogenen, klagenden Stimme: »Alles ... Klaus? Wie kannst du das sagen, Klaus?! Du darfst uns nicht vergessen, Klaus! Er hat es so an sich, Harm, daß er mich und die Kinder immer vergißt!«

»Nein,« sagte Bruder Klaus und raffte sich auf, und ein Zug von gutem Mut, ja von Stolz kam in sein hageres Gesicht, »euch darf ich nicht vergessen, und tu' es auch nicht! Kommt, setzt euch hierher, hier neben mich, ihr kleinen Krabaten alle miteinander! Setz' du dich auf den Haublock, Harm.« Er hob die Kleinen, die diese Art kannten, neben sich auf die Lade, so daß auch Platz für seine Frau blieb, und sagte, indem er sein Leid ein wenig vergaß, da er nun alle seine Leute um sich hatte: »Ja ... so ist es, Bruder Harm! Da mühe ich mich um den kümmerlichen, kleinen Kram, daß alles seine rechte Ordnung hat ... ich habe nicht Sonntag und nicht Feiertag, und werde fünf Jahre früher in die Grube fahren, bloß weil ich auf einem Hof leben und sterben möchte ... und habe solches Pech! Aber ich bin immer ein rechter Tölpel gewesen, Unser Vater sah mich immer schief an; ich erinnere mich noch seiner Augen; es stand immer darin: der wird nicht viel Glück im Leben haben... und unsere Mutter... na, du kennst sie ... die schalt mit mir, wo ich ging und stand.«

Seine kleine Frau sah ihn mit ihren großen klagenden Augen an und sagte wieder: »Vergiß doch uns nicht, Klaus ... Er vergißt uns immer, Harm!«

»Oh,« sagte er mit weichem, gütigem Stolz und, indem ein leises, inniges Leuchten über sein sonn- und windverwittertes Gesicht fuhr: »Ihr! ... Nein, euch darf ich nicht vergessen!« Er zog die Kleinen, soweit er sie erreichen konnte, näher an sich, indem er beide Arme ausbreitete. »Weißt du, Bruder Harm, wenn es mir mal schlecht geht ... und es geht mir recht oft verquer; der Roggen hat auch nicht gegeben, was er hätte hergeben sollen ... dann setze ich mich nach dem Mittagessen für eine Viertelstunde aufs Sofa ... länger habe ich nicht Zeit... oder hier auf die Schrotkiste ... die leider oft leer ist ... und denke über meine Not nach ... Aber was meinst du? Sitze ich da länger allein als eine Minute, ja, als eine Sekunde? Gleich sehen mich die Krabaten, diese kleinen Puppen, und setzen sich neben mich oder auf mich. Und dann bereden wir, wie sie mir helfen wollen, wenn sie groß sind, und was es dann für ein Leben auf'm Hof werden soll. Was meinst du wohl, was dieser kleine Kerl von neun Jahren schon alles kann und will? Der hat im vorigen Sommer schon zwischengefahren, sage ich dir! Und der da ... er ist sieben ... der sagte heute morgen: ›Du, Vater, ich will die schiefe Mauer von der alten Scheune umstoßen und will dir eine neue bauen!‹ Die Mauer ist nämlich wirklich sehr schief, aber ich hatte bisher weder Geld noch Zeit, sie neu zu machen. Nun habe ich sie erst mal mit dem Eschenpfahl gestützt.«

Seine Frau sah ihm, wenn er sprach, unbeweglich und unentwegt mit ihren großen, klagenden Augen auf den Mund, als komme das Evangelium daher: »Du sprichst immer nur von den beiden Ältesten,« sagte sie, »du vergißt immer uns andern.«

»Auch Helden!« sagte Bruder Klaus, »alle Helden, sowie ihr hier sitzt! ... Aber nun sage mal, Bruder Harm, was du mitbringst aus der Welt! Du bist in der großen Stadt gewesen; du bist sogar über die weite See gefahren. Du hast mehr gesehen und weißt mehr als der Pastor, ja, als der Landrat, der hier gestern mit seinen alten Hengsten vorbeifuhr. Sag' mir mal: was ist das mit dem Gerede vom Krieg? Seit 'n paar Jahren grimmelt es bald hier, bald da in einer Himmelsecke, daß man dahin sieht und denkt: nun kommt ein tüchtiges Gewitter! Die Versammlung da ... weißt du ... in der kleinen Stadt in Spanien ...: da war kein guter Geist darin, Bruder Harm! Und seitdem grollt und grummelt es so weiter.«

Aber sein Bruder schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube nicht, daß ein Krieg kommt. Es ist ja zu ungeheuerlich, Klaus! Du solltest unsere Geschütze sehn! Ich sage dir: ein Schuß davon in dein Haus, und das ganze Haus zerbricht, und aus den Trümmern, die auf der Erde liegen, schlagen die wilden Flammen. Nein, es ist unmöglich!«

»So,« sagte Bruder Klaus ... »also du meinst nicht? Um so besser! Wenn ich daran denke, daß es mal losgehen könnte, dann ist mein zweiter Gedanke immer: Gott sei Dank, daß ich nicht mit hineinkomme! Wenn ich mir denke, daß ich fort sollte, in die Fremde, unter die Massen fremder Menschen, und müßte dann da draußen Posten stehen, und da vorne ... im Felde vor mir ... da wären Menschen, die mich töten wollten und die ich töten sollte ... und mein Hof und meine Leute wären weit ... weit weg ... ich wüßte nicht mal die Himmelsrichtung, wo sie wären ...«

»Ich bitte dich, Klaus,« sagte seine Frau und sah ihn flehend an: »Vergiß uns nicht! Siehst du, Harm, wie er uns ganz und gar vergißt!«

»Nein,« sagte Bruder Klaus und wachte auf, »ich vergesse euch nicht! Nein! ... was, Marie? ... wenn ich euch verlassen sollte? ... in die weite Fremde ... um Menschen umzubringen? Man würde ja wohl verrückt davon! Gott sei Dank, daß es nicht geschieht! Daß ich so weit vom Schuß bin ... schon dreiunddreißig und kein Soldat gewesen und kein starker Mensch ... es vergeht kein Winter, Harm, daß ich nicht meine Not mit der Brust habe ... nein ... dein Vater muß hier bei dir bleiben, was, Peter ... damit du das Bauerspielen lernst ... was? Und die kleine Margret und Annemarie ... was? Ihr müßt doch immer hinter eurem Vater stehn, wenn er die Schweine füttert ... was?« ... Er holte hoch Atem: »Das mit der Stute ist schlimm, ganz gewiß ... aber was soll man machen? ... es ist menschlich ... und das Menschliche muß man ertragen. Aber in den Krieg ziehen ... das ist unmenschlich! ... Aber nun komm hinein und trinke eine Tasse Kaffee mit uns; und dann kannst du weiter zu den Alten gehn.«

Sie gingen alle nach dem Haus hinüber und saßen noch eine Stunde um den Sofatisch. Bruder Klaus hatte immer drei Kinder auf den Knien, die anderen beiden saßen dicht an ihn gepreßt; und alle hatten die großen stummen Augen auf die blanken Knöpfe und das Gesicht des Onkels gerichtet. Dann machte er sich wieder auf den Weg.

In stillen Gedanken über seinen Bruder wanderte er den breiten, sandigen Weg entlang, der unter der Geest entlang geht, und bog dann in den Feldweg ein, der in die Marsch hinabführt, und kam so gegen Abend an das Elternhaus, und machte lange Augen, ob und wer wohl zuerst Lärm schlagen würde. Aber es zeigte sich keiner. Als er sich aber der offenen Tür näherte, hörte er eine Stimme laut und deutlich prahlen, als wenn sie zu einer Versammlung spräche. Er kam näher und horchte; und da merkte er, daß es die männlich gewordene Stimme von Bruder Reimer war, der über die Diele priesterte; und er verstand auch, was sie sagte: »Damals wohnten die Germanen zur Hauptsache, außer in Skandinavien, das sie ganz bewohnten, zwischen Flandern und den Vogesen im Westen, der Oder im Osten, und der Donau und den Alpen im Süden. Sie waren aber noch nicht völlig seßhaft, sondern zogen in diesem Raum hin und her. Und es war unruhig darin wie in einer Milchsatte, an die man mit dem Fuß stößt.«

Nun kam vom Ende der Diele Emmas Stimme, ein wenig müde und langgezogen: »Der letzte Satz steht da nicht. Du weißt es alles ganz richtig und läßt auch nichts aus; aber du setzest immer etwas hinzu, und das darfst du nicht. Denn warum hat der Mann, der dies Buch geschrieben hat, nur dies gesagt und nichts weiter?«

»Weil er keine Kraft und keine ordentlichen Ausdrücke im Leibe hat, Emma ... darum! Wenn ich eifrig werde, kommen mir immer solche Worte, wie diese, und die sind gut. Man sieht die Dinge dann ordentlich, verstehst du? Wenn andre Menschen solche Worte nicht haben ... ich habe sie; und will und kann sie nicht aufgeben. Ich kann mir doch die Zunge nicht abbeißen?«

Bruder Harm stand in der Tür und sah die beiden in der blitzenden Abendsonne. Reimer, größer und breiter geworden, war mit hochgekrempelten Ärmeln beim Reinigen und Schmieren eines Wagens. Emma saß auf der langen Kiste vorm Pferdestall, das Buch auf dem Schoß. Sie saß noch gebeugt; aber sie hatte Buch und Bruder völlig vergessen und sah mit schweren, traurigen Augen vor sich auf die Diele.

»Guten Tag,« sagte er, »alle beide!«

Sie fuhren auf und sahen ihn mit großen Augen an und kamen ihm dann freudig entgegen und gaben ihm die Hand, und wollten gleich mit ihm über die Diele nach den Stuben gehn. Als sie aber sagten, daß die Mutter ganz allein in der Küche wäre, wollte er diese seltene Gelegenheit benutzen, und bat sie, auf der Diele bei ihrer Arbeit zu bleiben.

Sie kam grade aus dem Milchkeller und machte die Tür hinter sich zu und sah ihn dastehn, und verlor die Kraft in den Knien und setzte sich auf die Bank neben der Tür.

Er setzte sich neben sie und sagte lachend: »Da sitzt du! Nun, wie geht es euch allen?«

Sie betastete seinen Ärmel, wie um zu sehn, ob der große schmucke Mensch Wirklichkeit wäre, und sagte: »Junge ... wie fein ist das Zeug! Dafür hast du viel Geld ausgegeben. Aber daran kenne ich dich.« Dann besann sie sich völlig und sagte: »Ich sah dich erst nicht deutlich ... oder was es sonst war ... ich dachte erst an Eggert. Keins meiner Kinder ist so lange von mir fort gewesen wie du und Eggert, und da schoß es mir in die Knie.«

Er fragte gleich: »Habt ihr von Eggert gehört?«

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Und der Pfeifer?«

»Der ist nicht wieder erschienen.«

»Also war es der Knecht.«

»Dein Vater sagt: ›Also war es Eggert.‹ Und im Dorf sagt man es auch. Und das ...« und sie weinte auf ... »das ist furchtbar. Ich habe kein Kind geboren, das schlecht ist, keinen Verbrecher oder Spötter oder Schelmen.«

»Habt ihr nach dem Knecht gesucht?«

»Der Kirchspielschreiber hat hinter ihm hergeschrieben und nach ihm gesucht; aber er ist nicht zu finden. Er meint, er ist wohl ins Ausland gegangen, vielleicht in die Schweiz; die ist ja in der Nähe seiner Heimat.«

Er schwieg eine Weile, da er sah, wie die Not noch immer gleich groß und gleich trostlos war. Dann sagte er: »Wenn Eggert noch nicht an Höbke Suhl geschrieben hat, so hat er das Geld noch nicht zusammen, um es ihr senden zu können. Wenn er das Geld zusammen hat, wird er es ihr senden und ihr schreiben; denn sein Wort wird er halten.« Dann führte er aus, was er sich in stillen Stunden zurechtgelegt hatte, was er der Mutter sagen wollte. »Du mußt es nun tragen, Mutter,« sagte er. »Wodurch ist Eggert in jenen Verdacht gekommen? Grade durch sein Bestes: sein grades, harmloses Wesen, sein unbedachtes Feuer, seine Kunst. Grade dadurch, durch dies sein Bestes! Dadurch fiel er erst den Menschen auf, erweckte dann ihren Verdacht, wurde dann von ihnen angeklagt, und verstand dann in seiner völligen Unschuld nicht seine Verteidigung. Du hast einen guten, wenn auch allzu feurigen und irrenden Sohn in der Fremde; und er denkt mit großer Liebe an dich. Also sei nun seinetwegen nicht allzu traurig ... Schwerer ist die Sache mit Vater. Du bist doch freundlich gegen Vater?«

Sie schluchzte auf. »Wie könnte ich hart gegen ihn sein! Seine Not ist ja noch tausendmal schwerer als meine. Denn ich ... ich weine um ein gutes, verlorenes Kind; er aber glaubt an jedem Tag, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, daß er ein böses, verdorbenes und verstocktes hat. Das aber ist das Schlimmste auf der Welt. Und dazu noch dies, Harm ...: wenn einmal der Tag kommt ... und er kann doch kommen ... wo es gewiß wäre, daß er doch unschuldig war, dann wird seine Not nicht besser, sondern nur größer werden; denn dann muß er sich sagen: ›Du hast nicht an dein Kind geglaubt; du hast es zum Schelmen gemacht und aus Haus und Heimat getrieben, und es war unschuldig.‹ Sieh, das erträgt er nicht.« Sie senkte den Kopf auf die Hände und legte die Schürze über das Gesicht und weinte.

Er warf einen scheuen Blick auf das Haar der Mutter, das im letzten Jahr heller und grauer geworden war. Auch er wußte nicht Weg noch Stege. Es war alles so, wie sie sagte. Aber lange konnte er nicht schweigen; er hatte etwas in sich, einen Willen, eine Stimme, die von ihm forderte ... das Leid mochte noch so schwarz sein ...: ›Glaube an das Licht!‹ Er breitete die Hände aus und sagte: »Mutter, ich weiß auch keinen Ausweg, gar keinen! Alle Menschenkraft ist hier zu Ende! Es bleibt nichts übrig, als diese Sache Gott und allen guten Geistern vor die Füße zu werfen und zu sagen: ›Wenn ihr könnt, dann helft!‹ Wer weiß, vielleicht helfen sie über alles Wissen und Verstehen!«

Die Mutter nickte unter Tränen. »Man muß immer hoffen,« sagte sie; »aber schwer ist es, Harm.« Dann wies sie nach der Tür und sagte leise: »Die Kleinen kommen.«

Da ging er nach der Tür und strich den drei Kleinen, die vom Nachbar kamen, über die Köpfe, und fragte jeden nach den Spielgefährten und nach der Schule und nach dem neuen Kalb, das sie besehn hatten. Danach kam auch der Vater von der Mühle zurück. Groß und gewichtig ... er mußte sich bücken, da er durch die Tür trat ... kam er in die Küche. Der Sohn wunderte sich, da er ihn wiedersah, wie groß seine Erscheinung war. Er hatte ln dem ganzen Jahr in der Fremde keinen solchen Mann gesehn, von so ehrwürdiger Erscheinung, keinen, der in hoher, schwerer, etwas zur Erde neigender Figur so das Wort predigte: wie herrlich ist der Mensch und wie mühselig! Auch er war grau geworden; und seine Augen, die immer schon scheu auf die Menschen gesehn, waren nun flüchtig in Not und Scham.

Nachher saßen sie alle um den Tisch und aßen zu Abend; und der Heimgekehrte erzählte von allem, was er gesehn und erlebt hatte, besonders von der Reise, die er hinter sich hatte, die das große Erlebnis seines jungen Lebens war. Der Vater sagte kein Wort; er hörte bald zu, bald wieder weg; dann waren seine Gedanken bei seinem Leid. Auch die Mutter war nicht immer bei seiner Erzählung. Reimer aber war lauter Ohr und Wißbegierde. Er tat unzählige Fragen und ließ keine Ruhe, bis er ein deutliches Bild von allem hatte. Emma hatte erst eine Weile zugehört, während sie am Kleid der Jüngsten nähte. Danach saß sie mit gebeugtem Kopf über einem dicken, altmodischen Buch und las Seite nach Seite, und sah und hörte nichts anderes. Der Heimgekehrte mochte nicht fragen, was für ein Buch es wäre. Dann wurde es Schlafenszeit, und sie gingen auseinander.

Als er mit seinem Bruder Reimer in der Kammer war und sie sich entkleideten, fragte er: »Was war das für ein Buch, in dem Emma las?«

»Ja,« sagte der, »das war ein frommes Buch; ich glaube, es sind Predigten.«

Er schüttelte den Kopf: »Was ist denn mit ihr geworden, daß der Kirchgang ihr nicht genug ist?«

Bruder Reimer hatte sich schon hingelegt, stützte den Kopf auf den Arm und sagte eifrig: »Weißt du, es dreht sich alles um den Knecht. Du erinnerst dich doch der Geschichte, wie sie den Frosch an die Wand warf, daß er ein Prinz würde? Na, siehst du: und nun ist ihr Glaube, daß der Knecht, weißt du, der Knecht ... so einer gewesen ist ... so ein verkappter Prinz. Ich nehme an, daß sie sich mehrfach mit ihm unterhalten hat und er ihr so dies und das aus seinem Leben erzählt hat; aber sie spricht nie davon; genug, sie ist überzeugt, daß er heimlich großes Unglück in sich trägt, Not vom Elternhaus oder von seiner Kindheit, oder vielleicht eine alte Schuld oder was es ist, und daß Gott ihn hierher auf unsern Hof gesandt hatte, daß sie ihm Hilfe brächte; und es ist nun der Jammer und die Not ihres Lebens, daß sie das in ihrer Trägheit oder Blindheit oder Glaubensarmut nicht erkannt hat, und daß er nun also hilflos in seiner alten, schlimmen Not durch die Welt läuft.«

Harm schüttelte den Kopf. »Weiß sie, daß wir ihn beschuldigen, daß er der Pfeifer war?«

»Nein, das weiß sie nicht. Das wagen wir ihr nicht zu sagen; es würde sie auch nur in ihrem Glauben an ihn bestärken.«

»Wer war denn nach ihrer Meinung der Pfeifer?«

»Der Pfeifer? Ja, vielleicht war es Eggert ... wahrscheinlich aber irgendein andrer, Geist oder böser Mensch, der nach Gottes Willen den Knecht verfolgt und beunruhigt; aber wir verstanden es eben nicht; wir waren nicht fromm genug. Vor allem war sie selbst nicht fromm genug. Und so kam es, daß der Knecht ruhlos weiterwanderte und daß sie selbst krank wurde, und daß Eggert das Haus verließ. Das ist nun alles ihre Schuld. Und nun tut sie Buße, und bittet Gott um Vergebung, und bittet wohl vergeblich und weint.«

Harm hatte sich auch hingelegt, atmete schwer und sagte: »Und was denkst du, was wird nun daraus?«

Bruder Reimer richtete sich auf und sagte eifrig: »Erstens geht sie alle Sonntag abend zu Schuster Ehlers, den sie den Heiligen nennen; da betet und singt sie. Und wenn sie von da zurückkommt, ist sie immer etwas froheren Mutes. Und zweitens helfe ich ihr. Ich verstehe sie nämlich ganz gut. Sieh ... es liegt da nichts anderes vor, als ein überzartes Gewissen, und ihr fehlt also weiter nichts, als daß ihr Gewissen stärker und fester wird.«

»Wie machst du das denn?«

»Du hast es ja gesehn, wie du ankamst! Ich tue, als wenn es gut für mich ist, wenn sie mir die Weltgeschichte und alle meine andern Sachen verhört. In Wirklichkeit, weißt du, ist es durchaus nicht nötig; ich hab alles, was ich will, im Kopf, wenn ich es zweimal mit Verstand überlese. Nun priestere ich ihr also alles vor, was mir gut für sie scheint, um ihr Gewissen zu härten. Vor allem Weltgeschichte! Damit sie erfährt, wie es wirklich in der Welt hergegangen ist und noch hergeht! Du sollst sehn, sie wird dadurch allmählich wieder gesünder!«

Harm Ott schwieg eine Weile und dachte über die Schwester nach, und konnte ihr Wesen nicht enträtseln. Dann kamen seine Gedanken mit kaum geringerer Sorge zum Bruder und er sagte: »Und was treibst du Sonntags?« Er dachte an jene üblen Radfahrten, die er in diesem Alter gemacht hatte, die ihn beschämten, so oft er ihrer gedachte.

Bruder Reimer ließ den aufgestützten Arm sinken und sagte mit unsicherer Stimme: »Ja, wenn Emma bei Schuster Ehlers ist, dann bin ich meistens mit den Kindern von dem Hamburger Kaufmann zusammen, den beiden Jüngsten ... Du kennst doch das Mädchen und den Jungen?«

»Ja ... die dunkle,« sagte sein Bruder, »die einen immer so verwundert ansieht. Sie hat so hübsche, erschrockene, verwunderte Augen ... sie mag jetzt so um fünfzehn sein.«

»Ja, die ist es! Mit den beiden bin ich zusammen ... wir drei haben einen Verein gegründet.«

»Einen Verein ... Ihr drei?«

»Ja, wir wollen die Natur entdecken ... besonders die Natur im Menschen! Zuerst wollen wir, daß die Kinder loser groß werden, weißt du: spieliger ... daß sich ihre Natur ausbreitet und zutage kommt, was in ihnen ist. Und danach wollen wir allen Kindern besondere Aufgaben allerart stellen, um ihre Grundbegabung zu finden, wollen ihnen auch alle zwei Jahre allerlei Kunst und Handwerke vorführen, und ihnen dann selbst die Entscheidung ihres Berufs völlig allein überlassen. Dabei soll auf besonders eigenartige Merkmale: Schädelbildung, tiefe Augen, besonders sinnige Antworten und dergleichen Bedacht genommen werden. Uns scheint, dies sei der richtige und einzige Anfang, daß ein Volk und ein Land hochkommt. Ja, man wird sogar große Wunder erleben! Was werden da für Menschen, was für Begabungen aufblitzen! Und in welchen Mengen! Was für Gedanken werden sie denken! Wenn ich auf dem Seminar bin, will ich diesen Plan weiter ausdenken, immer weiter!«

Es war dunkel in der Kammer geworden und Harm sah nichts weiter von seinem Bruder als die längliche Form des Kopfes mit dem Haar, das ein wenig zu lang war; aber er hörte an der Stimme, daß seine Augen von kommender Erwartung brannten.

»Nun,« sagte er, »... und deine beiden Genossen sind ganz mit dir einverstanden?«

»Ja,« sagte Bruder Reimer. »Was den Jungen angeht, so denkt der ja zur Hauptsache immer an seinen eigenen Fall. Er schimpft auf die Schule, und daß sein Vater immer noch nicht erlaubt, daß er zur See geht. Aber das Mädchen ..., ja, die hört mit großen Augen zu, wenn ich es auseinandersetze. Mit sehr großen, sage ich dir!«

»Die hat dich wohl gern?«

»Ja,« sagte er in angenommenem, gleichmütigem Ton. »So wie die Mädchen sind.«

Dann schwieg er, und lag noch eine Weile so wach und unbeweglich, fast atemlos, die Augen in die weite Ferne. Dann sagte er in der prächtigen, sichern und selbstbewußten Art, die er in dieser Zeit an sich hatte: »Ich habe einmal gelesen, daß ein Mensch, der es nachher weit gebracht hat, seine wichtigsten Gedanken schon in seiner Kindheit und Jugend gehabt hat. Die Gedanken, die er nach zwanzig oder dreißig Jahren ausführte, hatte er schon als Junge! Wer weiß, vielleicht ist es mit mir ebenso!«

Dann schwieg er, und schien bald darauf zu schlafen.

Harm Ott aber lag noch lange Zeit wach, die Hände unter dem Kopf verschränkt, erfüllt von all dem, was dieser Tag ihm gebracht hatte. Er sah noch einmal jeden der Seinen vor sich, wie er ihn im Laufe des Tages erlebt hatte: den Vater, die Mutter, die Schwester, den Bruder Klaus und den Bruder Reimer. Zuletzt dachte er auch an den Bruder in der Fremde, und endlich an sich selbst und seine Hoffnung auf ein tüchtiges und angesehnes Leben unter den Menschen. Er ließ sie alle noch einmal an sich vorübergehn und wunderte sich, und dachte fast erschrocken: ›Welch eine bunte Gesellschaft, und alle aus demselben Hause! Wie sollen sie alle ihren Weg finden?‹ Und es wollte sich wieder eine Last auf seine Seele legen. Aber dann ruhte er in seiner Weise nicht eher, als bis er an jeder Stelle, wo Dunkel war, einen Schimmer von Licht sah, und wo Trauer und Sorge war, einen Schein von Hoffnung, und wo Wege und Stege für Menschenaugen und Menschensorgen aufhörten, Glauben und Zutrauen zu Gott wie ein stures, kleines Fähnlein aufgerichtet war, das vor ihm dahinflatterte.


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