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6. Kapitel

Das Fähnlein

Acht Tage später fuhr Harm Ott nach Kiel und wurde bei der ersten Matrosendivision eingekleidet und machte acht Wochen lang seine infanteristische Ausbildung durch. Als diese beendet war, fragte ihn der Kapitänleutnant, dem ja wohl seine helle friesische Erscheinung und das ruhige, überlegte Wesen gefiel, er möge sagen, wozu er am meisten Lust hätte, und stellte ihm Funkentelegraphie oder Signalwesen oder Geschütz zur Auswahl. Er hatte sich die verschiedenen Tätigkeiten, auch die Räume, in denen sie ausgeführt wurden, angesehen, und entschloß sich fürs Geschütz, weil da eine tüchtige Technik dabei war, und man doch wenigstens einen kleinen Blick ins Freie hatte, ja auf einem kleinen Kreuzer sogar ganz in freier Luft stand.

Er kam auf den kleinen Kreuzer ›Frauendank‹ und wurde erst dritter Mann am Geschütz. Es ging ihm zuerst gar nicht gut. Eltern und Lehrer und besonders der Onkel und Lehrmeister, der voller Schelmerei saß, waren allzu wichtig und gütig mit ihm gewesen und hatten ihn gern reden und handeln lassen, da sie seine Verständigkeit und Ruhe erkannten; und so war er etwas zu üppig ins Kraut geschossen und mit Worten und Ansicht zu rasch bei der Hand. Und es zeigte sich, daß die Lehre, die der Knecht nach seiner Meinung seiner Familie gegeben hatte, zuerst für ihn selbst zur Anwendung kam.

Er erkannte das Wesen des kurzen, strammen Stückmeisters wohl; aber erkannte es nicht völlig. Der Stückmeister hielt sie alle, so wie sie da waren, gute und böse, geschickte und ungeschickte, wohl oder schlecht vorbereitete, nicht allein in der Geschützbedienung, sondern überhaupt in ihrem ganzen Menschentum für Anfänger; er behandelte und unterrichtete sie als wenn sie lauter erste Menschen, lauter Adams wären, die er in diese Zeit und ihre Begriffe und Geschäfte, Künste und Ansichten einführen müßte. Es wäre noch angegangen, wenn er sie für Adams vor dem Fall genommen und behandelt hätte, aber er war von Natur mißtrauisch und vermutete leicht bösen Willen. Kurz, er baute sie nicht aus Vorhandenem, er baute sie aus dem Nichts heraus auf, und Harm Ott hatte, gerade weil er der verständigste und überlegenste war, seine Not mit ihm.

Dazu kam in der dritten Woche ein besonders unglückliches Ereignis. Sie fuhren nach einer Übung auf der Reede von Helgoland mit Kurs nach Wilhelmshafen und kreuzten beim dritten Feuerschiff die Elbe; und Harm Ott stand so um zwei Uhr nachmittags in seinen großen, schweren Seestiefeln – denn es war Wind und Regenwetter – an der Reling, da kam ein Frachtdampfer von etwa fünftausend Tons die Elbe herauf und fuhr nicht mehr als zweihundert Meter an ihnen vorbei. Als der Dampfer in gerader Linie neben der >Frauendank< war, sah er, daß es einer von der Levantelinie war, entsann sich des Wortes seines Bruders, daß Eggert Freude an einem Levantebuch gehabt hätte, sah im selben Augenblick eine Figur am Heck stehen, die am Ende sein Bruder sein konnte, verlor in aufwallender, heißer Liebe und Sorge alle Überlegung, und vergaß das Verbot, um diese Stunde über die Schanze zu gehn, weil der Kapitän in seiner Kajüte seine Mittagruhe hielt, trampelte mit seinen großen Stiefeln über Deck und sah, daß er sich geirrt hatte, und entsetzte sich zugleich, daß er jenes Verbot übertreten hatte. Als er sich wieder umdrehte, erschien auch schon der kurze und grobe Stückmeister und schrie ihn an; und er mußte zum Kapitän hinunter. Er dachte, der würde ihm den Kopf abreißen, denn er war ein etwas eiliger und jäher Mann. Und er fauchte auch wie ein Tiger. Als er aber dann den großen Satz sagte: »Und das tut so einer ... so einer ... der aussieht wie'n Mensch! ...« und der hellblonde Sünder sagte: »Zu Befehl ... so kam es!« stockte der Wüterich und wurde ruhiger, und fragte, was denn los gewesen wäre. Da berichtete er kurz von seinem Bruder. Da wurde der Kapitän ganz ruhig, rief den Stückmeister und sagte: »Es ist in Ordnung,« und warf von da zuweilen Augen auf ihn, die nicht unfreundlich waren. Aber der Stückmeister behauptete, es wäre von der Wut, die der Kapitän zuerst auf ihn, Harm Ott, geworfen und dann wieder von ihm abgeworfen hätte, ein Stück auf ihn, den Stückmeister, gefallen . .. das wäre immer so... das wäre das Schicksal derer, die zwischen den Menschen in der Mitte ständen und dafür zu sorgen hätten, daß die ganze Kiste richtig gepackt würde. Und er blieb Harm Ott gram und machte ihm das Leben sauer.

Er wurde trotzdem gegen Ende des ersten Jahres Obermatrose und machte im Frühjahr die Reise nach den Azoren mit, worauf sich die ganze Mannschaft schon das ganze Jahr hindurch unsagbar gefreut hatte. Er freute sich an allem, was er sah: an der langen Reihe der machtvollen englischen Kriegsschiffe, an denen sie vor Queenstown vorbeifuhren, an den fremdartigen Fischerfahrzeugen an der spanischen Küste mit ihren Männern und Segeln – wie leicht sie waren und in den Wellen tanzten! – und an dem blendenden Glanz des Lichts, das vom Himmel herabbrach und die weite tiefblaue See mit smaragdenem Schein überwarf, und an den schmalen Straßen in Funchal, deren Luft in Sonnenglut bebte. In Funchal lagen sie drei Tage auf der Reede und sie waren zweimal in der Stadt, kletterten in Haufen und Häuflein in die Weinberge hinauf, rutschten auf den Ochsenschlitten wieder herunter, strichen durch die engen, holprigen, schmutzigen Straßen, standen vor den Läden mit ihrem Schund und Tand, und saßen zuletzt, sechs oder sieben, alle so zweiundzwanzig Jahr alt und Obermatrosen, und darin gleich, daß sie alle ernste Leute waren und auf sich hielten, unter einem gelben Sonnensegel an den kleinen Marmortischen und nippten am süßen spanischen Wein und blinzelten in die goldene Glut, die in die Straße hinunterprallte. Sie hatten sich so gesetzt, daß sie fern auf der Reede ihr Schiff sehen konnten, das ihnen, seit sie auf fremdem Meere trieben, noch viel mehr als daheim, Heimat, Stolz und Liebe war. Zerlumpte Männer gingen vorüber, barfuß, bunte Tücher um Kals und Leib, das pechschwarze krause Haar tief in die Stirn hinab, die Zigarette lässig im Mund, Frauen mit stumpfen schwarzen Augen in bunten Kopftüchern, in wiegendem Rock, Esel mit Menschen und Früchten beladen; eine feingekleidete Frau mit schwarzem Spitzentuch um den Kopf schritt rasch vorüber. Das Pflaster war schmutzig, übersät vom Mist der Tiere, von Apfelsinenschalen und Zigarettenenden; ein toter Hund lag im Rinnstein.

Sie saßen da ziemlich lange und sahen auf das bunte, fremde Bild und kamen in ihren Gedanken von selbst auf die Heimat und ihre Menschen, wie sie so anders wäre, und sahen sie im Geist, und kamen zuletzt jeder auf sein eigenes Leben: wie es denn nun gekommen wäre, daß sie hier nun säßen, in ihrem sauberen Zeug, Matrosen, Obermatrosen, welch einen Weg sie gegangen wären. Und sie überdachten es und suchten die einzelnen Stationen zu erkennen, so wie man auf einen Bergweg zurücksieht, der halb schon im Nebel versank. Sie waren alle strebig und ein wenig stolz darauf. Langsam, ruckweise, ihnen selbst unbewußt, vom Tage das Seine nehmend, waren sie zu klarerer Erkenntnis, zu helleren Augen, zu strafferem Willen, zu rascherem Schwung, zu schönerem Ernst, zu edlerer Würde gelangt. Über dies alles dachten sie nach; und es dauerte nicht lange, so redeten sie hierüber. Sie sprachen darüber: ob und durch welche Begebenheiten, vielleicht gar durch welche einzelnen, ganz bestimmten, ein Mensch ein Licht bekäme, einen Anstoß zu munterem Vorwärtsgehn. Und einer, ein dunkelblonder Württemberger von breiter Figur und schwerem Gesicht, sagte: »Was mich angeht, so glaube ich, daß ein ganz besonderes Erlebnis, nämlich eine Unterhaltung, die ich einmal hatte, mir eine große Hilfe gewesen ist.« Da sagten sie: »Erzähle!'

»Ja,« sagte der Schwabe. .. »ihr wißt, daß noch vor vierzig Jahren viele nach Amerika auswanderten, weil es hier im Lande noch alles bedrückt und eng war. Man arbeitete hier noch nicht hell und frisch drauflos, und man lachte auch noch nicht aus freiem Herzen. Nun, da wanderte auch der Sohn unsers Nachbarn aus, siebzehn Jahre alt, ganz arm, Kind eines Tagelöhners. Durch vierzig Jahre hörte man wenig oder gar nichts von ihm und man hatte ihn fast ganz vergessen; nur seine Schulkameraden und Jugendgenossen, die Tagelöhner des Dorfes, sprachen noch zuweilen von ihm, weil sie ihn gerne gemocht; denn er war ein munterer und freundlicher Junge gewesen. Als ich nun vor einigen Jahren – ich hatte meine Lehrzeit hinter mir und war achtzehn, und war mächtig gierig auf ein freies Leben und die ganze Welt – auf einige Wochen nach Haufe kam, war er, zum erstenmal nach vierzig Jahren, wieder nach Deutschland gekommen und war in seinem Heimatsdorf. Es war Sommer und am Tag des Kinderfestes und er nahm daran teil; und auch alle seine Schulkameraden waren zugegen; denn dies Fest ist in unserm Dorf ein großer Tag für alle, weil die Kinder ja uns allen gehören. Und da waren denn nun am Nachmittag, als die Kinder ihren Umzug durchs Dorf beendet hatten, alle, die von seinen Jugendgenossen noch lebten, um ihn versammelt und er stand unter ihnen und plauderte mit ihnen, ganz in alter Weise, von vergangenen Zeiten. Und seht... da war nun der Unterschied! Die älteren Schulkameraden und Jugendfreunde, die in der Heimat und im Dorf geblieben, die waren geblieben, was sie damals gewesen, und standen da: verknorrt, gebeugt, unsicher, arm, so recht wie schiefe, alte Weidenbäume am dürren Ufer; er aber war, obwohl man auch ihm ansah, daß er hart angefaßt und sich wacker umgesehn hatte, ein Mann geblieben, wie die Natur in ihm es gewollt hatte: stattlich und grade, mit behenden Augen, mit ruhigen, schönen Bewegungen und sicheren frischen Worten; und er sprach zu ihnen von Welt und Menschen, davon sie nichts gesehen, davon sie sich nicht einmal ein Bild machen konnten. Und wenn er auch wohl von Geburt tüchtiger war, als die meisten, die da um ihn standen: er war doch allzu hoch über sie aufwärts gestiegen. Seht: dieser Unterschied fiel mir jungem Schelmen auf und machte mir schwere Gedanken, so daß ich den ganzen Tag stumm umherging. Und als er am Abend darauf bei meinen Eltern zum Besuch war und vor der Tür auf der Bank saß, sagte ich zu ihm: »Hört mal, Nachbar ... ich möchte Euch zweierlei fragen.« Er warf den Kopf zu mir und sagte in seiner lebhaften Art – ich glaube, er war in seinem Staat da drüben so was wie Abgeordneter und war gewohnt, sich die Dinge im Kopf zu ordnen –: »Überlege es dir gut und komm in der richtigen Reihenfolge.« »Ja,« sagte ich, »die Reihenfolge ist schon da: erst, mal wollte ich dies sagen: Ihr gingt als Siebzehnjähriger weg ... in meinem Alter ... ich denke, weil Ihr gehört hattet, daß man dort weiter käme. Glaubt Ihr nun, daß Ihr, indem Ihr auf diesen Gedanken kamt und ihn auch ausführtet, eure Jugendgenossen, die da gestern mit Euch auf dem Platz standen, an Geist und Willen überragtet ... oder hat das Land da drüben Euch so weit gebracht?«

»Erst dachte er ein wenig nach, dann sagte er: »Beides! Ich war wacher und rascher als die andern. Und dann: das Leben bot dort mehr Möglichkeiten... Aber nun ist ja auch in Deutschland Leben und Wandel genug, und wer kann und will, wird auch hier was erreichen. Nun das Zweite.«

»Ja,« sagte ich ... »dann wollte ich noch wissen: Könnt Ihr sagen, wann und wie es anfing, daß Ihr in wirtschaftlichen Dingen vor vielen anderen vorwärts kamt?«

»O ja,« sagte er, »das kann ich auf Tag und Stunde, und ich will es dir erzählen! Als ich drüben drei Jahre bei einem englischen Farmer, nicht weit von einer kleinen Stadt in Wiskonsin, gedient und Sprache, Land und Leute kennen gelernt hatte, zog ich in eine andere, etwas entferntere Stadt dieses Staates. Ich zog dahin, weil ich gehört hatte und auch selbst erkannte, daß sie, jetzt noch klein, wachsen würde. Ich war da erst ein halbes Jahr lang Arbeiter... so hier und da ... um zu sehen, wo sich eine Gelegenheit böte. Als ich dann erkannt hatte, wie alles lag und stand, machte ich mit dem verdienten und ersparten Geld an der Straße, die nach der besten Farmergegend führte, einen kleinen Laden auf und verhökerte und verschickte Waren an sie. Da ich nun sowohl wach wie ehrlich war, ging das Geschäft ganz gut; und mancher – nun höre zu – wäre zufrieden gewesen und hätte Dollar auf Dollar gelegt, ganz langsam, immer beide Augen auf den herrlichen Tag gerichtet, wo er als ein kleiner Rentner würde leben können, weil er schon jetzt nicht recht mehr arbeiten, denken und wachen mochte, kurz, weil er schon jetzt nicht mehr leben mochte. Denn ist das Leben: im selben Beharren immer auf dieselbe Stelle treten?! Ich war eines Tagelöhners Kind aus diesem stillen Dorf; ich kam aus großer Tiefe und Stille. Ich hatte von meiner armen, engen Jugend her noch schwere Erde an den Füßen und hatte etwas Unsicheres und Schwerfälliges an mir, oder vielmehr in mir ... genug, ich trat auch, wie jene Langweiligen, eine Zeitlang, ein Jahr lang, auf dieselbe Stelle. Aber dann ging es vorwärts. Und den Tag und die Stunde kann ich nennen. Als ich nämlich eines Vormittags dabei war, für meine Kunden, die Farmer, Kisten und Körbe zu Packen, und die zweite und dritte ... dann die siebente und achte stopfte, packte und nagelte, kam mir plötzlich der Gedanke . .. wundere dich nicht, daß es so einfach ist und bedenke: so einfach es ist, es enthält, glaube ich, alles Vorwärtskommens Grund und Ursache sowohl der einzelnen Menschen wie der ganzen Völker ... ich dachte: das, was du hier tust, wahrhaftig ... das könnte ein anderer tun: ein Jüngerer, oder ein Schwächerer, oder ein Unbegabterer, oder ein Schläfrigerer! Er könnte es ebenso gut wie du und könnte sich dabei wohlbefinden. Du aber solltest Schwereres, Neueres, Vornehmeres tun! So dachte ich und richtete mich auf, und trat vor die Tür, und pfiff einem früheren Arbeitskameraden, der da über den Platz ging. Sieh, von der Stunde an bin ich mit Bewußtsein vorwärts gekommen.« Sie nickten alle und sagten: »Ja ... ja ... das ist es!«

Da beugte sich Harm Ott vor und sagte, ein wenig verlegen: »Ja... da bei dir war es also ein Mensch! ... Wenn ich es erzählen darf... so weiß ich etwas anderes zu berichten.«

»Erzähl'!« sagten sie.

»Ja,« sagte Harm Ott ... »ich ... ich war so um sechzehn, siebzehn und in der Lehre, und wurde von meinen Eltern und dem Lehrherrn ein bißchen zu weich behandelt ... da geriet ich in eine Gesellschaft von jungen Menschen, die mir wohl fürs ganze Leben hätte verderblich werden können. Wir hatten allesamt Räder und machten damit gemeinsame Fahrten, und benutzten sie besonders sonntäglich, und zwar zu dem Zweck, uns recht weit von unserem Heimatsbezirk zu entfernen. Dort, einige Meilen in der Fremde und in einiger Sicherheit vor Bekannten, trieben wir uns dann halbe Tage umher, prahlten in den Wirtschaften, redeten ältere Leute mit altklugen, protzigen Worten oder wohl gar mit Neckereien an, belästigten und kränkten junge Mädchen, die des Wegs kamen, beraubten Obstbäume ihrer Früchte, und entgingen völlig unverdienter Weise der Tracht Prügel, die wir auf jeder dieser Fahrten von seiten der Einwohner, besonders der jungen Burschen des Ortes, reichlich und unverkürzt verdient hätten. Dies Treiben dauerte so einen ganzen Sommer hindurch und bis in den Herbst hinein; und ich weiß, was mich angeht, weiter nichts Verständiges oder gar Erfreuliches darüber zu sagen als nur das eine, daß ich doch wenigstens soweit anständig blieb, daß ich mein Rad, das mein Onkel und Lehrherr mir geschenkt hatte, in einem netten und saubern Zustand erhielt.

»Eines Sonntags nun, als wir wieder zu unserm törichten und liederlichen Treiben auszogen, hatte ich, eitel und spielig wie ich war, um mein Rad zu zieren, auf der Lenkstange ein hübsches Fähnlein in den Landesfarben angebracht, so groß wie eine Kinderhand. Während nun unsere kleine Gesellschaft unter allerhand losen, leeren, und prahligen Unterhaltungen dahinfuhr, sah ich wieder und wieder nach meinem Fähnlein, und zuerst zwar mit keinem andern Gefühl als dem eines kindischen Stolzes über die kleine lustigflatternde Zier, die nur ich allein auf meinem Rade trug. Aber bald, da ich immer wieder dahin sah, war mir so, als wenn das kleine Ding in einer zwar stummen, aber sehr eifrigen Weise redete: »Wie ich lustig flattre! Wie steil ich stehe! Ich bin nur klein ... aber was für ein tüchtiges Wesen ich bin! Immer grade! Immer tätig! Ich feire nicht einen Augenblick! Ich kämpfe immer mit äußerster Frische mit dem Wind! Ich werde nicht müde, ich falle nicht um!« usw. Ich nahm zwar immer noch an der Unterhaltung meiner Spießgesellen teil, aber ich hörte nicht recht mehr hin, und allmählich wurde ich still und hörte immer mehr die Rede, die der kleine bunte, steile Zwerg mit seinem flatternden Ärmchen immerfort hielt. Und am Ende kam ich gar soweit, daß ich es dem kleinen Ding nachmachte, und steil und grade auf dem Rade saß und ein ernstes Gesicht machte. Und allmählich, da wir auf der graden, einsamen Straße weiter fuhren, glich ich so wenig dem, der sonst mit seinen Gesellen übers Land fuhr, daß sie sich wunderten und mich fragten, was es denn mit mir wäre. Ich aber war versunken in Betrachtungen wie die: ob mein bisheriges Leben nicht eine einzige törichte und zwecklose Bummelei und Spielerei gewesen wäre, ob nicht andere meines Alters... der, und der, und der ... mir an Ernst, an guten Erfolgen, an Hoffnungen für die Zukunft weit voraus wären, ob es nicht an der Zeit wäre, mich völlig und kräftig zu ändern. Genug, es genügte dieser eine Tag und dies kleine Ding von einem Flatterfähnlein, mich auf einen andern Weg zu locken. Ich fuhr zwar mit meinen Genossen bis zum Ziel, das wir uns für den Tag vorgenommen hatten; dort aber wußte ich mich von ihnen zu trennen und fuhr allein und früh wieder nach Haus; und ich weiß noch, daß ich auf diesem Heimweg mehr als einmal streichelnd und schmeichelnd mit meiner Hand über das Fähnlein fuhr und ihm sofort half, wenn es nicht auswehte, so als machte ich ihm eine Freude damit. Von dieser Zeit an bin ich dann ernster geworden und habe mir Ziele gesetzt und bin darin nicht mutlos geworden. Ich dachte immer an das steile, grade, unermüdliche Fähnlein. Wenn ich einmal Unglück hatte oder es mir nicht nach Wunsch ging oder Sorgen mich bedrückten, die nicht wegzuschaffen waren, so behielt ich doch guten Mut; ich dachte so in meinem Sinn: ›Wenn nur das Fähnlein flattert!‹ Und so wurde dies kleine Ding und dies kleine Erlebnis die Ursache, daß ein ganzes Menschenleben auf einen anderen Weg kam.« So erzählte er, stolz, doch ein wenig Verlegenheit im Gesicht, und schwieg.

Die andern nickten und sagten: »Ja, ja ... so ist es! Wenn man darüber nachdenkt, ist da meistens irgendein Erlebnis, sei es ein Mensch oder ein Buch, eine Reise oder eine geringere Begebenheit, oder so etwas ... die geben einem den Ruck.« Dann sprangen sie, da sie sich nach junger Menschen Weise ihres Ernstes und würdigen Nachdenkens plötzlich ein wenig schämten, von dieser Sache ab, und machten sich wieder auf die Erscheinungen der Straße aufmerksam, und waren nun wieder große, neugierige Knaben.

In stillen Stunden aber auf dieser ganzen Reise, nachmittags an Deck und abends in der Hängematte und wo sie sonst ein wenig Zeit hatten, stillen Gedanken nachzuhängen, erwogen sie die gehörten Geschichten. Für Harm Ott aber wurde jene Stunde unter dem schmutzig gelben Sonnensegel in der engen Straße von Funchal von besonderer Bedeutung. Was er dort als sein Erlebnis von sich selbst erzählt hatte, war wohl in der Hauptsache die lautere Wahrheit gewesen; aber es war ihm bisher in seiner Bedeutsamkeit nicht bewußt gewesen. Erst diese Darstellung des Erlebnisses, die jene Stunde gebracht hatte, stellte es ihm in seinem Wert deutlich und klar vor Augen. Erst von jetzt an gedachte er öfter, und immer mit einem Lächeln, das rasch über sein Gesicht flog und wieder verschwand, des guten tapfern Fähnleins, dieses kleinen, steilen Gernegroß von einem Helfer, der ihm damals in den Tagen seiner Jugend erstanden war. Wollte Müdigkeit oder gleichgültige Lässigkeit Besitz von ihm nehmen, oder wollte das Wirrnis im Elternhaus seine Seele allzu hart überfallen und sie niederdrücken, so sah er im Geist das Fähnlein an seinem Rad, lächelte und ermunterte sich, und sagte leise vor sich hin: »Wenn nur das Fähnlein flattert!«

Und er wurde sicherer in seinem eigenen Wesen, und seine Augen wurden klarer; und es erschien ruhige, starke Männlichkeit in ihrer Tiefe.

Sie hatten eine windige, fast stürmische, doch helle Heimfahrt um England herum, und erreichten am zehnten Tag die Reede von Schillingshörn.


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