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12. Kapitel

Wilhelmshaven

Der Zug war unendlich lang und schon ziemlich mit Reservisten und Freiwilligen besetzt. Trotzdem hielt er auf allen Stationen und nahm überall Reservisten und Freiwillige mit. An einigen Stellen begegneten sie andern Zügen, die da hielten und warteten. Überall, auf allen Bahnhöfen, sah man auf den ersten Blick, was vor sich ging: in den Zügen und nach den Zügen sich drängend die junge Mannschaft zu Hunderten und aber Hunderten, und in den Gärten und Gängen die dichte Menge der Menschen, die daheimblieben. Und die, welche in den Krieg, in Not und Tod zogen, schwenkten die Mützen und jubelten; und die, die draußen standen und Abschied von ihnen nahmen, versuchten zu lächeln; aber in ihren Augen stand der Jammer; und manchem, der sich zurückhielt im Schatten, liefen die Tränen über die Wangen.

Als sie in Bremen hielten, zogen wohl zweitausend Mann den Bahnsteig entlang, noch uneingekleidet, aber schon in Reih und Glied geordnet. Sie fragten sie aus den Fenstern, wohin sie führen. Sie antworteten: »Garde! ... Berlin! ... Potsdam! ... Spandau!« Es waren lauter niedersächsische Leute, und kamen, wie es schien, von den einsamen Dörfern und Feldern der Umgegend. Sie hatten ihr Leben in gleichmäßiger Ruhe verbracht und mancher von ihnen ging auch jetzt noch still versonnen seines Weges, ganz in der Weise, wie er hinter dem Pflug hergegangen war; aber die meisten waren von dem ungeheuren Leben auf dem großen Bahnhof und von dem bewegten Empfang, den man ihnen bereitete, erregt, und es glimmte etwas wie Feuer in vielen Augen. Ein älterer Mann, wohlgekleidet, stand zur Seite, wo sie vorbeizogen, und sowie sie vorübergingen, griff er in seine Rocktasche, und während er mit Tränen kämpfte, sagte er: »Ich habe keine Kinder ... ich kann euch nichts andres geben als dies ... macht euch eine Freude damit,« und er gab ihnen Gold- und Silberstücke. Sie nahmen sie mit schlichtem Dank gleichmütig an. Nicht weit von ihm warf ein frisches Mädchen Blumen in die Reihen. Als diese an ihrem Wagen vorüber waren, kam eine andre Schar, die noch von den Ihren begleitet war, wohl Leute aus Bremen selber. Sie waren still; ja mancher war bis ins Innerste in Not. Wie fest die Hände der jungen Eheleute ineinander lagen! Wie sie einander in die Augen sahen! Und immer wieder, wenn der Zug sich staute, hörten sie aus dem Munde der Männer dieselben Gedanken: »Du siehst es ein, daß es nötig ist ... Das Beste ist, daß wir wissen: unser Kaiser und unsre Regierung haben es nicht angefangen. Klage nicht ... Frage nicht ... Es ist Schicksal! ... Es geht über Menschenmacht ... Daß ich sterblich bin ... das wußtest du immer schon! ... Sei tapfer ... sei stark! ... Erzieh das Kind recht und gut!« Das hörten sie immer wieder. Die Brüder mochten es zuletzt nicht mehr hören, sie zogen sich in ihr Abteil zurück und saßen da in stillen Gedanken ... Nach langer Fahrt kamen sie um Mittag in Wilhelmshaven an.

Sie wurden schon am Bahnhof von Offizieren und Leuten empfangen. Die Brüder mußten sich trennen: Reimer zog mit einem großen Trupp noch völlig ungeordneter Freiwilliger davon, um in irgendeiner Kaserne sein Heil zu versuchen; Harm marschierte in die Stadt. Sie füllten die ganze Breite der Straße. Auf den Bürgersteigen, an den Fenstern, auf den Plätzen, an der Kirche drängte sich die Menge der Einwohner, und winkte ihnen zu und grüßte mit Mund und Händen; in ihren Gesichtern stand lauter Eifer, Freude, Ehre, Stolz, und sie gingen aufrechter, da sie vorübergingen.

Unterwegs fragten sie die vorübergehenden Seeleute: »Wißt ihr etwas von draußen?« ... »Sind die Engländer schon da?« ... »Haben wir schon Schiffe verloren?« Und sie glaubten ihnen nicht, als sie sagten, daß von den Engländern weder etwas zu sehn noch zu hören wäre. Sie meinten, sie wüßten es nicht anders, und die Wahrheit würde ihnen verheimlicht. Denn sie dachten alle nicht anders, als daß England, wenn es denn einmal gegen uns ginge, gleich in den ersten Tagen mit seiner ungeheuren Macht auf uns losbrechen würde, um uns mit einem Schlag zu vernichten. Da es nun noch nicht erschienen war und alle dasselbe sagten: »Nein, sie sind noch nicht da!« ... oder: »Nichts von ihnen zu sehn!« ... kam es Harm Ott in den Sinn, während er im Zuge dahinging: daß es uns doch vielleicht gelingen könnte, sogar auch zur See, leidlich davon zukommen. Und er ermunterte sich und sagte einiges von dem, was er so dachte, seinen beiden Nebenleuten; und er merkte, daß auch sie guten Muts waren.

In dem großen Hof der Tausendmannkaserne war es schwarz von Menschen. Reservisten standen und ordneten sich; Einwohner gingen mit Milch und Brot und Obst durch sie hindurch und baten, zu nehmen und es sich schmecken zu lassen. Zur Seite hielten große Möbelwagen, aus deren Tiefe in mächtigen Packen Uniformen und Mäntel kamen. Unteroffiziere riefen mit lauten Stimmen Kais, Divisionen, Schiffsnamen in die Menge. Nach einer halben Stunde Wartens kamen sie, ungefähr hundert Mann, in einen großen Saal, wo die Liste verlesen, Unteroffiziere zugeteilt, Nummern für jeden einzelnen gegeben wurden. Sie schliefen diese Nacht auf hartem Holz in Sälen und Gängen. Sie lagen da zu Tausenden, Mann an Mann gedrängt. Am andem Morgen empfingen sie die neue Kleidung und zogen sie gleich an. In einer Ecke des Hofes bekamen sie Gewehr und Entermesser. Um vier Uhr gingen sie durch die bewegten mit Menschen gefüllten Straßen in Reih und Glied nach dem Kai.

Unterwegs fragte er den Unteroffizier, auf welches Schiff sie kämen; aber der wußte es selber nicht. »Meine Bekannten,« sagte er, »haben schon ihre Bestimmung und haben es alle gut getroffen; sie sind teils auf große Schiffe, teils auf Minenschiffe gekommen. Wohin wir aber sollen, die nach dem Wilhelmskai gehn, weiß kein Mensch. Einer sagte mir was von Fischdampfern; aber das ist ja dummes Zeug. Fischdampfer!? Sollen wir auf Fischdampfern gegen England kämpfen?«

Als sie sich dem Kai näherten und eine Stockung eintrat, und ein andrer Bekannter des Unteroffiziers des Weges kam, lachte der und rief: »Wahrhaftig, ich lüge nicht: Ihr kommt auf'n Fischdampfer. Hundert Fischdampfer sollen draußen Wache fahren, immer so ...« und er machte einen langen Kringel mit der Hand in der Luft.

Bald darauf standen sie, ihre Säcke vor ihren Füßen, in Reih und Glied, die Unteroffiziere vor der Front. Ein Obermaat zählte sie ab, und stand dann wieder und sah nach dem Offizier aus. Der kam denn auch bald in ziemlichem Schritt von einem Dampfboot her, das wie ein großes Verkehrsboot aussah. Er war ein schlanker, feiner Mann. Die eine Hälfte seines kühnen, hageren Gesichts wurde alle Augenblick, besonders wenn er sprach, von einem nervösen Zucken zusammengerissen. Man sah ihm an, daß er in den letzten Nächten nicht geschlafen hatte. Er hörte den Bericht des Feldwebels an, sah prüfend über sie hin, trat zurück und sagte dann kurz, freundlich und frisch, mit einer schmetternden Stimme: »Leute! Ihr wißt es alle: wir sind von zwei mächtigen Völkern überfallen, die uns berauben wollen. Und als England das sah, meinte es, es müßte Teilhaber sein bei dem Geschäft! Es schien ihm nämlich so, es würde ein sehr leichtes Geschäft! Wir deutschen Seeleute aber wollen es ihm höllisch schwer machen, und wenn es angeht, wollen wir es ihm völlig versalzen! ... Leute! Es ist ja klar, daß wir lieber auf einen unsrer großen Pötte gegangen wären! Ich will euch ehrlich sagen: ich habe einen Schreck bekommen, als ich in Berlin erfuhr, ich solle Chef einer Flotte von Fischdampfern werden. Aber jetzt bin ich es ganz zufrieden, ja, ich bin stolz auf mein Kommando! Ich denke, ihr werdet es auch werden! Haben wir nicht die Aufgabe, die Nächsten am Feind zu sein?! Werden wir es nicht sein, die den Kameraden melden: ›Er kommt! Er kommt! Seid wach!?‹ ... Kameraden! Wir wollen dem Kaiser, unserm Führer, geloben, ihm wertvoll zu sein in unserm schlichten Dienst! Seine Majestät, Kaiser Wilhelm, er lebe ... hoch!«

Sie waren alle fortgerissen von seinen klaren, raschen Worten und stimmten freudig ein in den Ruf; er hatte ihnen ganz und gar aus dem Herzen gesprochen. Dann sprach er noch dies und das mit dem Obermaaten, und verabschiedete sich dann von ihnen, indem er an seine Brust schlug und mit seiner schmetternden Stimme sagte: »Ich werde über hundert Boote unter mir haben ... aber ich werde jedes einzelne Boot ... jeden einzelnen Mann hier in der Brust tragen!« Und er blitzte sie an und forderte Glauben an seine Worte.

Sie glaubten es ihm alle. Und es ging ihnen allen durchs Herz, daß er das gesagt hatte, und mit so schmetternder, scharfer Stimme und brennenden Augen. Er wollte sie alle in seiner Brust tragen! ... Ja ... das hatte er gesagt!

Sie wurden nun verteilt auf die einzelnen Fischdampfer: je einige zwanzig Mann Besatzung für jeden. Kapitän war ein Steuermann der Reserve, meist ein Mann aus der Handelsmarine. An der Spitze der Besatzung, zu der Harm Ott gehörte, ging ein kleiner, dunkler Mann mit einer stattlichen Habichtsnase, Steuermann bei der Levantelinie. Er war in einer fünftägigen Reise von Venedig her durch Österreich und ganz Deutschland gestern in Wilhelmshaven angekommen. In seinem Kopf spukten noch die begeisterten Empfänge, die Reden und Gesänge, und der schöne Wein, den es auf jedem Bahnhof durch das ganze, weite Österreich gegeben hatte, und das ewige Gerummel und Gestoß des Zuges. Vor Müdigkeit wankend, sich bei jedem dritten Schritt jäh aufraffend, ging er vor seinem Zug her. Die Leute beredeten, nachdem die Erregung, die von der Ansprache ausgegangen war, sich gelegt hatte, mit stillen Augen die Zustände und die Aufgaben, die ihnen bevorständen. Ein junger vierkantiger Fischer von Emden sagte versonnen und verwundert: »Dat war' also uns' Admiral!« und meinte dann: »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich meiner Frau noch heute schreiben müßte, ich sei auf einen Fischdampfer gekommen, genau dahin, wo ich herkomme!« Ein Mann von Büsum, dem man an den raschen Bewegungen und an den etwas ruhlosen Augen ansah, daß er nicht immer zur See gefahren hatte, sondern erst nach vielen, nicht geglückten Versuchen an Land auf das Meer geraten war – er fischte jetzt Krabben in der Süderpiep – sagte: »Kinder und Leute, ein großer Panzer wäre mir lieber gewesen! Es wird verdammt langweilig werden! Wie es wohl mit der Verbindung nach dem Land stehn wird? Ich muß durchaus täglich einen kleinen Kümmel haben.« Die andern lächelten und sahen bei der Gelegenheit jeder in das Gesicht des Nebenmanns, wes Geistes Kind er wohl wäre, mit dem er nun vielleicht Monate im gleichen Raum und in gleicher Gefahr hausen sollte. Ein andrer, wie es schien ein Hafenarbeiter, breitschultrig und schwer, schon älter, ging mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin und dachte nach; dann schlug er die Augen auf, sah Harm Ott an und sagte langsam: »Wenn die Engländer kommen ... und natürlich kommen sie ... vielleicht Torpedoboote oder U-Boote voran . .. vielleicht auch gleich mit ihren Allmächtigen ... dann sollen wir natürlich ausbüxen. Da wir aber nur höchstens acht Meilen laufen, wird uns das nicht gelingen. Aber das ist ja auch nicht nötig; denn wir sind ja nicht viel wert: ein kleiner Fischdampfer mit zwanzig Mann ... was ist das für ein kleiner Verlust!? Also schicken wir noch rasch unsern Funkspruch an den Admiral: >Sie kommen ... mit so und so viel Schiffen ...< und dann gehn wir in die Tiefe.« Er hatte es so ruhig und laut gesagt, daß sie es alle gehört hatten. Harm Ott war der erste, der nach der Stille, die nach seinen Worten eintrat, etwas wie eine Antwort gab; er sah seinen Nebenmann an und sagte: »Was ist zu tun, Kamerad?! Der eine hat dies, der andre jenes Schicksal ... und nirgends bunter als im Krieg.«

So kamen sie an den Kai und kletterten über zwei oder drei andere Boote, die mächtig nach Fischen rochen, und stolperten auf ihr Boot, legten die Säcke vorläufig an die Wand der Kombüse und nahmen erstmal das Schiff in Augenschein, besahen, was den meisten neu an so einem Fischerboot war, und beredeten die besondere Ausrüstung: den Scheinwerfer und das Geschütz und ob' sie wohl noch mehr bekämen, und standen dann ein wenig umher und warteten auf den Steuermann, der abgebogen und auf einen Musterdampfer gegangen war, um sich die Veränderungen anzusehn, die nötig waren. Bald darauf erschien er wieder und rief: »Hier mal her! Hier im Fischraum das Holz heraus! ... Es ist ganz vermulmt und riecht unerträglich. Ist da ein Tischler unter euch ... ein Zimmermann?« Harm Ott meldete sich. »Schön, hierher! Fünf Mann helfen Ihnen: das Holz wegreißen, neue Latten anbringen, Kojen einrichten ... so und so ... Katen für die Hängematten einschlagen,« und er gab das Weitere an, wie er es auf dem schon eingerichteten Nachbardampfer gesehn hatte, und ging, um nach dem übrigen zu sehn.

Sie machten sich mit Eifer an die Arbeit, wobei sie sich in ihrer langsamen, ruhigen Art unterhielten. Allmählich aber zersplitterte sich die Unterhaltung, indem jeder anfing, seinen Nachbarn mit aller Vorsicht auszufragen, woher er käme, welcher Art sein Beruf wäre und ob er verheiratet wäre und dergleichen, wobei immer ein Lässiger mit einem Rascheren zusammengekommen zu sein schien, und der Raschere auch ungefragt über seinen eigenen Zustand Auskunft gab. Als sie so forsch weg arbeiteten und nach all dem unendlichen, mächtigen Treiben und den Aufregungen der Reise die alte, langsame Ruhe über sie kam, wurde von oben her wieder nach einem Tischler gerufen. Sie sagten alle: »Geh nur, wir machen es schon allein!« und einer sagte: »Nu kiek, Du bist ein begehrter Mann!«

Er gab noch Anweisungen, welches Holz sie holen sollten, und stolperte die Leiter hinauf und ging mit der Ordonnanz an Land und nach dem Verkehrsboot hinüber, das zum Flottillenschiff für die Vorpostenflottille bestellt war, und wurde in einen großen, wohnlichen Raum an Deck geführt, wo ein Offizier ihm auftrug, aus verschiedenen Holzplatten einen großen Kartentisch zusammenzuschlagen und aufzustellen. Ein Matrose war ihm als Helfer gegeben. Es war da ein immerwährendes Kommen und Gehn, und die Offiziere wußten oft nicht, auf welche Ordonnanz sie zuerst hören und welchen Mann sie zuerst abfertigen sollten. Er machte sich in all dem Wirrwarr gleich an die Arbeit, ging ab und zu, holte sich Holz und Handwerkszeug herbei, und freute sich, für einige Stunden in seinem Beruf, den er so liebte, tätig zu sein.

Als er nach einigen Stunden – es ging gegen Abend – die Arbeit getan hatte und mit Lob entlassen wurde und durch ein Gewirr von Menschen und Wagen seinem Boot wieder zustrebte, rief ihn ein Cuxhavener Bootsmann und Fischer an, den er einmal kennen gelernt hatte. Er stand im Eingang eines Schuppens unter wohl hundert andern Männern, die ganz langsam vorwärts in den Schuppen hineindrängten. Er fragte den Bekannten neugierig: »Was willst denn du hier? Tu bist ja doch bei deinem Alter noch lange nicht verpflichtet, dich zu stellen?«

Der Mann hob die mächtigen Schultern und sagte: »Ja siehst du ... da England nun auch gekommen ist und ein Aufruf nach Freiwilligen erlassen ist, so dachte ich, ich wollte denn gleich mitgehn.« Und als wenn er meinte, er müsse diesen Schritt noch besonders entschuldigen oder erklären, fügte er hinzu: »Ich und meine Nachbarn dachten: wenn wir möglichst viele und gleich mitgehn, ist der Krieg auch um so eher vorbei.« Und um noch ein übriges zu tun, sagte er: »Ich habe übrigens, da ich mit zehn Jahren angefangen habe, jetzt schon fünfundzwanzig Jahre gefischt und habe nun mal Lust, was andres zu tun.« Das alles sagte er außerordentlich langsam und würdig; nur zuletzt, als er das von den fünfundzwanzig Jahren sagte, lächelte er ein wenig über sich selbst.

Harm Ott meinte, es ginge nur langsam vorwärts mit der Untersuchung und er müsse noch lange warten.

»Na,« sagte der wieder gleichmütig, »es geht rasch genug. Der Doktor, der da drinnen untersucht, macht es ganz praktisch, und tut überhaupt alles, was er kann, besonders wenn man bedenkt, daß er grade einen Gichtanfall hat. Was das zu bedeuten hat, weiß ich. Meine Mutter hat über zwanzig Jahre daran gelitten. Vom Marschwasser, sagt der Doktor.« Er wandte sich nach dem Fenster um, das hinter ihm war, legte die Hand über die Augen und sagte: »Kuck mal hinein.«

Harm machte es wie sein Bekannter, legte die Hand über die Augen und sah ins Fenster. In einer Hängematte, die unter Deck aufgehängt war, lag der Arzt, ein langer, hagerer Mann in mittleren Jahren mit einem noch jungen, aber sehr verwitterten Gesicht, das dann und wann von Schmerz verzerrt wurde, unter einer Wolldecke im Nachthemd, aber die Dienstmütze auf dem Kopf. Zwei mächtige Kerle, braun von Seewasser und Sonne, traten grade neu vor ihn hin. Er tat einige Fragen, sah sie scharf an und schrie: »Angenommen!« Die Schreiber an den Nebentischen schrieben es nieder. ...»Ist das nicht großartig?« meinte der Cuxhavener. »Kurz und praktisch!«

Da hatte der Arzt bemerkt, daß das Fenster beschattet wurde und daß er nicht mehr so gut sah. Er hob sich jäh in der Hängematte nach dem Fenster zu und schrie mit verzerrtem Gesicht: »Her mit den Leuten, die mir das Licht nehmen!... Ich will sie eigenhändig niederschlagen!«

Der Cuxhavener kam ziemlich schnell vom Fenster weg, steckte die Hände in die Taschen seiner Hosen und sagte gemütlich und beifällig: »Wir beide sind es natürlich nicht gewesen! ... Aber war das nicht wieder großartig? ... Von einem Menschen mit Gicht!« Und er wollte wieder irgendeine Geschichte von seiner Mutter erzählen; aber Harm Ott hielt es für richtiger, sich aus dem Staube zu machen.

Er kehrte, wieder zu seinem Fischdampfer zurück, wo sie sich zwischen ihren neugezimmerten Kojen und an dem neuen Tisch grade zum Abendbrot hinsetzten. Sie erzählten ihm in einiger Erregung ... so als wenn sie nachträglich seine Zustimmung haben wollten, da er doch dazugehörte ... daß sie mit dem Koch Streit bekommen, weil er ihnen die Bratkartoffeln völlig trocken vorgesetzt habe; und da er noch dazu schnoddrige Antworten gegeben, hätten sie ihn verprügelt. Sie waren offenbar etwas bedrückt; denn der Koch war von Bord gelaufen, um sich zu beschweren; und sie fürchteten, daß der Steuermann nun über sie herfahren würde. »Wir haben abgemacht,« sagten sie, »wir wollen kurz sagen, daß wir durch den ganzen Wirrwarr nervös wären und außerdem hätten wir ihn für einen englischen Spion gehalten.« Ein Kurzer, Dicker, ein Westpreuße, der bisher noch kaum ein Wort gesagt hatte, murmelte, völlig im Bilde: »Wenn ich einen Menschen für einen englischen Spion halte, den darf ich doch verdreschen?« Nachdem sie ihm das erzählt hatten, riefen sie ihm von mehreren Stellen zu, so eng der Raum auch war, er solle sich hier und hier hinsetzen. Er setzte sich zwischen den Unteroffizier und den dicken Westpreußen, und es war ihm schon, als wenn er heimisch wäre.

Am Abend schrieb er noch eilig eine Karte nach Haus, auf der er meldete, wo er denn nun untergekommen wäre, und schlief dann in einer rasch aufgehängten Hängematte, da die Kojen noch nicht alle hergestellt waren, tief und fest, in seinem Traum immer wieder in einem kleinen Fischladen in der Hauptstraße seiner Heimatstadt. Als sie erwachten, rissen sie sofort die Luke auf; es war noch ein unerträglicher Fischgeruch im Raum, der durch das Nachtquartier von zwölf Mann nicht schöner geworden war.

Er ging an Deck und wusch sich; und sie gingen wieder an ihr Tagewerk, das Boot für seinen neuen Zweck brauchbar zu machen. So arbeiteten sie den ganzen Tag mit Eifer, ja mit Leidenschaft. Der Schweiß rann ihnen von der Stirn, ihr Atem ging schwer; und mancher tat zuviel und mußte eine Weile innehalten, weil ihm der Atem ausging. Am folgenden Tag nahmen sie Kohlen ein. And am Abend, nachdem sie vier Stunden lang daran gescheuert und geschrubbt, war das Boot klar.

Da ging er mit Urlaub von zwei Stunden an Land, um sich ein wenig allein zu ergehn. Denn es war ihm doch lästig geworden, so Stunde für Stunde, nun schon zwei Tage, immer unter Menschen zu sein. Er ging über den Kai und Lagerplatz, und kam an den Deich und legte sich ein wenig ins Gras, so wie er es von der Heimat her gewöhnt war, wo an Sommerabenden oft ganze Reihen den Deich entlang nach Feierabend in der Sonne liegen: junge Leute und Mädchen, und sich unterhalten. Er lag da zwei Stunden lang und hing seinen Gedanken nach. Er wußte, in welche Gefahr er ging, und meinte, daß da nicht viel Aussicht wäre, daß er mit dem Leben davon kam. Es war die Stimmung, die zu Anfang des Krieges in allen war, die in die See gingen. Sie dachten alle, Englands ungeheure Übermacht würde sie zerschmettern, und sie würden nicht mehr Erfolg haben, als daß auch die englische Macht schwer verwundet werden würde. And nun ging er morgen auf einen kleinen Kahn, der weiter keine Waffe hatte, als ein kleines Geschütz, auf Vorposten. Wahrhaftig, da war nicht viel Hoffnung! Er wurde wieder bitter gegen Gott, daß er den Kriegsjammer zuließ und ihn auf diesen Posten gestellt, und daß er nun wohl früh sterben müsse: weg vom Leben, das in so schöner Sonne und Luft vor ihm gelegen, weg von den Seinen! Ein Rätsel war Gott! Es war nicht so einfach, was er in der Schule gelernt hatte: Gott ist die Liebe! »Daß es alles einen guten, rechten Sinn hat, dabei will ich bleiben«, dachte er, »auch im letzten Augenblick, auch wenn ich versinke! Aber Liebe? Herb und dunkel!« ... So rätselte er an dem Gewaltigen, das ihn in seinen Strudel riß, und war traurig um sich und um seine Eltern und um die ganze Menschheit.

Seinen Bruder Reimer sah er nicht wieder. Er erfuhr erst drei Wochen später durch einen Brief der Mutter, daß es ihm geglückt wäre, angenommen zu werden. Er hatte gesagt, er stamme aus einer uralten Schifferfamilie; und da hatten sie ihn genommen. Er hoffte, auf ein Torpedoboot zu kommen; denn die, hatte er geschrieben, würden vorangehen, wenn es gegen England ginge.

Denn England, so sagten sie alle, die jungen und alten Freiwilligen, und ebenso das ganze Heer, wäre der eigentliche Feind, nicht allein Deutschlands, sondern der ganzen Menschheit.

In der zweiten Hälfte der Nacht warf die »Alte Liebe« – das war der Name ihres Boots – von Land und fuhr nach Schilling Reede und seewärts, und erreichte um Mittag südwestlich von Helgoland die offene See.

Einige Stunden später rief der Steuermann von der Brücke herab: »Maschine... langsam!« Sie waren auf ihrem Posten. Es wehte ein frischer Südwest- Wind.


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