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8.Kapitel

Der Besuch

Am andern Vormittag stand er überall in Haus und Feld umher und besah sich alles und redete mit allen, und wußte mit den langen Stunden nichts Rechtes anzufangen.

Am Nachmittag aber machte er sich nach Tisch zu Rad auf den Weg, die Thomsens, die Familie seines Verwandten und Lehrherrn, zu besuchen und sich dort in seinem Glanz zu zeigen; besonders aber die Tochter Lisbeth wieder zu sehen, mit der er eine leidige und mühsame Herzenssache hatte.

Als er sich dem Hause näherte und es daliegen sah, kurz vor der Stadt an der breiten Straße, noch neu, hoch, mit breiten, hellen Fenstern, an der einen Seite einen weiten Gemüsegarten, an der andern einen großen Zimmerplatz, der bis zur Au hinunterging, und an die munteren, lebensfrohen Menschen dachte, die dies große, helle Gewese bewohnten, fiel ihm der Unterschied zwischen seinem elterlichen Hause und diesem sehr auf, und er dachte bei sich selbst, daß er alles und alles tun müsse, daß auch seine Leute wieder munter würden. ›Denn was ist das kurze Menschenleben,‹ dachte er, ›wenn es immer in Nebel geht!‹

Er ging ins Haus hinein und hörte von dem Mädchen, daß die Eltern über Land, die Kleinen in der Schule, die Großen aber auf dem Zimmerplatz wären, ging hindurch und suchte sie. Die beiden Jungen, seine früheren Arbeitsgenossen, freuten sich herzlich, als sie ihn sahen, richteten sich auf, warfen die Deessels über die Schulter und fragten nach allem. Auch Lisbeth, die bei ihnen stand und schwatzte – eigentlich sollte sie in der Küche stehn und Kuchen anrühren – vergaß ganz und gar, daß er ihr neulich in einem kurz gefaßten zornigen Brief verboten hatte, ihm weiterhin so dumme Ansichtskarten an Bord zu schreiben, und freute sich, daß sie ihn wiedersah. Sie stellte sich wie von ungefähr so – er merkte es aber doch – daß er ihr gegenüberstand, und sah ihn mit ruhigen, forschenden Augen an. Sie war etwas älter als Emma, so um achtzehn, und in allen Dingen ihr Gegenteil: ganz hell von Haar und Haut, von langen, großen Gliedern, und von der unbekümmerten Lebenslust ihres Vaters.

Als die beiden Jungen nach der Schleuse gerufen wurden, um da Holz abzuladen, und er mit Lisbeth über den ganzen Platz bis an die Au hinab langsam hinunterging, unter dem Vorwand, zu sehen, was sie auf Lager hätten und was sich etwa verändert hätte, und sie zwischen hohe Stapel Verschalholz kamen, setzte er sich auf einen niedrigen Stapel, so als wenn er sich hier etwas umsehen wollte, und sagte gleichmütig: »Setz' dich und erzähl' mir was!« und dachte, hier an dieser Stelle, wo niemand sie sehen könnte, freundlich mit ihr zu sein, kein Wort von den dummen Karten zu sagen und sie so vielleicht zu einem hübschen kleinen Entgegenkommen zu verführen. Denn wenn er sich über ihr mutwilliges und widerhaariges Wesen, wie zuletzt über jene Karten, auch noch so oft geärgert hatte, er hatte sie doch immer und über alle Maßen lieb. Wenn er an sie dachte und nun gar, wenn er sie sah, kam er immer wieder in einen Rausch von seligem Glück, und vergaß dann, wie sie war und daß er sich so oft an ihr ärgerte. Sie stand dann in einem schönen Schein und Glanz vor ihm, und er dachte nicht anders, als daß dieser große, mutwillige, helle Satan der reine Engel wäre.

Er setzte sich also auf den niedrigen Stapel Verschalholz, obgleich ihm das Holz für die schöne neue Hose eigentlich nicht rein genug war, und fragte sie, die vor ihm stehen blieb, nach ihrem Verkehr und was sie den Tag über triebe – obgleich er es ganz genau wußte – und spürte nach einer Gelegenheit, wo er so vorsichtig und langsam ihr Herz beschleichen konnte. Und zuerst ging es auch ganz gut. Sie erzählte ihm dies und das von den Ihren, von ihrem Umgang, aus der Stadt; zwar etwas übermütig, aber er fühlte doch mit seligem Herzklopfen, wie sie sein guter Freund war und mehr als das; denn er merkte wohl, daß sein Anblick ihr gefiel; denn sie besah mit Wohlgefallen, mit raschen, ruhevollen Augen alles, was an ihm war: Augen und Mund, Mütze und Jacke, und die Stiefel an seinen Füßen. Und er war dicht dabei, bittend und sehr dringend zu sagen: Wie schön und lieb bist du!

Aber da – sie sah wohl an seinen Augen, daß es so mit ihm stand, und meinte wohl, sie hätte des Guten zuviel getan, oder hätte zuviel ihr Herz gezeigt, oder verlangte nach einem andern Lied oder was es war – sie fing plötzlich von den dummen Karten an und sagte: »Die letzte Karte, die ich dir gesandt habe, war trotz deines Urteils hübsch, mein Bester! Deinen zornigen Brief darüber hättest du dir wirklich sparen können! Aber denke nur ja nicht, daß ich diesen Brief etwa versteckt habe, o nein ... den habe ich der ganzen Familie gezeigt und habe ihn jetzt in meiner Kammer an den Spiegel gesteckt und freue mich noch täglich daran; denn ich habe ja genau das erreicht, was ich gewollt habe: dich mal gründlich geärgert ... Sag' mal, haben deine Kameraden dich zum besten gehabt? Das sollte mich freuen! Bilde dir doch bloß nicht ein, daß ich mir von dir einen Spaß verderben lasse! Du bist wohl großartig geworden?! Dazu hast du aber ganz und gar keine Ursache. Nein! Am wenigsten mir gegenüber; denn großartiges Wesen ist mir von allem, was es gibt, das ärgerlichste. Du brauchst dir auch nicht einzubilden, daß dir die Uniform besonders gut steht! Manchem andern würde sie viel besser stehn, und wenn meine Brüder bei der Marine wären, so würden die sich besser darin machen. Vor allem die Mütze steht dir nicht gut, deine Stirn ist zu hoch dazu, oder die Mütze ist nicht gerade genug oder was es ist.« So redete sie und sah ihn lustig und herausfordernd an, und um so lustiger, je blasser er wurde.

Es war entsetzlich. Während ihm bei diesem Wiedersehen vor Lust und Freude das Herz klopfte, daß es ihn schmerzte, hielt sie ihm diese Rede! Er fühlte oder ahnte wohl, daß in all diesem Lachen und Angriff im Grunde irgendwie Liebe redete und lachte; aber er mochte und verstand diese Art Liebe nicht. Ihm war es bitterernst damit. Man lacht und spottet nicht, wenn man an einem schönen reinen Sonntagmorgen durch den Wald geht, und auch nicht, wenn man vor einem Altar steht. Er war sehr ärgerlich und unglücklich. Aber was tut ein kluger Mann?! – Wenn sie es so liebte und wenn man sie noch leidlich traktabel erhalten wollte ... er wollte es doch nicht mit ihr verderben ... so mußte er auf ihren Ton eingehn. Er behauptete lächelnd: »Die Mütze steht mir besonders gut; das haben mir noch unterwegs im Zug zwei schöne Mädchen gesagt!« und er nahm sie vom Kopf und strich das Band glatt, und gab sie ihr, und bat sie, sie mal aufzusetzen.

Sie setzte sich neben ihn und tat es, setzte sie aber verkehrt auf und ließ sich das Band vor der Nase baumeln und pustete dagegen; und war nun wieder anders, war geradeaus und freundlich, und erzählte, daß nachher eine Freundin kommen würde, um beim Kuchenanrühren zu helfen. Und er bliebe doch den ganzen Tag? So plauderte sie und saß völlig unbekümmert neben ihm.

Es war ja hübsch so, und es ließ sich eine Weile so ertragen. Aber am Ende ... ein junger Mensch will doch mehr, als zwischen Holzstapeln sitzen und mit seiner Liebsten nichts als plaudern. Er konnte es nicht länger ertragen und dachte, es wäre der Augenblick jetzt günstig, einen kleinen Angriff zu wagen. Als sie aber merkte, was er vorhatte, langte sie schnell nach dem höheren Bretterstapel über sich und sagte, sie würde ohne Besinnen den ganzen Haufen zum Umfallen bringen, wenn er sich noch einmal rührte, und ließ ihn bedenklich schwanken, so oft er nach ihr langen wollte. Sie wollte sich halbtot lachen vor lauter Albernheit.

Er war im Herzen sehr unwillig und wünschte ihr alles mögliche an den weißen Hals; tat aber leicht und großartig, und lachte auch selbst, so als wenn auch er nur gescherzt und gespielt hätte; und stand auf und ging mit ihr nach dem Hause; und sie war guter Dinge.

Als sie die große helle Wohnstube betraten, brachte sie ihm freundlich eine Zigarre, ja rauchte sie sogar selbst an und steckte sie ihm in den Mund –, so daß ihm wieder ganz wunderlich wurde und das Herz ihm bis zum Hals schlug und er noch einmal wieder auf eine kleine besondere Freundlichkeit und Ergötzung hoffte. Aber da kam die Freundin; und sie fingen sogleich an, auf dem großen Eßtisch Kuchen anzurühren. Er saß dabei und sah ihnen zu, wie sie ab und zu nach der Küche gingen und auf dem Tisch zwischen sich hantierten. Sie lachten und arbeiteten, schoben sich gegenseitig falsche Tüten zu, und erzählten und malten sich aus, wie beim Vertausch der Tüten dieser und jener Teig mißraten, und was für Unformen von Kuchen zustande kommen könnten. Er saß und plauderte mit, und war selig und unselig in ihrem Anblick, wie sie ihre große schöne Figur bewegte und ihr Lachen aus gesunder Brust kam, und lauter Glück und Übermut aus ihren blauen frischen Augen fuhr. Er warf seine heimlichen Wünsche, die er monatelang gehegt hatte, und seinen Ärger von vorhin von sich. Er dachte: ›Sie ist noch zu jung, um ernst zu sein; sie ist noch so zwischen Knabe und Mädchen und noch kein Weib. Wie wunderbar wird sie sein, wenn sie ein Weib sein wird!‹

Sie hatten den Teig fertig und probierten ihn und gaben auch ihm davon, und kamen darauf zu sprechen, daß es sicher gefährlich wäre, mehr von dem rohen Teig zu essen, da er ja aufginge; und singen an, einen solchen Fall auszumalen, sahen sich an und wurden ein wenig rot, und konnten doch von der Sache nicht lassen und wollten sich unter den Tisch lachen. Er, ein ziemliches Stück Teig in der Hand, so als wenn er es selbst nehmen wollte, sprang auf sie zu und versuchte, es ihr in den Mund zu stopfen. Er brachte es aber nicht fertig, da sie sich mit Händen und Füßen wehrte; aber er erreichte nun so, worum ihm zu tun war, nämlich, daß er das schöne, geliebte Frauenwesen in den Arm bekam. Und da sein Arm um ihre Schulter lag und er merkte, daß es ihr nicht unangenehm war, hatte er alles erreicht, was er sich in vielen stillen Stunden gewünscht hatte, und war selig.

Aber auch sie war sich bewußt, was geschehen war: daß sie ihm Liebe gezeigt hatte, und war in ihrem Mädchenstolz verletzt; und da man sich nicht gern selbst straft, meinte sie doch, sie müßte ihn strafen. Und sie fing an, im Verein mit ihrer Freundin mit verstellter, getragener Stimme einige Sätze herzusagen, deren Sinn und Bedeutung er nicht verstand und auch nicht verstehen sollte, die aber doch für ihn bestimmt waren; denn indem sie einander gegenüber saßen und Mandeln enthülsten und sich über die Worte, die sie sprachen, weglachten, warfen sie ihm Blicke zu, und lachten dann, offenbar über sein rätselndes Gesicht, noch mehr. So sagten sie mit hohlem, mattem Ton: »Hätte ich dich zur rechten Zeit erkannt und hätte dir geholfen!« ... Oder: »Denke immer daran, daß ich ganz fest an dich glaube, so fest, wie an Gottes Wort!« Oder: »Ich weiß, wie unschuldig du bist!« Oder: »Ach, könnte ich dir in deiner Not helfen! Der barmherzige Gott wird meine Bitte erhören und nicht zulassen, daß du dein Leben lang ruhlos durch die Welt wandern mußt!«

Bei diesem letzten Satz wurde ihm plötzlich klar, daß sie von seiner Schwester sprachen. Er wurde von schwerem Zorn befallen, daß sie so war, wie sie sich hier zeigte, stand jäh auf und sagte ernst und kalt: »Jetzt sagst du mir sofort, was es mit dieser Sache ist. Wie kommst du zu Briefen meiner Schwester? Heraus damit! Sonst sag' ich es deinen Eltern.«

Sie war blaß geworden und biß die Lippen und wollte sich beklagen, daß er es so ernst nähme. Aber er sagte: »Die Sache ist allerdings ernst; denn meine Schwester ist ebensoviel wert und vielleicht mehr, als ihr, die ihr ohne Ernst seid. Und sie ist durch jene Pfeiferei schwermütig geworden und leidet unter dem Glauben, daß der Knecht ein unglücklicher Mensch ist und daß sie ihm hätte helfen können und sollen.«

»Aber sie schreibt ihm, als wenn sie in ihn verliebt ist.«

»Was geht euch das an,« sagte er, »wenn es so ist? Und nun sag' mir sofort, wie du zu diesem Brief gekommen bist!«

Sie war ziemlich gedemütigt und bedrückt, daß er so hart war und wohl auch ein Recht dazu hatte; es war aber noch kein Mensch so mit ihr gewesen, denn sie wurde immer mit Handschuhen angefaßt. Sie befand sich ja plötzlich vor einem ordentlichen Gericht! Die Augen standen ihr voller Tränen und sie sagte:

»Sie gab mir ihn heimlich, als ich das letzte mal bei ihr war; ich sollte ihn hier in den Kasten stecken. Er war nicht ordentlich verschlossen und da las ich ihn.«

»Und auch deine Freundin las ihn; und ihr beide machtet aus der Not eines kranken Menschen ein albernes, dummes Gelächter. Stand in dem Brief ein einziges Wort, das ehrlos ist?«

»Es stand nichts darin, als allein die drei oder vier Sätze, die ich hersagte.«

Er wandte sich zur Tür und sagte zornig und stolz: »Du weißt wohl, wie ich zu dir stehe ... und ich sage dir: ich weiß auch, wie du zu mir stehst! Aber einstweilen fehlt es dir noch an Ernst. Ich hoffe, daß es anders wird, wenn du älter bist ...«

Damit ging er zornig hinaus, und ging nach der Schleuse, und war da bei den Brüdern und half ihnen beim Verzeichnen der Balken.

Als er gegen Feierabend mit den Brüdern wieder nach Hause kam, waren die Eltern angekommen und sie saßen alle vergnügt und in lebhafter Unterhaltung um den großen Eßtisch. Lisbeth war offenbar noch sehr bedrückt und zornig, verbarg es aber gut und war nur stiller als sonst und zuweilen in Gedanken.

Nach Tisch, während die Kinder aus- und eingingen, fingen die Eltern an, mit ihm über den Zustand in seinem Elternhaus zu reden; er aber stand gern Rede und Antwort; denn er wußte, daß sie es gut mit ihm meinten.

Als sie von jedem einzelnen gesprochen hatten und es alles hin und her beredet hatten, schwiegen sie eine Weile, alles im stillen überdenkend; dann sagte der Vater: »Ich glaube, Harm, daß ihr da auf dem Hof den einen Hauptfehler habt: Ihr klebt alle zu sehr am Hause und aneinander ... Ihr seid darin fast so schlimm, wie die Kinder von dem alten Matzen.«

»Was war mit den Matzens, Onkel? Meinst du die Weberfamilie?«

»Ja, die! ... Sie sind eine alte, alte Weberfamilie, so wie ihr eine alte Bauernfamilie seid. Als es nun, so vor vierzig, fünfzig Jahren mit dem Weben immer schlechter ging, faßte der alte Matzen den großen Entschluß und ließ seine drei Söhne ganz andere Handwerke lernen, damit sie vor der Weberei ganz sicher bewahrt blieben und auf durchaus anderen Wegen und Weise in der Welt vorwärtskämen. Der eine wurde Maurer, der andere Landmann, der dritte Küfer. So gingen sie in die Welt und lernten jeder sein Geschäft; und der Alte sorgte dafür, daß sie immer etwas fern von dieser Stadt waren, und daß sie, wenn sie einmal hier im Elternhaus zum Besuch waren, die Werkstatt kaum zu sehen bekamen, und sie kamen über die Dreißig. Da starb der Alte. Und was meinst du, was geschah? Es vergingen keine drei Jahre, da saßen alle drei Brüder in der alten, langen, dumpfen Webstube des Alten und ein jeder saß an seinem Stuhl, da, wo die Väter und Vorväter gesessen hatten, und sie klappten mit den alten Gestellen, daß es knallte. So ist es mit euch! Ihr klebt, inwendig, im Herzen, zu dicht zusammen – Ihr seid inwendig zu eng miteinander verbunden. Was ist das für ein Mitleiden miteinander! Was für eine Not durcheinander und füreinander! Sag' doch bloß mal, was soll z.B. aus dir werden, wenn du hier im Lande bleibst? Wie wird es werden? Du wirst immer denken: ›Mein Bruder! Meine Schwester! Meine Nestgenossen!‹ Und bald wirst du um diesen sorgen und bald für jenen laufen, bald für den dritten bürgen, bald deine ersparten Taler zu dem vierten bringen. Was aber erreichst du damit? Gar nichts! Ja, weniger als gar nichts! Du schadest ihnen! Du schädigst nicht allein dich, sondern auch sie. Denn mit den meisten Menschen ist es so: wenn sie wissen, daß da irgendwo hinter ihnen eine Hilfe steht, sehn sie nicht um sich, strengen sich nicht an, straffen sich nicht. Mein Vater sagte, als ich fünfundzwanzig war und heiraten wollte: ›Hier hast du dreitausend Mark, das ist alles, was ich dir gebe, solange ich lebe;‹ und ich wußte, daß es bei diesem Wort bliebe. Siehst du, das war recht! Kurz ... du mußt dich inwendig von deinen Leuten mehr trennen, ein Mensch für dich allein sein. Willst du Gutes tun, so such' dir einen einzigen aus! Einen mag ein starker Mensch sich aussuchen, ihm zu helfen! Nimm den Reimer! Einstweilen ist er ja so'n bißchen ein Narr; aber du sollst sehn: der wird noch gut! ... Aber nein, du kannst einen andern nehmen. Dem Reimer kannst du sagen, daß ich ihm helfen will, daß er schon diese Ostern auf das Seminar kommt.«

Harm Ott strahlte übers ganze Gesicht und lachte. »Hilfst du auch nur immer einem, Onkel, nur diesem?«

Der Zimmermann lachte auch. »So ungefähr!« sagte er. »Ich habe ja genug für diese zu sorgen,« und er zeigte auf seine Kinder, die um den Tisch saßen.

Nun sprachen sie von den anderen: von Klaus und Eggert und von den Kleinen, und am meisten von Emma und ihrer Schwermut, die ihnen ein Rätsel war; denn der Zimmermann und die Seinen waren muntere, tagfrohe Menschen, und ihre Frömmigkeit war auch so; und Gott war ihnen ein wackrer, muntrer Werkmann, froh wie sie selbst über seine Tage und über das Werk seiner Hände.

Unterwegs auf seinem schmucken Rade, als er durch den hellen Frühlingsabend heimfuhr, kamen seine Gedanken gleich wieder zu seiner Liebsten, um die sie auch während der ganzen Abendunterhaltung gespielt halten. Er war glücklich, daß sie während des ganzen Abends, obgleich immer nur von seiner Familie geredet wurde, im Zimmer geblieben und ernst und still, ein wenig im Hintergrund, am Tisch gesessen hatte. Er hatte schon wieder völlig vergessen und vergeben, daß sie ihn so geärgert hatte, und sah sie nur immer, wie sie da im Halbdunkel seitwärts von der Lampe saß; und sah ihr leuchtendes Gesicht, das sich zuweilen zu ihm wandte und ihn mit langem, ruhigem Blick ansah, und wie sie rot wurde und sich tief auf ihre Arbeit beugte, als er von der Not seiner Schwester sprach und es ihnen erklärte. Er war selig, daß ihre schöne, starke, liebe Seele doch Reue empfunden hatte; und war ganz betäubt von der Süßigkeit ihrer Erscheinung, die, während er so seines Weges fuhr, von einem wundersamen schönen Schein umflossen, vor ihm dahinschwebte.

Den andern Tag verbrachte er wieder im Hause und suchte dabei eine Gelegenheit, mit seiner Schwester allein zu sprechen. Es wollte ihm aber lange nicht gelingen, da er, wo er ging und stand, von den Kleinen begleitet wurde, die schon in aller Frühe an der Kammertür gestanden und auf ihn gewartet hatten. Endlich um die Mittagstunde standen sie beide allein im Garten, in dem sie das erste Frühlingsbeet zurechtmachte. Da erzählte er ihr, daß Lisbeth Thomsen ihren Brief gelesen und ihren Spott damit getrieben hätte.

Sie blieb völlig harmlos und meinte, daß Lisbeth Thomsen den Brief ja gern hätte lesen können.

Er fragte: »Hast du eine Antwort bekommen?«

»Nein,« sagte sie traurig, während ihr Tränen die Wangen herunterliefen: »Er ist da in seinem Geburtsort nicht angekommen und der Brief ist wieder zu mir zurückgekommen.«

Er fragte: »Was wolltest du denn mit dem Brief erreichen: daß er dir wieder schreibt oder daß er hierher kommt?«

Sie weinte heftiger, aber sie sagte klar und sicher: »Ich will weiter nichts damit erreichen, als das, was drinsteht: daß er ruhig wird und den Glauben nicht verliert.«

»Woher weißt du denn, daß er unglücklich ist?«

»Das weiß ich,« sagte sie schlicht. »Das konnte ich ja sehn ... und dann das Pfeifen.«

»Was hat das Pfeifen damit zu tun?« sagte er.

»Ja,« sagte sie, »das Pfeifen ... das ist der böse Geist, der ihn verfolgt. Das ist an einer anderen Stelle, wo er gedient hat, auch schon dagewesen.«

Er horchte auf: »An einer anderen Stelle, wo er gedient hat, sagst du, hat es auch schon gepfiffen?« ... »Gepfiffen nicht ...« sagte sie, »aber so was Ähnliches. Er ist eben von dem Bösen verfolgt, der steht ihm nach der Seele ... und ...« sie weinte bitterlich »... ich hätte ihm helfen können und habe es nicht getan. Und nun weiß ich nicht, wo er ist.«

»Womit hättest du ihm denn helfen können?«

»Ich hätte mit ihm und für ihn gebetet ... aber ich war ein unnützer Knecht, ich verstand es nicht ... und nun ist es zu spät und er bleibt weiter im Unglück und in der Verfolgung, und wandert immer weiter von Stelle zu Stelle; und immer ist der Böse da und steht ihm nach der Seele.«

»Und nun gehst du jeden Sonntagabend zu Schuster Ehlers und betest da mit den andern? Was sind das für Leute, die da kommen?«

Sie nannte die Namen ... Es waren alle stille Leute und alle von gutem Ruf.

»Um was betet ihr denn da?«

»Wir beten ... daß Gott uns und alle Menschen vom Bösen erlöse.«

»Und dann denkst du an den Knecht?«

»Ja, besonders an ihn ... weil er so unsagbar unglücklich und verfolgt ist ... und durch meine Schuld; denn sicher hat der liebe Gott ihn in unser Haus gesandt, damit ich ihm helfen sollte. Und nun weiß ich nicht, Bruder Harm, warum ich auf der Welt bin! Das einzige, was ich in der Welt hätte tun können, habe ich versäumt.«

Er stand eine Weile neben ihr. Seine Gedanken liefen hin und her und suchten irgendwo einen Weg, den er ihr zeigen könnte, um aus diesem Elend herauszukommen. Es war aber nicht leicht, da seine eigne Natur so völlig anders war. Endlich begann er vorsichtig und langsam: »Ich will dir sagen, Schwester, wie ich mir alles denke. Hör' mich an: Du bist vom Vater her schwermütiger Natur; von der Mutter her aber bist du wundergläubig. Nun kam der Knecht und war ein freundlicher und seltsamer und vielleicht unglücklicher Mensch. Und, da, siehst du, da hatte deine ganze Natur, deine ganze Seele Gefallen an ihm. Er erzählte dir dies und das; er reizte deine Phantasie. Dann kam das Pfeifen und dann ging er fort. Und da gerietest du nun in diesen Glauben. Statt stehnzubleiben, wo du standest, wo Gott dich hingestellt, als ein gesunder junger Mensch zwischen Vater und Mutter, in Arbeit, Wind und Sonne, liefst du in eine schwermütige, dunkle Wunderlichkeit hinein, in einen finstern Irrweg, so als hätte der Knecht eine unerträgliche Not auf sich und werde vom bösen Geist verfolgt und nun hättest auch du Sünde auf dich geladen. Ich glaube: Die Wirklichkeit und Wahrheit ist ganz anders. Du sagtest vorhin: es wäre schon an einer andern Stelle, wo er gedient, so was gewesen: ein Pfeifen oder sonst ein Spuk. Weißt du, was ich denke, was wir alle denken: daß er selbst der Pfeifer war! Versteh', nicht im Bösen! Du kannst gern mit guten Gedanken an ihn denken! Er ist ein Schelm, ein Wunderling! Er wollte uns und auch dich aus einer gewissen Dumpfheit und einer gewissen Schwerfälligkeit herausnötigen! Und sieh, als er sah, was er angerichtet hatte, da lief er in Verzweiflung davon. Denn er hatte uns gern, besonders dich.«

Sie sah zu ihm auf völlig verwirrt. Dann sagte sie langsam und unsicher: »Aber du glaubst nicht, daß er böse war, du meinst, er tat es alles aus Liebe?«

»Ja,« sagte er, »das meine ich. Und vielleicht kommt er einmal wieder, Emma, und erzählt es dir, wie es wirklich gewesen ist, so wie ich es mir denke.«

Er sah, daß sie in ein stilles Sinnen versunken war, und hielt es für richtig, nun nichts mehr zu sagen. Also ging er schweigend neben ihr nach dem Hause zu, von wo die Kleinen zum Mittagessen riefen. Er sprach dann nicht mehr mit ihr darüber.

Als die Tage des Urlaubs um waren, brachte Emma die beiden Brüder mit der klapprigen alten Gig nach dem Bahnhof. Reimer führte die Leine. Er sollte jetzt gleich mit nach Kiel und sollte nun dort die Lehrerschule besuchen. Er war glücklich und übermütig und wollte die Schwester erheitern, und versuchte zum erstenmal das Englische, das er beim Pastor gelernt hatte, an den Mann zu bringen. Er redete große Dinge: wie es ihm da in Kiel wohl gefallen würde und welche Art Menschen er da wohl vorfinden würde und ob er da einen Verein zustande brächte, die Natur der Menschen zu erforschen.

»Ich will Menschennaturforscher werden,« sagte er prahlig, «ich weiß wie keiner, wie es im Menschen aussieht.«

Jedesmal, wenn er ein besonders großes Wort gesagt hatte, das ihm selbst gefiel, und er dann sein Gesicht zu seinem Bruder wandte und ihn mit seinen strahlenden, gläubigen Augen ansah, zuckte es ihm in der Hand, und dann hielt der große Braune plötzlich und ungeschickt an, und sank so stark auf die Hinterbeine, daß er sich fast auf das Gestell des Wagens setzte. Dann beendete er erst seine Rede; und dann fuhren sie weiter. Die Schwester hörte ihn still an, einen ruhigen sinnigen Zug in ihrem reinen Gesicht. Sie war heute muntrer als seit langem.

Da wurde auch Harm guter Dinge. Seine Gedanken wandten sich der nahen und fernen Zukunft zu. Er sah das schmucke Schiff und die guten, munteren Kameraden, zu denen er zurückkehrte, und dahinter sein blankes Rad und das große schöne Mädchen, und er dachte: ›Es kommt noch alles, alles in gute Ordnung.‹ Er lächelte über den Bruder, und stieß die Schwester an und sagte mit frohem Spott: »Was sind wir für eine großartige Familie, Emma, was? Halt' deine kleinen Ohren steif, Deern! Es wird noch alles gut! Eine solche Familie!? So zahlreich und so klug?!«


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