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25. Kapitel

Der Nachtmarsch

Am Eingang zur Niedergangstür begegnete ihm wieder ein Bekannter und rief: »Wo kommst du her? Du warst doch beim Admiral?«

Er hörte nicht darauf; er fragte mit angstvollen Augen: »Hast du meinen Bruder gefunden?«

»Jawohl! ... Den habe ich eben noch gesehn ... Ich glaube, er arbeitet in seiner Kasematte. Ihr Geschütz ist kaputt.«

Da atmete er auf, und ging weiter hinter dem Träger her, und kam in den Verbandsraum. Der ganze große Raum und die anstoßenden Kammern waren voll von Verwundeten; in der schwachen Beleuchtung stachen die dicken, schneeweißen Verbände hart leuchtend hervor. Die meisten lagen Schulter an Schulter; einige, die an den oberen Gliedmaßen und nicht schwer verwundet waren, standen oder knieten neben den Liegenden und sprachen mit ihnen, und hielten ihnen Wasser vor den Mund. Einige, die schwere Brandwunden hatten, gingen mit wirren Augen umher. Der Pfarrer, einen dicken Verband um Kopf und Schultern – er war in der Kasematte, die ausgebrannt war, schwer verwundet worden – mit Ohnmacht kämpfend, ging trotzdem von Mann zu Mann, besorgte denen, die Hunger und Durst hatten, das Nötige, ermunterte die schwer Leidenden und betete mit den Sterbenden. Der Oberstabsarzt, im weißen Mantel, stand unter dem scharfen Licht der Sternlampe über einen entblößten Leib gebeugt und legte nun Binden darauf.

Harm Ott sah es und bat die Träger, daß sie einen Augenblick hielten.

Der Oberstabsarzt richtete sich auf: »Fertig,« sagte er.

Da bat Harm Ott: »Verwundeter von T. B. ... muß nach Aussage des Sanitätsgastes sofort behandelt werden ... Verblutung ...«

Der Arzt winkte, und der Verwundete glitt in der Hängematte auf den Tisch vor ihn. »Platz!« ... und beugte sich über ihn und wollte nach dem Verband greifen. Da stutzte er, sah nach dem Gesicht, öffnete das eine Auge und sagte: »Was soll das? Der ist ja tot!«

Harm Ott stöhnte jammernd auf ... »Es ist mein Bruder,« sagte er ... »vorhin lebte er noch.«

Die Träger und die Nahestehenden hörten es und sahen mitleidig auf ihn und den Toten. »Das tut mir leid,« sagte der Arzt, »aber es ist nichts zu machen. Die Augen sind schon gebrochen ... Nach oben!«

Da faßten die Träger wieder die Hängematte, und trugen ihre Last den Weg zurück, und kamen wieder aufs Mitteldeck, und gingen nach vorn. Da lagen da schon viele, zwei lange Reihen, Schulter an Schulter, über je zehn eine Flagge. Da legten sie ihn nieder, hoben ihn aus der Hängematte und schoben ihn ein wenig heran, daß er in Reih und Glied läge, und gingen weg. Einer sagte im Weggehn: »Mußt es dir nicht so zu Kopf gehn lassen, Kamerad! Sieh, da liegen schon viele! Den einen trifft es; am andern geht's vorüber.«

Er blieb da in dumpfen Gedanken stehn, wie von schwerem Schlag vor den Kopf betäubt. Er versuchte, an den Toten zu denken, an die Eltern, an Bruder Eggert; aber sie waren alle in Nebel und Dunst; er konnte sie nicht sehen und nicht denken. Halb unwissend, was er wollte, machte er sich auf den Weg zur Kasematte des Bruders.

Da kam der zweite Artillerieoffizier mit einigen zehn Mann über Deck und rief ihn, mit anzufassen. Und sie fingen an, das Torpedonetz festzuzurren. Es war von Granaten zerrissen; und es war Gefahr, daß es zurückschlug und in die Schraube geriet.

Als sie bei dieser Arbeit in die Nähe der zweiten Kasematte kamen, die bis in die Kohlenbunker hinab zerstört war, hörte einer von ihnen aus der Tiefe leisen Hilferuf. Sie hielten sofort an, holten ein Tau herab und ließen einen Mann hinunter. Der kam bald mit einem verwundeten Heizer herauf. Er holte mit Brechen und Krämpfen Atem, und klagte dazwischen über sein Bein, das geschwollen und stramm im Beinkleid saß. Zwei Mann trugen ihn fort. Die andern machten sich wieder an die Arbeit am Netz. So gingen sie die ganze Reling entlang. Man konnte in der hellen Nacht das ganze Deck übersehen, wie es voll Kartuschen, Holzstücken, Granatsplittern lag; ein Schmutz von Kohlenstaub und Schwefel, oder was es war, hatte es häßlich gelblich gefärbt und machte es schlüpfrig. Es war ein unruhiges Kommen und Gehen auf dem ganzen Schiff; sie arbeiteten, alle Mann, mit aller Kraft daran, es notdürftig zu säubern und zu ordnen. Das Schiff hing mit der Nase sehr tief und schlingerte leise; es fuhr, wie es schien, sehr langsam. Einer der Kameraden sagte leise: »Viel weiter dürfen wir nicht wegsacken; dann gehn wir ganz in die Tiefe.« Ein anderer meinte, daß die schlimmste Gefahr von Torpedobooten kommen würde. »Es ist ja wunderlich,« sagte er, »daß sie nicht angreifen; wir treiben hier doch allein und wie langsam!« Das Wasser rauschte und patschte mit unheimlichem Geräusch in den aufgerissenen Teilen des Schiffs, besonders in der Kasematte, aber auch in der Back.

Als sie das Netz befestigt hatten, kam der Befehl, nach dem vordern Kesselraum zu kommen und dort zu helfen, und zwar eilig. Sie liefen, indem sie mit ihren Taschenlampen den Weg erhellten, durch die langen Gänge, an Schlafenden, Toten und Schwerverwundeten vorüber, sprangen die Treppen hinab und sahen gleich die Gefahr. Die Wand, die gegenüber den Kesseln haushoch hinaufgeht, stand unter solchem Wasserdruck von der zerstörten Back her, daß durch Nietlöcher und Nähte in blitzenden Strahlen das Wasser schoß. Unter Befehl des ersten Offiziers arbeiteten Matrosen und Heizer, sie mit Balken abzusteifen. Die Heizer der Freiwache lagen hier und da herum, von Müdigkeit und Ermattung überwältigt. Einige lagen oben auf den Grätings und schliefen, todmüde; sie erwachten weder von der Gefahr des einschießenden Wassers noch von den krachenden Schlägen der Äxte.

Als diese Arbeit beendet war und die Hälfte der Helfer entlassen wurde, verließ auch Harm Ott den Raum. Er dachte jetzt wieder, seinen Bruder zu suchen. Aber da stießen sie auf einen andern Offizier, der ihnen befahl, sofort mit zuzugreifen, daß die Toten und Schwerverwundeten und was da überall in den Gängen und Kammern, an den Treppen und auf den Decks im Wege lag, beiseite geschafft würden. Sie faßten gleich mit an, trugen die Toten, die noch hier und da lagen, wo sie gefallen waren, die Treppen hinauf und legten sie zu den übrigen, sammelten Trümmer in den Ecken zu hauf, und stellten wieder zurecht, was nur verschoben war. Es war ein eifriges Hin- und Herlaufen und Arbeiten über das ganze Schiff, in allen Räumen und Gängen.

Aber so eifrig, ja stürmisch sie anfaßten, hoben und trugen, rissen, schoben und stellten: immer wieder standen hier und da kleine Gruppen beieinander und erzählten sich ihre Erlebnisse, fragten nach diesem und jenem Bekannten, oder, wo zwei nähere Bekannte sich wiedersahen, gaben sie sich stumm die Hand, daß sie sich lebend fanden. Einige standen still da und sahen mit wunderlich leeren Augen vor sich hin. Andere sprachen über den Zustand des Schiffs, sahen nach der Back, die tief im Wasser hing und sagten einer zum andern: »Glaubst du, daß wir bis Helgoland noch schwimmen?« Viele starrten immer wieder über das nächtliche Meer, schüttelten den Kopf und sagten: »Wie kommt es, daß sie uns nicht angreifen? ... daß ihre Torpedoboote nicht kommen?« Sie meinten fast alle, daß sie noch Schweres erleben oder ihr Ende fänden, bevor der Morgen kam. Wenn ein harter Laut kam, ein Eisenstück niederfiel, ein Ventil, eine Tür scharf zuschlug, zuckten sie zusammen. Aber dann kam wieder und wieder über die Gänge, über die Decks der Ruf: »Hier! ... faßt mal mit an!« Und sie traten wieder eilig auseinander und stürzten sich auf die Arbeit. Als aber der Stückmeister ihnen befahl, den Turm zu löschen, der ausgebrannt war, und sie hineinsahen und die verbrannten und toten Kameraden sahen, wurde es ihnen schwer; sie traten einer nach dem andern von der Tür zurück.

Da wich auch Harm Ott zur Seite; und stand einen Augenblick allein neben dem Turm und sah übers Meer, und versuchte seine Gedanken zu sammeln und dachte an die Eltern; und bildete Sätze des schrecklichen Briefes, den er morgen schreiben mußte, wenn er diese furchtbare Nacht überlebte.

Er stand noch so, da kam ein Bekannter um den Turm, sah ihn und sagte: »Warum gehst du nicht auf die Brücke, wo du hingehörst? Geh hinauf und kuck' mit aus für uns!«

Da besann er sich, daß da oben seine Station wäre, wenn der Admiralstab auch nicht mehr da war. Er stieg die große Treppe hinauf und ging um den Kommandoturm und trat an seinen Platz. Die Toten und die Verwundeten waren weggebracht. Es standen da Mann an Mann, wohl zwanzig und darüber, Offiziere und Mannschaften, nebeneinander und starrten mit den Gläsern oder mit freien Augen nach allen Seiten über das Meer. In der Mitte vorm Kommandoturm erkannte er in dem fahlen Grau der Nacht die Figur des Kapitäns, neben ihm den Wachtoffizier. Er hatte da wohl eine halbe Stunde gestanden, da hörte er, wie der eine leise zum andern sagte: »Es ist ja ganz unerklärlich, daß sie nicht kommen!« Ganz fern im Norden lagen zwei helle Scheine auf dem Horizont. Näher, Backbord voraus, sah man ein kleines Licht, das morste; sonst war nichts zu sehen als das dunkle, geheimnisvolle, tote Grau der Nacht. Von Norden und Süden her war ferner Donner zu hören, so fern, daß man das Geräusch der See, die diesiger geworden war, gegen die Schiffswände hörte und das Rauschen des Windes. Wieder sagte eine Stimm«: »Wunderlich ...«

Da erschien wieder ein Licht ... Zehn Hände wiesen darauf hin. Im selben Augenblick die Stimme des Kapitäns: »Scheinwerfer leuchten!« Der blendende Glanz flog übers Wasser. Da! ... Zwei englische Boote standen darin ... grell beleuchtet ... wie ertappt. »Ah ... das sind sie! Feuer!« ... Eine Salve fliegt hinüber.

Aber auch er schießt. Vom Scheinwerfer splittert Glas und Metall in die Tiefe; aufklatschend schlägt es auf Deck. Von den Engländern herüber ein Schreien ... Rauch und Feuer steigt auf ... Gleich darauf beleuchtet der Scheinwerfer eines fernen deutschen Schiffes einen kleinen englischen Kreuzer. Schwere Geschosse überschütten ihn, und plötzlich brennt er mit ungeheurem Krachen lichterloh; der Schein fliegt bis in die Wolken; die ganze See ist plötzlich hell beleuchtet. Eine Viertelstunde später fahren sie zwischen drei brennenden, feindlichen Zerstörern durch. Sie sprechen darüber; aber sie sehen sich nicht an dabei; sie stehen mit spähenden Augen und sehen über die See ... Sie ließen von den brennenden, langsam versinkenden Schiffen ab ... es wurde wieder dunkel.

Harm Ott, der noch einige Zeit stand, fühlte seine Wunde stärker; und es kam ein Gefühl der Schwäche über ihn, und er fürchtete, daß er niederfiele. Er dachte, es wäre irgendwie der Verband nicht in Ordnung und meldete sich ab und ging mit Mühe die Treppe hinunter und kam ins Lazarett. Als er dort ankam, war das Gefühl der Schwäche groß. Er setzte sich gleich neben dem Eingang zu Füßen eines Verwundeten auf die Trage. Als aber der Verwundete um Wasser bat, stand er auf und holte es ihm und tränkte ihn. Er übersah den ganzen Raum und ging auch in die Nebenräume, die auch voll lagen, und sah, daß Bruder Eggert nicht unter ihnen war. Da ging er wieder in den Hauptraum zurück und setzte sich wieder. Er hatte heftige Schmerzen, mochte die Ärzte, die immer noch in hetziger Tätigkeit waren, nicht bemühen und wollte doch in ihrer Nähe sein. Der Raum sah wüst und wirr aus; es war auch noch eine Granate hineingeschlagen. Verbrannte Zeugfetzen, Stiefel, Kleider, schwarzer Kohlenstaub bedeckten den Boden, über den das Wasser schwappte. Einer saß aufrecht und begoß mit dem Wasser, das er in einer Trinkkumme vom Boden nahm, seine Brandwunde am Bein; ein anderer, schwerer verbrannt und von oben bis unten in weiße Binden gewickelt, zwischen denen die gelbe Brandsalbe hindurchdrang, ging wie ein Mondsüchtiger, steif, mit großen Augen, auf und ab; er wollte hinaus, aber sie redeten ihm zu und er kehrte wieder um. Einige waren über und über geschient und verbunden, andere nur an einem Glied; einige lagen bewegungslos, tot oder im Sterben. Die meisten, leichter verwundet, lagen auf dem Rücken und sahen mit stillen Augen um sich und rauchten. In den Gängen standen viele, die überhungrig und übermüde waren. Es war wegen des zerstörten und verschütteten Vorschiffs nicht möglich, an die Lebensmittel heranzukommen; es gab nichts als Reis, in Tee gekocht. Manche fielen um und lagen da wie tot. Es war furchtbar heiß in den Gängen. Viele auf dem ganzen Schiff, und besonders in diesen Räumen, fürchteten, daß das Schiff nicht lange mehr werde schwimmen können. Sie machten sich gegenseitig auf merkwürdige Geräusche aufmerksam, die von unten heraufdrangen, so als wenn Wasser rauschte und stieg und die Maschinen ertränkte. Man mußte ja auch annehmen, daß die englischen Torpedoboote sich gerade dies große, so schwer verwundete Schiff, das wahrscheinlich verlassen und allein seines Wegs zog, zum Angriff aussuchen würden. Der Pfarrer hielt sich immer noch aufrecht, ging von einem Verwundeten zum andern und redete ihnen Mut zu: Helgoland käme bald in Sicht, unter dessen Kanonen würden sie Schutz haben, und für den schlimmsten Fall wären einige unserer Torpedoboote in der Nähe; ... und brachte ihnen Zigaretten und Schokolade. Dann und wann stimmte er eins der alten Schullieder an, in die alle, die es noch vermochten, einstimmten. So war er allen ein großer Trost und immer neue Hilfe. Es kamen auch Kameraden von der Brücke herab und erzählten, wie sie vorhin den Torpedobootsangriff abgewehrt hätten und daß Funkentelegramme angekommen wären, nach denen die Engländer schwere Verluste gehabt hätten; so und so viele große Schiffe des Feindes wären gesunken. Sie waren alle still und hörten es an. Als sie zu Ende erzählt hatten, tat einer der Verwundeten einen langen hörbaren Atemzug und sagte dann: »Mensch, wenn wie to Hus kamt?! So wat?!« In der Ferne, im Norden, hörte man noch immer Krachen von Geschützen. Es war immer ein großes Gelaufe und Arbeiten durch das ganze Schiff.

Harm Ott sah und hörte das alles halb im Traum. Als er aber etwas Reis zu sich genommen hatte, wurde er wieder munter und wollte sich gerade aufmachen, wieder nach der Brücke zu gehn, da kam der Zimmermann in Eile vorbei, eisernes Handwerkszeug in der Hand, erkannte ihn trotz seines großen Verbandes und rief: »Du?! ... Komm mit! Dein Bruder ist da! Hilf uns!«

Da sprang er hinter ihm her, die Treppen hinunter und kam in den Gang, der zu der Kammer führte, in der gewisse elektrische Maschinen stehen. Es war da alles eine einzige Verwüstung, alles zerrissen, verbogen, verengt, die Luft schrecklich heiß und brandig; vorn leuchtete ein kleines Licht; man hörte hinter den Wänden Wasser schwappen. Ein Offizier, dem die Achselstücke verbrannt herunterhingen, und ein Mann knieten seitwärts und starrten in das Dunkel. Der Offizier nahm dem Zimmermann das kurze Brecheisen ab, kroch ein wenig nach vorn und reichte es einem, der noch weiter nach vorne im Dunkel arbeitete.

Der Zimmermann sagte leise: »Da sind zwei Kameraden eingeschlossen. Die andern haben es aufgegeben, ihnen zu helfen, und ich glaube auch nicht, daß da noch was zu machen ist; es ist da alles brandig und glühend; aber der Offizier da und dein Bruder wollten es noch nicht aufgeben; sie meinen, sie wären vielleicht nicht in der Kammer, sondern im Gang und lägen da ohnmächtig Aber nun hat der Offizier auch schon den Glauben aufgegeben. Aber wir können mit deinem Bruder nichts aufstellen ... er ist rein verrückt ...«

Zwischen dem Klatschen des Wassers hörten sie das Wuchten und Stöhnen und das wilde Atmen Eggert Otts.

»Es kann da nur einer ankommen,« sagte der Zimmermann, »der Raum ist zu eng.«

Dann horchten sie wieder. Es war eine Qual, es zu hören.

»Es geht nicht,« sagte der Offizier kurz, »jetzt geben Sie es auf!«

Es dauerte wieder eine Weile.

Harm Ott konnte es nicht länger ertragen, er rief: »Gib es auf, Eggert!«

Es dauerte noch eine Weile; da sagte der Offizier kurz und hart: »So, nun ist es genug!« Und er und der Zimmermann, der sich herandrängte, rissen Eggert Ott zurück, daß er hintenüberfiel. Er erhob sich aber gleich wieder, und stieß, als sie ihn hielten, mit dem Kopf gegen die Wand.

»Das ist ja ein Wüterich,« sagte der Offizier, und riß ihn weiter weg den Gang entlang. Die Lumpen, die er um Hand und Arm gewickelt hatte, waren brandig und blutüberlaufen; und die er um Hals und Gesicht hatte, schwelten; sie hielten ihn und rissen sie ihm ab. Er war halb ohnmächtig, stöhnte und ächzte. Da schleppten sie ihn zurück bis dahin, wo der Gang breiter wurde und die Luft frischer war.

Da erholte er sich allmählich und erhob sich und ging, nach seiner Gewohnheit immer die Schulter hebend, den Gang entlang, bis er an die Treppe kam. Dort half sein Bruder ihm, und brachte ihn die Treppe hinauf, daß er frische Luft schöpfte. Er setzte sich an Deck und kam wieder zu sich. Es standen, lagen und saßen da mehrere Verwundete und Übermüdete, denen das Lazarett zu heiß war. Es war noch Nacht; aber es war nicht mehr so dunkel. Die Morgendämmerung meldete sich an.

Als sie da noch so saßen und standen ... es war an Steuerbord des Mitteldeckes ... sammelten sich einige Haufen, und bald trat ein Offizier heran, Funkentelegramme in der Hand, und berichtete ihnen mit lauter Stimme, was man bisher in Erfahrung gebracht: daß die gewaltige englische Flotte, doppelt so stark als die unsrige, in den Kampf eingegriffen, daß sie versucht hätte, unsere Flotte einzukreisen, daß aber die deutsche Flotte den Kreis durchgestoßen hätte. Daß die Verluste der Engländer, soweit man bisher übersehen könnte, doppelt so groß wären als die unsrigen. Und er nannte die Namen der großen englischen Schiffe, die sicher untergegangen waren. Sie hörten ihn still und mit wägenden Augen an.

Gleich darauf kam ein anderer Offizier und rief zur Musterung in Divisionen, und alle Mann sammelten sich auf dem Achtermitteldeck, und es wurden die Namen aufgerufen. Als es alles feststand, trat der Kommandant vor und redete in seiner lebhaften süddeutschen Art, stolz und rasch und freundlich: »Kameraden! Ihr habt euch tüchtig gezeigt, die Lebenden und die Toten ... so wie das Vaterland es erwartet hat! Ihr habt dem Feind, der dem deutschen Volk Leben und Ehre nicht gönnen wollte, deutsche Kraft und deutschen Mut gezeigt, und nicht das allein, sondern ihr habt nach allem, was ich bisher durch Funksprüche erfahren habe, den Sieg über ihn davongetragen! Bedenkt, Kameraden: sie waren ausgefahren, uns zu vernichten! Es war ihnen gewiß, ja, es war ihnen selbstverständlich, daß wir in dieser Nacht auf dem Grunde des Meeres lägen! Das war ihr Glaube, und war der Glaube der ganzen Welt! Und nun? Wir haben ihnen widerstanden, ja, wir haben sie geschlagen! Die zweihundert Jahre lang die Herren auf allen Meeren der Erde waren ... sie sind zum erstenmal gewichen, und haben den Rücken gezeigt! Kameraden ... es ist ein Wunder vor unseren Augen und vor der ganzen Menschheit ... es ist ein großer Tag auf der Erde! Es mag nun weiter kommen, wie Gott beschlossen: Dies, was geschehen ist ... was ihr vollbracht habt mit eurer Treue und eurem tapferen Mut: das wird zum Segen werden für unser deutsches Volk und zum Segen für die ganze Menschheit! Ihr wißt aber alle, wie unser Kaiser für die Flotte gearbeitet hat, immer wach, immer mutig, immer meerfroh ... darum wollen wir ihn grüßen in dieser Morgenstunde den Gründer deutscher Seegewalt: Es lebe der Kaiser!«

Sie fielen alle mit großer Macht in den Ruf ein.

Und sie stimmten auch alle mit großer Kraft ein, als der lange Stückmeister vortrat und ein Hoch auf den Kommandanten ausbrachte.

Dann traten sie alle auseinander und standen noch eine Weile hier und da in Haufen und unterhielten sich, langsam und bedächtig. Aber die Unterhaltung wollte nicht vorwärtsgehen. Und es war da ein kleiner Mensch unter ihnen, ganz klein, aber von großer, stämmiger Breite; der hatte ein Kindergesicht, und war auch von Natur wie ein Kind. Den fragte einer, um sich selbst und andere zu ermuntern: »Nun, Peter, was sagst denn du?« Er sah sie alle mit seinen harmlosen Augen an und sagte dann: »Ich hätte es mir nicht so gedacht! Das war ja beinah lebensgefährlich!« Da wollten einige auflachen, sowohl über die Worte, wie über die Verwunderung, die aus den Worten klang; aber das Lachen blieb ihnen im Halse stecken.

Harm Ott stand neben seinem sitzenden Bruder ... genau wie vor einem Jahr, da er an Deck des fremden Dampfers neben dem Sitzenden stand ... er dachte in diesem Augenblick an jene Stunde ... und kämpfte mit dem Entschluß, ihm zu sagen, daß Bruder Reimer tot wäre und keine dreißig Schritt von ihnen auf dem Deck läge. Aber es mußte ja nun gesagt werden. Er berichtete dem Bruder, wie er mit dem Stab von Bord gegangen und wie er auf dem Torpedoboot Bruder Reimer schwer verwundet gefunden hätte und wie er wohl schon auf dem Torpedoboot gestorben wäre, und da nun bei den andern läge.

Bruder Eggert sagte nichts; er starrte mit scharfen, übernächtigen Augen über das Wasser und fragte leise: »Wo liegen sie?«

Da gingen sie zusammen um den Turm, und sahen sie da liegen. »Der letzte in der zweiten Reihe ... da!« sagte Harm, und trat heran und zog die Flagge ein wenig zurück.

Ja, da lag Bruder Reimer ... der Prahler ... der Neugierige ... der junge Heilige ... der kleine Prophet ... ach, vielleicht ein großer! ... einer von den hunderttausend edlen, jungen Schatzsuchern und Wundersehern, Heil und Zukunft des Vaterlandes, vielleicht der ganzen Welt ... nun zerbrochen ... zerstoßen ... tot ... nur noch ein Gedächtnis seiner Eltern und Geschwister, und eines kleinen Mädchens, und ein Kranz in einer Eiche. Ach Gott im Himmel, welche Not! Er lag da mit todernstem Gesicht, als wenn er Rechenschaft gäbe, und frei und kühn alles ... alles verantwortete, was er an Plänen in der reinen, heißen Seele getragen. Dann deckten sie die Flagge wieder über ihn.

Der Wind war stärker geworden und das Meer war ziemlich unruhig. Jede Welle schlug schwer in die zerstörte Kasematte und rauschte stürmend wieder hinaus. Das Schiff hing so schief, daß die Wellen über Deck leckten und die Füße der Toten netzten. Die Nacht war hell; es ging leise gegen Morgen. Tief im Osten, nach der Heimat zu, erschien leise der erste Strich des Morgenlichts. Sie saßen nebeneinander auf dem Ladebaum im Angesicht der Toten. Harm sah still und traurig über das Meer nach Osten und dachte an den Jammer der Eltern; Bruder Eggert neben ihm hatte die Hände vor den Augen und schluchzte bitterlich. Von unten, aus dem Lazarettraum, kamen die verwehten Töne von dem alten Lied:

Ich hab' ... mich ergeben ... mit Herz und mit Hand ... Dir Land ... voll Lieb' und Leben ... du teures Heimatland ... Dir Land ... voll Lieb' und Leben ... du teures Heimatland ...

Als der Morgen völlig graute, erschien ein Pumpendampfer und kam längsseit. Das Lazarettschiff, das erschienen war, konnte wegen der bewegten See noch nicht anlegen. An Backbord liefen zwei kleine Kreuzer als Schutz für das wunde Schiff. Im Süden ragte, noch fern, Helgoland aus dem Meer.

Als Harm Ott nach einer Stunde, von seiner Verwundung und allem, was er erlebt, verstört und zerschlagen auf die Brücke kam, um einen Auftrag an den Kommandanten zu bestellen, und, an den Offizieren vorbei, die mit übernächtigen Augen dastanden, die Hände auf der Reling, in die Tür des Turmes sah, trat der Wachtoffizier grade an den Rudergänger heran und sagte: »Sie stehen hier jetzt dreißig Stunden ... geben Sie dem Unteroffizier das Ruder!«

Aber der Rudergänger, ein breiter, dunkler Mann von etwa dreißig Jahren, schüttelte den Kopf und sagte schlicht und starr: »Ich bring' das Schiff in den Hafen.«

Da besann sich Harm Ott auf seine Seele, auf das beste in seiner Natur. Er sah plötzlich das Fähnlein vor sich, auf der Stange seines Rades.

Er biß die Zähne zusammen und wandte sich um, wo der Kommandant wäre. Und als er ihn seitwärts vor der Tür stehen sah, richtete er sich stramm auf, und machte seine Meldung.


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