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31. Kapitel

Der Pflüger

Fünf Stunden später lag der Verwundete auf Deck einer kleinen holländischen Bark, die nach Rotterdam fuhr.

Dort, in Rotterdam, lag er manche Woche in treuer Pflege, die nötig war, da auch das Schulterblatt verletzt war.

Der Krieg ging seinen schrecklichen Gang weiter. Im Westen stürmten Franzosen und Engländer mit größter Macht gegen uns an und überwanden uns nicht; im Süden zum zehnten und elften Male die Italiener. Unsre Stärke war unser gutes Gewissen, unser Heer und unser Wille. Unsre Hoffnung war die Verwirrung, die über Rußland gekommen war; und unsre U-Boote, die Tag und Nacht an Englands Leben fraßen, und daß sie endlich alle erkannten, daß es ihnen nichts half, daß all ihr Kämpfen vergebens war und sie nur immer tiefer ins Elend brachte.

So verging der Sommer, und es wurde Herbst. Da wurde er nach Deutschland übergeführt und lag im Marinelazarett auf der Veddel bei Hamburg, ein Bett neben hundert andern Betten. Am Tag danach saß seine Mutter auf dem Rand seines Bettes, und streichelte den einen Arm, den er noch hatte.

Seine Mutter erzählte ihm von allen daheim; auch vom Vater. »Vater schickt dir Grüße, lieber Eggert ... Ach, Eggert ... Du weißt nicht, wie es Vater weh tut, Tag und Nacht, daß er so schlecht von dir gedacht hat ... Ich bin Tag und Nacht in schrecklichen Ängsten gewesen, er könnte sich ein Leid antun.«

So sagte sie und streichelte seine Hand; und er schwieg. Ach, er schwieg doch wenigstens! Er hörte es doch an! Ach, wie blaß er war, und wie starr und verständig er aussah, um zehn Jahre älter geworden; und mit wie bitterm Gesicht er dalag! Ach, sie fühlte es bis in ihr Herz hinein, was es für ihn und seinen Stolz bedeutete, daß er den Arm verloren hatte! Aber er zeigte ihr doch, daß er eines Herzens mit ihr war; er drückte ihre Hand fest in der seinen und sagte leise: »Mutter!« Ach, er hatte im Grund, in der tiefsten Tiefe, ein weiches, ja überweiches Herz. Man mußte nur an ihn glauben, und noch dazu seiner bedürfen; dann war er der Gütigste auf der Welt.

Dann kam die Mutter mit ihrem Plan heraus. Mit dem Plan, den sie und Höbke Suhl beredet hatten.

Als Höbke Suhl von seiner Verwundung erfahren hatte, war sie gleich gekommen und hatte sich nach allem erkundigt. Nach acht Tagen war sie wiedergekommen und hatte gesagt: »Ich will ihm jetzt schreiben, Tante Lene, so dies und das ... daß es ihm hier auf dem Hof alles wieder lebendig wird. So ... wo die Tiere stehn, und was wir aussäen wollen, und so was. Du schreibst ihm ebenso von deinen Tieren und dem Feld, nichts von Menschen. Auf Menschen ist er happig. Mit solchen Briefen wollen wir ihn so einige Wochen hinhalten und sehn, was er antwortet. Nachher aber mußt du hin ... einerlei, ob nach Rotterdam oder nach Hamburg ... und mußt ihn mitbringen; und er muß hier bei mir auf dem Hof sein. Dann ist er nicht bei seinem Vater; aber er ist bei dir. Ich glaube, das setzen wir durch. Und setzt du es nicht durch, so muß auch ich mein Heil versuchen, und muß hin, obgleich ich Angst habe, in ein Lazarett zu gehn. Nicht wegen Wunden und Tod, Tante Lene, davor bin ich nicht bange; aber wegen der vielen Augen, die mit einem wandern, wenn man so zwischen den Betten hindurchgeht; ich habe das mal auf einem Bild gesehn, wo die Kaiserin so durch ein Lazarett ging. Ich bin ja nicht die Kaiserin; aber ich habe einen etwas ungeschickten, langen Stapf, und ich weiß, daß sie alle nach mir sehn; und wenn ich das weiß, werde ich rot, und wenn ich rot werde, werde ich noch verlegener und stoße womöglich gegen ein Bett an und mache irgendeinem armen Menschen noch extra eine Qual. And dann weißt du, Tante Lene, wie es ist! Die Mannsleute haben leicht etwas Besonderes in ihrem Blick ... so ... >ach, ein Weib!< Weißt du, ich bin ja nicht prüde; ich bin ja hier auf dem Lande groß geworden und weiß, was ist und was sein muß und was also auch recht ist. Aber man ärgert sich doch immer ein wenig, wenigstens ich ... Es ist aber ein merkwürdiger Ärger; er ist weiter nicht unangenehm ... Doch... was wollte ich sagen ...« So hatte sie gesagt; und das war die längste Rede gewesen, die sie in ihrem Leben zu einer Fremden gehalten hatte. Sie war ganz rot vor Glück und Erregung, daß sie sich anbot zu helfen, und daß sie so viel gesagt hatte.

Mutter Ott war über diesen Vorschlag überglücklich gewesen; und nun saß sie auf dem Rand seines Bettes und redete auf ihn ein. Sie behandelte ihn vorsichtig, wie ein rohes Ei. Ach, sie kannte ihn so gut und seine böse Wunde! Nicht allein die an der Schulter, auch die größere, die inwendige. »Höbke Suhl hat den Vorschlag zuerst gemacht,« sagte sie. »Daß du nicht glaubst, Eggert, ich hätte es ihr nahegelegt, oder gar sie darum gebeten. Und wenn du nicht darauf eingehst, kommt sie selbst hierher. Du sollst nur auf ihrem Hof und auf ihren Feldern sein, da kann dir kein Mensch nahekommen. Ach bitte, Eggert, tu es, deiner Mutter zur Liebe! Ich habe einen Sohn verloren und noch zwei im Krieg,« und sie weinte.

Die Kameraden in allen andern Betten sahen mit stillen Augen auf die weinende Mutter, die so stattlich und noch so frisch aussah, aber leider ja in schwarzer Kleidung war. Sie hatten alle den einen Gedanken; sie dachten alle: >Ja, nun denkt sie an den andern, den Toten, und daß dieser, den sie mit zwei kräftigen kleinen Ärmchen geboren hatte, nun einarmig ist! Und sicher hat sie auch sonst ihre Not mit ihm! Wahrhaftig, ein leichter Sohn ist der nie gewesen ... wie trotzig und hitzig er aussieht, und nun gar einarmig! Ja, ja ... die Frau da hat schweren Kummer!< Und sie waren alle, alle, die da lagen, die beiden langen Reihen entlang, voll von schweren, stillen Gedanken; und eine Last von stiller Trauer, von Trauer um die Millionen weinender Mütter, lag auf dem ganzen Saal. Und selbst der kleine schmale Heizer, der da immer noch vom Skagerrak her lag, und dem sie gestern wieder ein Stück gesunder Haut über eine verbrannte Stelle gelegt hatten, versuchte ein wenig den Kopf zu heben und die Mutter anzusehn, und dachte auch an seine Mutter. Und es war ganz still im Saal; und die Schwester, die dem Obermatrosen die schrecklich schwere Wunde vom Granatsplitter am Oberschenkel verband, hielt ein wenig inne, und sah stumm die Betten entlang.

Eggert fühlte, daß alle Kameraden in den Betten, der ganze Saal, auf seine Mutter sahen und jeder an seine eigne Mutter dachte, und fühlte, wie gut es war, daß er in seinem Elend noch eine Mutter hatte. Sonst hatte er ja nichts auf der Welt. Einen Vater hatte er nicht. Nein. Und seine Geschwister ... wer wußte, ob sie alle an ihn geglaubt hatten! Emma jedenfalls nicht. Überhaupt ... die Mutter ... ja, die Mutter ... das ist eben Glauben ohne Zweifel... ohne Zweifel. Er hatte in seinem Stolz noch ein wenig Neigung, sich noch ein wenig zu sträuben; aber die Mutter ...! And wenn Höbke Suhl ihr Wort wahr, machte ... – und sie machte es sicher wahr, wer weiß, vielleicht schon morgen – und kam mit ihren langen Stapfen und ihrer Verlegenheit den ganzen Saal entlang ... nein ... es war schon genug, daß sie jetzt alle hersahen und über seine Mutter und seinen verlorenen Arm sprachen und daß es der rechte wäre und nicht der linke, und daß er ganz weg wäre, mit Stumpf und Stiel. Aber er brauchte kein Mitleid! Er wollte sich schon durchschlagen! Er hatte sich schon ausgedacht, was er wollte. Er wollte auf irgendeinem großen Hof für Kost und Quartier Einstand nehmen, und sich Mühe geben, bis daß er alles betreiben konnte, was mit dem linken Arm allein möglich wäre. Seit er auf dem Deck der holländischen Bark wieder zur Besinnung gekommen war, bis heute, war das immer sein Nachdenken und Grübeln gewesen: wie helfe ich mir selber ohne Menschenhilfe?! Er hatte sich auch ein Buch gekauft, das über diese Sache handelte. Wenn er dann einige Jahre so hinter sich hatte und in der Landwirtschaft gut bewandert wäre und schaffen konnte, was mit einem Arm möglich war, wollte er eine Stelle als Verwalter suchen. Genug ... er würde sich schon durchschlagen und von Mitleid nicht Gebrauch machen! Aber nun dies Angebot von Höbke Suhl... Er war da ganz ungestört bei ihr. Ja, ja ... er konnte da gut alles üben ...und ihr alter Peter würde ihm helfen in dem, was er wegen seines Gebrechens nötig hatte. Ja, vor dem würde er sich nicht genieren. Ach, welch ein Elend ... ohne den rechten Arm, den besten Helfer! Ach! ... Er stöhnte leise. Aber nein, kein Mitleid annehmen. Kein Mitleid! ... Ja ... nur von denen: von der Mutter und vom alten Peter und von Höbke Suhl! Und die Hand der Mutter streichelte immer noch. Seine Augen standen plötzlich voll von Tränen. »Ich will es!« sagte er leise.

Vierzehn Tage später holte Köbke Suhl ihn vom Bahnhof ab und quartierte ihn in der Giebelstube, aus deren Fenster er den Vatershof nicht sehn konnte, ein.

Als sie von der Stube herunterkam und ihrer Mutter gegenüber am Fenster saß und in den Garten und übers Feld sah, war ihr Gesicht stiller als sonst, so daß ihre Mutter sie mit ihrer gütigen, weichen Stimme fragte: »Fehlt dir etwas, oder hat er dir nicht gefallen?«

Sie dachte nicht lange nach; denn sie hatte in ihrer langen Einsamkeit die Gewohnheit angenommen, auf sich selbst zu achten. »Nein,« sagte sie in ihrer wägenden, langsamen und stockenden Weise, »es tut mir nicht leid; aber ich wundere mich über mich selbst, daß ich mir nicht gesagt habe ... daß er nun kein Junge mehr ist. Und das schwere Erlebnis und das lange Krankenlager hat ihn wohl noch rascher wachsen lassen, ich meine inwendig und auswendig.«

Die Mutter sah in ihrer Sorge und Liebe wieder einmal eine Hoffnung, die sie oft schon hatte kommen und gehn sehn. Es war ihr leid, ihr Kind zeitlebens ledig zu sehn. Sie sagte in Sorgen und Gram: »Gefällt er dir nun nicht?«

Sie sah die Mutter mit ihren wahrhaftigen, schönen Augen an und sagte, während ein leises, spöttisches Lächeln – über sich selbst – über ihr Gesicht ging: »Er gefällt mir wohl ... aber es ist doch eine besondere Sache ... ich stehe vor mir selbst doch etwas wunderlich da ... jetzt.«

»Ach,« sagte die Mutter in ihrer gütigen Weise, »da mach' dir nur keine Gedanken!«

»Nein,« sagte sie, noch immer die Augen in denen der Mutter, so als wenn sie sagen wollte: ich belüge mich nicht und dich auch nicht ... »aber ich weiß ja nicht, was jetzt ist und was vielleicht werden kann. Und darüber wundere ich mich und ärgere mich etwas.«

»Nun,« sagte die Mutter, »laß es laufen, Kind, wie es laufen will.«

Dann schwiegen sie beide. Die Mutter dachte in die Zukunft hinein und dachte, es würde ihr lieb sein, wenn es so würde. Wieviele Mädchen heirateten einen Mann, der jünger ist, und es geht ebenso gut, wie mit andern Ehen. Die Jüngere versank wieder in das Sinnen, in dem sie vorhin gewesen war, und dachte: ›Ich hatte mir wohl gesagt, daß er älter geworden wäre; aber ich hatte nicht gewußt, wie es sein würde. Er war ein Junge, und ist nun ganz und gar ein Mann und hat auch die Augen eines Mannes. Nein, ich muß mich wirklich zusammennehmen! Aber wie konnte ich das denken, daß ich den Rode Praß noch einmal in dieser Weise ansehn und leiden möchte! Es ist überhaupt nicht zu sagen, was man mit sich und andern erlebt... aber besonders mit sich!‹

Dann fing sie an, es sich auszudenken, nach allen Seiten. Denn sie war ein ruhiges, verständiges und reines Menschenkind. Und es schien ihr, als wenn ihr gar nichts Besseres geschehen könnte, als wenn die Sache so laufen wollte und ihr ganzes Leben in diesen Gang hineinginge, Und da es ihr so gut schien, wollte sie sich auch ihrem Wunsch nicht widersetzen. Nein, das wollte sie nicht! Sie wollte sich freilich hüten, daß sie in ihren Gedanken nicht zu tief in diesen Lebensplan hineinkäme, aber im übrigen die Sache ihren Lauf gehn lassen. ›Laß ihn tun, was er will,‹ dachte sie. Und wieder, da sie so dachte, flog über ihr Gesicht, das noch immer ein wenig rot war, das kluge, ein wenig spöttliche Lächeln, das ihr selbst galt und das ihr so gut stand.

Am andern Tag schon, in aller Frühe, zog er mit dem Pflug und den Pferden auf das Stück gegen Osten, wo Sommergerste gewesen war, zu pflügen. Und der alte Peter ging neben ihm, um zuzugreifen wenn es etwa nicht ginge. Sie hatten ein Paar junge Pferde vorgespannt – die älteren waren im Krieg –; aber es waren ein Paar ruhige, gewandte Tiere, und er dachte, es würde so gehn; die Erde war da auf dem Feld auch ziemlich mürbe. Und so ließ es sich zuerst auch gut an; ja ganz und gar so, wie er es sich in Rotterdam, auf seinem Bett liegend, tausendmal ausgedacht hatte; und er schickte in seinem Stolz den alten Peter weg. Aber allmählich hatte er doch große Mühe, nicht mit dem Pflug, obgleich es ein schweres Ding war; aber mit den Pferden. Er hatte seinen Arm durch lange Übung mächtig gekräftigt; – aber die Pferde gehorchten nicht verständig genug der Leine und machten ihm viel Arbeit. Er mußte an den Enden den Pflug wieder und wieder zurückziehn, daß die Furche sofort gut ansetzte, denn Pfuscherkram wollte er nicht machen; daran wollte er sich nicht erst gewöhnen. Das nahm ihm viel Kraft. Und er hatte, was er nicht bedacht, von dem langen Krankenlager her in den Knien und Knöcheln noch nicht die alte Stärke wieder.

Eine Stunde lang ging er so auf dem breiten Stück auf und ab, die Leine schräg um die Schultern; der leere Ärmel flog in dem frischen Ostwind, der von der Geest herkam, zur Seite ... da hatte er am Ende des Stücks wieder besonders schwer zu arbeiten, um das Handpferd in die Furche zu bringen ... Immer wieder mußte er zurückgehen ... Ärger kam dazu, sein hitziges Blut wallte auf... und da versagten ihm plötzlich die Knie, denen er zuviel zugemutet hatte, und er fing an zu zittern. Er stand und atmete schwer... und plötzlich – er wußte nicht, wie es plötzlich über ihn kam –- weinte er heftig.

And da kam Höbke Suhl ... Sie hatte ihn vom Dielenfenster aus gesehn, wie er mit dem Pflug auszog, und hatte mit Sorgen beobachtet, wie es ginge, und hatte dann, als der alte Peter zurückkam, mit ihm geredet. Der hatte schon die Schultern gezuckt und gesagt: »Es wird noch nicht so gut gehn, wie er sich das ausgedacht hat; es wird noch manche bittere Stunde für ihn geben.« Sie hatte ihn ausgescholten, daß er sich hatte wegschicken lassen, und hatte weiter am Fenster gestanden und hinübergesehn. Und als sie gesehn hatte, wie seine Knie allmählich erlahmten, war sie nach kurzer Überlegung über die Hofstelle und die Weide gegangen, und stand nun bei ihm; und er weinte.

Es tat ihr schrecklich leid, und sie fing auch an zu weinen.

»Lieber Eggert,« sagte sie, »komm ... komm;« und sie wollte ihn an den Grabenrand führen, daß er sich niedersetze.

Aber er wischte sich über die Augen und blieb da stehn, die Hand am Pflug.

»Ich muß ein wenig ausruhn,« sagte er; »es ist das erstemal. Es wird allmählich besser werden ... So wie ich jetzt bin, bin ich ja kaum die Kost wert.«

»Bitte, Eggert,« bat sie, »rede nicht so! Laß dir Zeit! Sei munter! Du hattest doch immer guten Mut, alter Rode Praß! Du bist ja nicht bei fremden Leuten; du bist ja bei mir!«

Er schämte sich schrecklich, sie anzusehn, da er geweint hatte. Er sagte freundlicher, fast sanft: »Geh jetzt; ich will langsam wieder anfangen. Ich will mir Zeit lassen. Geh nur!«

Da ging sie und befahl dem alten Peter, daß er einige Stücke weiter an der Friedigung der Fettweide arbeitete, und daß er ihn nicht aus den Augen verliere. Er aber pflügte weiter.

Er pflügte diesen Tag und den andern Tag, alle Tage. And wenn es auch noch lange nicht so ging, wie es nach seiner Meinung sollte, wie er es im Geist und in der Einbildung fertiggebracht hatte, so kam es doch nicht wieder zu solchem schlimmen Zusammenbruch. Die Zähne zusammengebissen, oft genug finsteren Gesichts, brachte er die Pflügerei zu Ende, und zog mit seinem Gespann auf ein anderes Feld, und besorgte auch das; und machte auch alles andere ganz allein: spannte an und aus, brachte es und holte es; und bastelte am Geschirr und Pflug, was nötig war. And so ging es alles recht gut. Bei Tisch, oder wenn er sonst mit Höbke Suhl und ihrer Mutter zusammen war, stellte er sich, als wenn nichts fehlte oder mangelte. Wenn sich beim Essen eine Ungeschicklichkeit zeigte, hörte man ihn atmen und hätte ihn rot werden sehn können, aber sie sahn nicht auf; und nur einmal zog Höbke Suhl, ohne ein Wort zu sagen, seinen Teller an sich, und zerschnitt ihm, was er nicht hatte zerschneiden können, und schob es ihm, ohne ein Wort zu sagen, wieder hin.

Sie hatte ein Stübchen für sich allein, die kleine Eckstube neben dem Saale; da stand ihr Bett und über ihrer Kommode, auf einem dreireihigen Bord, ihre Bücher: Sechs Bände Goethe, etwas von Fontane, etwas von Raabe, Storm ganz, Reuter auch. Auf der Fensterbank, die in dem alten Hause sehr tief war, standen immer einige kleine, dickbauchige Vasen schlichtester Form, die sie immer wieder anders hinstellte und mit immer neuen Blumen füllte; daran hatte sie ihre Freude. Eines Tags, gegen Abend, als er ungefähr vierzehn Tage in ihrem Hause war, stand sie da vor dem Spiegel; und hatte seine Sonntagsjacke angezogen, die sie sich aus seiner Stube geholt hatte; und probierte sie vor dem Spiegel. Sie glaubte nämlich, bemerkt zu haben, daß ihn der wehende, leere Ärmel genierte. Nun hatte sie den ganzen Ärmel nach innen weggestopft und probierte, wie es aussah; aber es sah nicht gut aus.

Da wollte es der Zufall, daß er auf seiner Suche nach ihr, um ihr etwas zu bestellen, durch die Schlafstube der Mutter hereinkam und sie so sah.

Er wurde blaß und biß sich auf die Lippen. »Was machst du denn da?«

Sie erschrak wohl noch mehr als er, und sagte verlegen, aber ruhig und bedächtig, indem sie ihn mit ihren hübschen, guten und klugen Augen – die immer ein gut Teil ernster waren, als die Sache verlangte – freundlich ansah: »Es kam mir so vor, Eggert, als wenn es dich genierte, daß du den leeren Ärmel trägst, und nun wollte ich probieren, ob es besser aussieht, wenn der Ärmel ganz weg ist.«

»Das sieht nicht gut aus,« sagte er, »meinst du, daß ich das nicht probiert habe?!« Es stand ein Zug von schlimmer Bitterkeit in seinem Gesicht, und er atmete schwer auf und wollte wieder gehn.

»Eggert,« sagte sie in Sorgen, »bleib noch! Du glaubst mir, daß ich es nur deinetwegen tat?«

Er hob die gesunde Schulter und sagte mit bitterm, verlegenem Lächeln: »Du sollst ja nicht mit mir auf den Platz kommen, Höbke; es kann dich ja hier und auf dem Felde nicht stören.«

Da trat sie rasch auf ihn zu, und umfaßte freundlich bittend seine Schultern und sagte: »Eggert, denk nicht so von mir!«; und sie streichelte die Stelle, wo der Arm fehlte. »Es ist doch für uns alle geschehn, Eggert.« Und ihre Augen waren plötzlich voll von Tränen. »Sag' mir... ist die Stelle ganz heil?«

»Ja,« sagte er, »aber ich spreche nicht gern davon.«

Sie streichelte sie wieder und sagte: »Du mußt nicht denken, Eggert, daß ich mich davor scheue... vor deiner Wunde ... daß auch ein Stück der Schulter weg ist... das mußt du nicht glauben! ... Das ist mir eine Ehre, Eggert... ich habe dich nur viel, viel lieber darum... und nun geh, Rode Praß!« Und sie sah ihn noch einmal mit ihren schönen, von einem plötzlichen Glück ganz verwirrten Augen an, und schob ihn hinaus.

Er hatte sie nie so nah gesehn, und in solchem Glück und Glanz. Er stolperte verwirrt über die Schwelle, und dachte: wie gut sie ist ... und was für schöne Augen sie hat!

So fand er sich, unter der Hut der drei guten Menschen, in den Stuben und Ställen und auf dem Feld zurecht. Als vierte kam dazu seine Mutter, die dann und wann nach Feierabend auf eine halbe Stunde herüber kam und bei den Frauen saß, und darnach eine Weile mit ihm allein über die Hofstelle ging. Er gab auch den Kleinen die sie denn gerade mitbrachte, die Hand. Und als eines Tags das Jüngste, die kleine neunjährige Wiebke, ein klein freundliches, rothaariges Ding mit hübschem, klugem Gesicht, aber etwas abstehenden Ohren, durch den trockenen Graben kletterte und ihn aufsuchte – er saß am Graben und aß sein Frühstück – sprach er ganz zutraulich und freundlich mit ihr, fragte nach ihrer Puppe und nach der Schule, und gab dem kleinen Ding, das, wie ihm plötzlich schien, ein wenig blaß war und wohl auch für sein Volk und Vaterland mit litt, von seinem Brot.

Am andern Sonntag, als die Mutter wieder herübergekommen war und danach mit ihm vor die Tür trat, zog sie einen zerknickten Feldbrief aus der Tasche und sagte: »Ich wollte es drinnen nicht sagen, Eggert; du kannst es ihnen nachher ja erzählen ... hier ist ein Brief, den hat ein Kamerad von Klaus uns geschrieben. Klaus ist verwundet.« Und sie gab ihm den Brief. Er lautete:

Liebe Frau Ott!

Mir geht es noch immer gut und ich hoffe dasselbe auch von Euch. Indem nun mein Freund mir sagte: Schreib es meiner Mutter, die ist stärker; meine Frau ist nur schwach, so schreibe ich Ihnen, daß er verwundet ist, aber nicht zum Tode. Indem nämlich die Schwarzen stürmten, kamen sie bis an den Drahtverhau und lagen da auf dem Bauch, und ein Unteroffizier und acht Mann lagen hundert Meter vor der Front, und schossen auf die Schwarzen, und da waren er und ich dabei. Aber indem wir keine rechte Deckung hatten, bloß den kleinen Trichter, war der Unteroffizier und ein andrer bald tot und zwei waren verwundet und duckten sich weg und einer mußte sich immer übergeben; und wir andern waren mehr Erde, als Menschen, indem wir uns so einwühlten, und dem einen lagen die Augen aus dem Schädel und dem andem tief hinein, so verschieden sind die Naturen. And da wollten wir denn zurück; wir konnten uns nämlich auf dem Bauch zurückschleichen. Aber da kam ein gewisser Friech Bautz, der hat schon das Eiserne Kreuz zweiter und schielt nach erster Klasse; der also kommt und sagt, wenn es möglich ist, sollten wir den Trichter halten; es ist sicherer für die Kompagnie. Er hat es aber kaum gesagt, da hat er einen Schuß in der Schulter und sackt zusammen. Da wollten wir denn erst recht zurück; denn jeder Mensch hat sein Leben lieb; und also sagte ich: Leute, sagte ich ... wir haben alle Frau und Kinder zu Haus; ich glaube, wir können mit gutem Gewissen zurückgehen. Als ich das sagte, hatte Kamerad Ott einen Granatsplitter durch die Hand und auch an der Schulter und blutete und sah aus, wie der gelbe Lehm, in dem wir lagen; aber er sagte doch: Was hat der Bautz gemeldet? Da duckte ich mich zu Friech Bautz, der neben mir lag, und fragte ihn: Was hat der Leutnant gesagt, sag' es noch mal! Der sagt: Ihr könnt zurückgehn; aber es ist sicherer für die Kompagnie, wenn ihr bleibt, hat er gesagt. Da sagte Kamerad Ott: Ja, Leute ... das ist ja wahr, daß wir Frau und Kinder haben; ich habe sogar fünf kleine Krabaten ... sagt er ... aber, wenn es so ist, wenn er das gesagt hat, daß es für die Kompagnie sicherer ist, dann müssen wir das Loch hier halten und wenn wir uns den Tod dabei holen. Da blieben wir denn also, und da bekam Kamerad Ott noch einen Schuß durch den Arm – aber er schoß noch immer und wir auch; aber zuletzt wurde er ohnmächtig. Wir hielten aber die ganze Stellung und was die Schwarzen sind, die gingen ab. Nachher kam der Leutnant und auch der Hauptmann, der das Bataillon hat; und ich mußte es erzählen, und da schickte mich der Hauptmann mit meinem verstauchten Daumen in das Feldlazarett, und ich sollte dem Ott sagen, daß er das Eiserne Kreuz bekäme. Als ich da ankam und der Daumen wieder richtig stand – er war ganz umgebogen – war er schon verbunden und schwach, und wußte auch das von dem Eisernen Kreuz schon und sagte bloß: ›Schreib gleich an meine Mutter, daß ich verwundet bin; aber der Arzt sagt, ich werde wieder gesund. Und vergiß das mit dem Eisernen Kreuz nicht!‹ ... Eben höre ich, daß nur drei von uns neun tot sind; aber das ist ja auch schlimm genug; sie haben alle drei Frau und Kinder. Mir geht es noch gut und ich hoffe dasselbe auch von Euch.

Mit Gruß Euer Landsturmmann Jochen Stehn, gebürtig aus Meldorf.

Er ließ den Brief sinken.

»Was sagst du?« sagte sie.

»Nun, es freut mich für dich,« sagte er gleichmütig.

Sie kämpfte mit den Tränen: »Es ist nicht recht von dir,« sagte sie, »deine Familie zu verleugnen. Wir haben immer alle auf Ehre gehalten.«

»Habt ihr?« sagte er bitter und höhnisch. »Ich meinte, ihr hättet mal einen in den Schmutz gestoßen!«

»Ach, Eggert!«

»Laß das, Mutter! Daran änderst du nichts. Du weißt, wie ich zu dir stehe, damit mußt du dich begnügen.« Und er streichelte ihr den Arm und begleitete sie über die ganze Hofstelle bis an den Weg.

Ja, gegen seine Mutter war er gut. Aber gegen alle übrigen Menschen war er voll eisiger Feindschaft. Es wurde im ganzen Kirchspiel davon geredet. Es konnte nicht ausbleiben, daß er einmal auf dem Felde – da die Felder an einigen Stellen aneinander stießen – oder auf dem Feldweg oder auf der Dorfstraße seinem Vater begegnete. Das war denn auch schon einige Male geschehn; und er war unbeweglich, das eisige Gesicht gradeaus, an seinem Vater vorübergegangen. Es hatte auch wohl hier und da einer versucht, ein älterer Mann, der den muntern Jungen gern gehabt hatte, oder ein Nachbar und Nachbarskind, oder sonst ein munterer Dorfgenosse, ein Wort mit ihm zu reden oder ihm übers Feld ein Wort zuzurufen; aber er hatte nichts darauf erwidert; es war, als wenn die Menschen Luft für ihn wären. Nur mit einem Kameraden, der aus dem Felde gekommen war und verwundet war wie er, hatte er einige Worte geredet; aber er war dem Mann wie ein Fremder vorgekommen. Er sah in allen Verwandten und Bekannten und dem ganzen Kirchspiele die, welche eine Zeitlang geglaubt hatten, daß er jenes Aufsehn und jenen Spott und jenes Leid über sein Elternhaus und seine Familie gebracht hatte. Er war in die Heimat zurückgekehrt ... ja er war gern zurückgekehrt! Aber er war gekommen, um ihnen zu zeigen, was sie ihm alle bedeuteten ... daß sie ihm nichts waren ... gar nichts; und um ihnen zu zeigen, ja, um ihnen zu zeigen, was Hochmut wäre.

Wenn er im Dorf zu tun hatte, ging er, den leeren Ärmel in der Tasche der Jacke, weder links noch rechts sehend, steil und grade wie ein Pfahl seines Wegs. Sonntags trug er einen besonders guten, dunklen Anzug, den er aufs sorgfältigste hielt, eine schmale silberne, seine Uhrkette über der Weste, das Band des Eisernen Kreuzes und eines mecklenburgischen Ordens auf der Brust, und zwar auf der rechten Seite, da, wo er die Wunde hatte. Anzug und Uhrkette hatte er sich in New York für dort erworbenes Geld gekauft; es war ihm ein Zeichen und Beweis, daß er damals, von seinem Dorf und allen Menschen verworfen und in die Fremde gejagt, achtzehnjährig, doch tapfer und ernst seinen Weg gegangen war; und er wollte, daß die Leute das so ansahn ... diese Menschen! ... diese ... die ihn so erniedrigt hatten! ... diese Hunde! ... Es würgte ihn, wenn er daran dachte; und er wurde blaß im Gesicht. Nichts mit ihnen gemein! Nein, nichts und niemals! Welche Einbildung von dem Lehrer, der freundlich mit ihm hatte reden wollen! Welch ein Irrtum von Pastor Bohlen, der zweimal über den Graben gesprungen und zu ihm gekommen aufs Feld, und ihn gebeten hatte, daß er nachgäbe. Er ... nachgeben!!


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